Mehr als Deal or No Deal

Brexit Die Beteiligten erwecken den Eindruck, der EU-Ausstieg sei ein Kuhhandel. Doch die nicht-ökonomischen Folgen des Brexit werden Europa deutlich stärker beeinträchtigen

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Großbritannien wird fehlen - und zwar der ganzen EU
Großbritannien wird fehlen - und zwar der ganzen EU

Foto: freestocks.org / Flickr (CC 1.0)

In Europa scheinen sich alle politisch Verantwortlichen und Interessierten darüber einig zu sein, dass der Ausstieg Großbritanniens aus den EU-Verträgen unumgänglich ist; und die Kontinentaleuropäer spreizen sich in der Rolle des Stärkeren, der bestimmen kann, in welchem Rahmen das zukünftige Zusammenwirken mit den Briten gestaltet werden soll. Im Übrigen scheint man vorrangig wirtschaftliche Bedingungen, insbesondere Handelsangelegenheiten, einer Regelung zuführen zu wollen – jedenfalls ist in der öffentlichen Debatte nur davon die Rede. Doch die nicht ökonomischen negativen Folgen eines Brexit dürften die Entwicklung ganz Europas deutlich stärker beeinträchtigen. Die Vertreter der EU sollten deshalb den Gesamtschaden bedenken und ins Kalkül einbeziehen, wie die Zukunft der Menschen auf der "westlichen Halbinsel Eurasiens" wohl aussehen wird, wenn sie die Briten einfach ziehen lassen, vielleicht sogar "ohne Deal".

"Das [ein Deal] wäre für alle Seiten besser. Ich gehe mit dem Geist an die Sache heran, immer alles zu versuchen, eine Übereinkunft zu finden."
Angela Merkel am 17.10.2018 anlässlich des sogenannten Brexit-Gipfels in Brüssel

"Jeder am Tisch will den Deal. Und wir können einen Deal erreichen."
Theresa May, ebenda

"Ich habe inhaltlich nichts substanziell Neues erkannt."
Antonio Tajani, EU-Parlamentspräsident, an gleicher Stelle

"Die Lage des Staates war folgendermaßen: Das Rumpfparlament ist, nach einer Störung durch Lord Lambert, wieder zusammengetreten. Die Offiziere wurden zum Einlenken gezwungen. Lawsons Flotte ankert noch immer in der Themse, und Monck ist mit seiner Armee in Schottland. Nur Lord Lambert ist noch nicht ins Parlament gekommen, man erwartet auch nicht, dass er es freiwillig tut. Der neue Stadtrat [Londons] will hoch hinaus; man hat den Schwertträger als Boten zu Monck gesandt, um ihn über den Wunsch nach einem freien und vollständigen Parlament zu informieren – dieser Wunsch ist im Augenblick die Hoffnung und die Erwartung aller. Zweiundzwanzig ehemalige, ausgeschlossene Abgeordnete erschienen letzte Woche vor der Tür des Parlamentsgebäudes und forderten Einlass, vergeblich; man glaubt, dass weder sie noch das Volk Ruhe geben, bis das Parlament wieder vollzählig ist."
Samuel Pepys, (1623–1703), britischer Marine-Beamter, zuletzt Chief Secretary to the Admiralty in London; Zitat aus seinen Tagebuchaufzeichnungen zum Neujahr 1660.

Historische Bezüge leiden zwangsläufig unter dem Manko, dass viele Details früherer Ereignisse den aktuellen nicht entsprechen, weshalb daraus manchmal sogar die Aufforderung abgeleitet wird, den Vergleich mit Vergangenem grundsätzlich abzulehnen. Aber das ist vorschnell geurteilt; denn sobald man die Oberfläche des betrachteten Zeitraums abträgt und sich bewusstmacht, dass die Menschen sich in den vergangenen Jahrtausenden in ihrem Wesen kaum verändert haben, wird man erkennen, wie ähnliche Eindrücke, die zu unterschiedlichen Zeiten aus der Umgebung auf jeden einzelnen wirken, fast identische Reaktionen hervorrufen. Insofern wiederholt sich Geschichte doch – trotz der scheinbar völlig veränderten "Oberfläche" der Jetztzeit. Der Wiederholungseffekt ist sozusagen im Reaktionsmuster der Menschen angelegt.

Man versprach sich von einer Restauration der "glorreichen" Vergangenheit Stabilität und Wohlstand

Dies gilt auch für die Umstände, unter denen der Ausstieg Großbritanniens aus der EU abgehandelt wird, der einige historische Parallelen erkennen lässt. Als Beispiel mag ein Hinweis auf die Situation im Britannien des siebzehnten Jahrhunderts gelten: Damals hatten innenpolitische Verwerfungen (unter anderen der gescheiterte Versuch Cromwells, eine Republik einzuführen) zu erheblichen sozialen Spannungen geführt und gleichzeitig den Drang nach nationaler Größe gefördert; denn man versprach sich von einer Restauration der "glorreichen" Vergangenheit Stabilität und Wohlstand, die in der Epoche vor der "Republikanisierung" angeblich herrschten. In der Bevölkerung galt zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts zwar verbreitet die Auffassung, ihre Interessen würden in einer Republik besser berücksichtigt werden als in der Monarchie, doch die Stimmung schlug angesichts sich verschlechternder Lebensbedingungen um in eine Begeisterung für die Wiedereinführung autokratischer Strukturen. Von denen erhoffte man die Rückkehr zu goldenen Zeiten, allerdings ohne dass es dafür konkrete Anhaltspunkte gab. Das in jeder Hinsicht unlogische Verhalten der meisten zur Ober- und Mittelschicht zählenden Briten beruhte auf einer wirkmächtigen, von alters her gepflegten Überzeugung, die sich folgendermaßen herausgebildet hatte: Da die spezielle geographische Lage, eine Insel mit leicht zu überwindenden Seewegen zum Kontinent, zwar einerseits regen Kontakt zur "Außenwelt" erlaubte, andererseits aber auch eine Abgeschlossenheit und Selbstbezogenheit erzeugte, konnte ein starkes Gefühl, etwas Besonderes zu sein, ins Bewusstsein der Insulaner gelangen und sich dort festsetzen. Unterstützt wurde dieses Gefühl von der Gewissheit, im Besitz kolonialer Weltmachtgeltung zu sein. Die brachte geraubten und nicht etwa erwirtschafteten Wohlstand für Wenige, der von den "gewöhnlichen" Briten bewundert wurde, obwohl die Masse der Bevölkerung keinen nennenswerten Anteil daran hatte. Aus dieser Bewusstseinslage lässt sich der Stolz vieler Briten auf ihre Eigenständigkeit erklären, ja sogar ein Gefühl der Überheblichkeit gegenüber allem Nichtbritischen, das seit Jahrhunderten wie eine letzte Instanz zur Einschätzung der Verhältnisse auf dem europäischen Kontinent und in der Welt propagandistisch genutzt wird und strategische Entscheidungen ausrichtet.

Die brachte geraubten und nicht etwa erwirtschafteten Wohlstand für Wenige

Heute wird wieder mit der Behauptung geworben, Großbritannien brauche seine Unabhängigkeit, um zu Wohlstand und Weltgeltung zurückzukehren; doch ungetrübte Beobachtungen zeigen, dass die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die sozialen Spannungen auf der Insel "hausgemacht" sind. Das wollen sich Politiker und Bevölkerung allerdings nicht eingestehen. Es durfte uns folglich nicht verwundern, dass im Sommer 2016 etwa 38 Prozent der wahlberechtigten Briten (unter den Abstimmenden sogar die Mehrheit) dem Ruf der "Populisten" nach einer Loslösung vom übrigen Europa folgten, und dies, ohne vorher kritisch nachzufragen, welche Nachteile mit dem Austritt verbunden sein könnten. Die Volkstribune in den Reihen der englischen Politfunktionäre, brauchten lediglich den Knopf zu drücken, der das Signal "Eigenständigkeit in Gefahr" aussendet, und schon lief ihnen eine Heerschar Briten hinterher – übrigens aus allen Schichten der immer noch weitgehend nach Klassen getrennten Gesellschaft. Inzwischen dämmert zwar einigen Ausstiegsbefürwortern, dass sie übler Propaganda aufsaßen, als sie auf die Behauptung, die Unabhängigkeit und der britische "Way of Life" würden von Brüssel attackiert, unvermittelt ihrem Reflex folgten und sich dem dadurch ausgeübten Druck zur Entscheidung für einen Brexit beugten. Doch die britischen "politischen Eliten", und zwar nicht nur die konservativen und ultrarechten, wagen – wahrscheinlich wider besseres Wissen – nicht den Schritt zurück zur EU, weil sie befürchten, ihre Posten zu verlieren. Außerdem ist die Stimmung in der Bevölkerung weiterhin von nationalistischen Strömungen durchwirkt, so dass nicht einmal als sicher gelten darf, ein zweites Referendum werde eine andere Entscheidung bringen.

Die sogenannten Populisten treiben die etablierten Parteifunktionäre vor sich her

In Anbetracht der Tatsache, dass wir "Kontinentaleuropäer" unter den Folgen eines Brexit nur wenig zu leiden haben werden – wirtschaftlich –, während es den Briten wohl ziemlich an den Wohlstandskragen gehen wird, sollten wir (auch eingedenk der historischen Vorgaben im Bewusstsein der Insulaner) Vernunft walten lassen und uns mit den nichtökonomischen Gefahren befassen, die ein Austritt heraufbeschwört, für ganz Europa. Um das nachzuvollziehen, brauchen wir nicht erst an die Großmütigkeit der EU-Bürger zu appellieren, sondern es genügt ein Blick auf die Lage, wie sie in fast allen europäischen Gesellschaften anzutreffen ist: Die sogenannten Populisten, meist nationalistischen bis faschistischen Ursprungs, die in einigen Ländern bereits Regierungsmacht übernommen haben (in Ungarn, Polen, Tschechien sowie nun auch in Italien) und die fast überall in der EU erheblichen Einfluss ausüben (besonders stark in Österreich, Frankreich, Dänemark und im ehemaligen Jugoslawien), treiben die etablierten Parteifunktionäre vor sich her und fördern so einen schleichenden Abbau demokratischer Strukturen. Und da der populistisch so bequem einzusetzende Nationalismus nur im Rahmen der Nationalstaaten praktizierbar ist, wird "folgerichtig" die Zerstörung der EU vorbereitet, einigen Orts bereits damit begonnen.

Die "Anti-EU-Stimmung" ist nicht auf Großbritannien beschränkt

Wir haben also in Betracht zu ziehen, dass die "Anti-EU-Stimmung" nicht auf Großbritannien beschränkt ist, sondern dass sie überall auf dem "alten" Kontinent grassiert. Es erscheint deshalb angebracht, nach den Gründen zu forschen, die diese geistige Rückwärtsbewegung auslösten; denn nicht nur die Organisation EU wird beschädigt, sondern, und mit viel schrecklicheren Folgen, die Demokratie selbst. Das, wofür die "Idee Europa" seit der geistigen Revolution der Aufklärung steht, nämlich das Streben nach einer menschenwürdigen Gesellschaft in gegenseitiger Achtung unterschiedlicher Lebensentwürfe (1948 zusammengefasst in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO), droht unter dem Müll nationalistischer Kleinkrämer und eines globalisierten Kapitalismus verschüttet zu werden. Während der "westliche Mainstream" bisher die Auffassung pflegte, Kapitalismus sei ein Merkmal der Demokratie, ja womöglich eine Voraussetzung dafür, führen die chinesischen "Kommunisten" der Welt gerade vor, dass dieser Zusammenhang ein Trugschluss ist. Der Kapitalismus entpuppt sich mehr und mehr als der Totengräber der Demokratie und hat in Donald Trump einen "Anchorman" gefunden, der die gesellschaftliche Diskussion zugunsten der Vermögenden in den USA und im "Rest der Welt" moderiert und praktisch jede demokratische Haltung für "Bullshit" hält. Inzwischen kann man sogar eine Art gemeinsame Interessenlage der Potentaten in China, Russland, in Osteuropa, im Nahen Osten sowie in großen Teilen Afrikas und Lateinamerikas mit den politischen, vorwiegend republikanischen "Eliten" der USA ausmachen.

Die kapitalistische Vorgabe, jegliche Unternehmungen auf ihre Profitabilität hin zu überprüfen, setzt die demokratische Verfassung praktisch außer Kraft

Diese unheilige Allianz duldet beispielsweise die Zerstörung ganzer Gesellschaften wie in Venezuela, Mexico, den Philippinen, Afghanistan, Libyen, Syrien, im Jemen oder im Kongo, und sie begrüßt die Wiedereinrichtung einer Diktatur in Brasilien genauso wie glänzende Geschäftsmöglichkeiten in China, wo ein tyrannisches Regime Menschenrechte und Menschenwürde mit Füßen tritt. In dieses Bild passen auch viele Aktionen demokratisch legitimierter Regierungen, etwa der deutschen, der die Lieferung von Waffen in sogenannte Krisengebiete zwar untersagt ist, die über menschenverachtendes Regierungshandeln aber großzügig hinwegsieht, wenn sie Kriegsgerät, das nachweislich zur Unterdrückung der Zivilbevölkerung und zur Tötung tausender Unschuldiger eingesetzt wird, genau dorthin zu exportieren erlaubt (Dieses Verhalten wird mit der fadenscheinigen Ausrede begründet, dass Waffen, die die Deutschen nicht liefern, woanders besorgt werden können; und im Übrigen seien hierzulande Arbeitsplätze in Gefahr – eine zynischere Haltung ist kaum denkbar). Einer der Hauptgründe für solche Form der "Realpolitik" liegt in der Vorstellung, alles Handeln sei den Forderungen des Gelderwerbs unterworfen, und moralische Grundsätze müssten sich im Zweifel dem Diktat des Kapitals beugen. Gerade aber die Forderung, dass Menschenwürde und gleiche Rechte für Alle zu gelten haben, bildet das Fundament einer Demokratie! Die kapitalistische Vorgabe, die verlangt, jegliche Unternehmungen auf ihre Profitabilität hin zu überprüfen, und nur dann zu akzeptieren, wenn sie einen "Mehrwert", in Geld ausgedrückt, schaffen, setzt die demokratische Verfassung der europäischen Staaten praktisch außer Kraft. Und wir sehen tatenlos zu, wie die mühsam und unter Schmerzen errungenen demokratischen Strukturen ausgehöhlt werden.

Zu befürchten ist, dass am Ende ein Kuhhandel steht

Die "merkantilistische" Politik der europäischen Regierungen (Der Begriff Merkantilismus kam im sechzehnten Jahrhundert auf, als die europäischen Herrscherhäuser ihre Politik ganz dem Ziel unterordneten, ihr privates(!) Vermögen durch Handel zu mehren – maßgeblich im Wege der Ausbeutung von Kolonien) prägt die Diskussionen, die jetzt zu einer Regelung des Brexit führen sollen. Schon die kaufmännischem Jargon entlehnte Bezeichnung "Deal" für das Ziel dieser Auseinandersetzung weist in die Richtung einer "Preisabsprache", womöglich mit geheimen Zusatzklauseln. Und blickt man auf die einzelnen geplanten Regelungen, dann geht es fast ausschließlich um Geld und geldwerte Vorteile; man meint, die Stimme Margaret Thatchers zu hören, die einst in Brüssel ausrief: "I want my money back!". Derweil wird die Öffentlichkeit mit Nebelkerzen beworfen, um sie bei der Stange, sprich den Interessen der politischen "Eliten", zu halten. Beispielsweise geistert der Begriff Zollunion durch die Kommentare zu den Verhandlungen, womit ein "Deal" auszustatten sei; obwohl diese Bezeichnung schon deswegen Unklarheit statt Klarheit schafft, weil ja die EU auch eine Zollunion ist. Die Briten verlassen also, wenn sie austreten, die Zollunion und wollen sie gleich danach, unter anderen Konditionen womöglich, wieder betreten. Zu befürchten ist, dass am Ende ein Kuhhandel steht, der gleich nach seiner Verabschiedung von den Parteien unterschiedlich bewertet wird, also neunen Streit gebiert. Zu den Signalen, die auf eine rein "merkantilistische" Lösung hinweisen, gehört auch die in den Medien verbreitete Erklärung vieler britischer Unternehmer, dass sie ernste Schwierigkeiten erwarten, wenn nicht bald ein "Deal" erreicht werde. Warum, muss man fragen, haben diese Leute nicht rechtzeitig vor dem Termin der Volksabstimmung öffentlich vernehmbar gewarnt? – Es besteht allerdings die Gefahr, dass am Ende ein Kompromiss gefunden wird, der den mächtigen Bossen der Banken, des Handels und der Industrie Schlupflöcher im Zaun zur EU bietet, durch die sie ihre Geschäfte wie bisher führen können, während man "dem Volk" erhebliche Nachteile zumutet, weil man ja beweisen möchte, es werde ein "harter Brexit" vollzogen.

Warum haben diese Leute nicht rechtzeitig vor der Volksabstimmung öffentlich vernehmbar gewarnt?

Eingedenk des Umstandes, dass es uns Kontinentaleuropäern deutlich leichter fällt, die Lage eher nüchtern zu beurteilen, da die schädlichen Auswirkungen hier ziemlich gering sein werden, sollte es uns doch gelingen, die rein ökonomischen Aspekte des Brexit in den Hintergrund zu drängen und uns der Frage zuzuwenden, was zu tun ist, um das Schiff Europa wieder auf Kurs zu bringen. Dem vorgeschaltet ist zu klären, welches Ziel angesteuert werden muss, wenn von einer europäischen Politik gesprochen werden soll. – Ob und in welcher Form eines Tages ein europäischer Staat entstehen könnte, ist so lange als unwesentlich einzuschätzen, wie die Bürger ihn nicht mit großer Mehrheit fordern. Denn zunächst einmal muss erreicht werden, dass die Menschen in Europa von dem Gedanken erfüllt sind, sie suchten in einer Partnerschaft der Staaten eine Ergänzung ihrer individuellen Vorstellungen, statt einer maximalen Durchsetzung der eigenen zum Teil einander ausschließenden Interessen, wie derzeit leider zu beobachten. Ein typisches Beispiel für diese Haltung liefert die polnische Regierungspartei, die eigentlich gar keine Rücksicht auf andere in Europa nehmen möchte, die aber die ökonomischen Vorteile der EU erhalten will. In dieser Rolle des "Zwar-Nehmen-aber-nicht-Geben" folgen ihr sehr viele Polen; obendrein wissen sich die Funktionäre der nationalistischen PiS vom katholischen Klerus unterstützt, dem eine laizistische europäische Gesellschaft ein Gräuel ist. Hinter der angeblich wichtigen Wahrung polnischer Sonderinteressen ("Polska first!") steckt das Bestreben, politische Vielfalt durch faschistische Eintracht zu ersetzen, also die Demokratie abzuschaffen. Das traut man sich aus taktischen Gründen nicht öffentlich zu verlautbaren, bisher, aber dieses Ziel wird kaum noch wirksam kaschiert. – Gelegentlich erklären politische Akteure in Feiertagsreden, es sei ein Vorteil Europas, dass es über eine Vielfalt verfügt, die eine Voraussetzung für Kreativität darstelle und schließlich zu gemeinschaftlichem Handeln befähige, wenn in demokratisch geführter Auseinandersetzung Kompromisse erzielt werden. Doch Vielfalt kann in einer Gemeinschaft ihre Kraft nur entfalten, wenn sie unter dem Dach einer von allen (zumindest einer großen Mehrheit) getragenen Idee "gesteuert" wird. Die zu formulieren und zu verbreiten, ist das Gebot der Stunde.

So festigt sich das Vorurteil, wir, die Deutschen, alimentierten mit unserer Tüchtigkeit die gesamte EU

Versucht man die Stimmung unter der Bevölkerung innerhalb der EU auf einen gemeinsamen Nenner zu führen, dann fällt auf, dass trotz unterschiedlicher Kritikpunkte immer wieder eine Haltung auftaucht: Die Bürger nehmen den politischen Akteuren, dem "Establishment", nicht ab, dass sie ihre Interessen wirklich vertreten, ja sie unterstellen ihren "Mandatsträgern", sie verschafften sich persönliche Vorteile, indem sie die Geschäftsmöglichkeiten der mächtigen Konzerne zu Lasten der "kleinen Leute" verbesserten. Und, ist hinzuzufügen, es gibt tatsächlich genügend Gründe für die Richtigkeit der Annahme, die Politiker beschäftigten sich vornehmlich mit der Frage, wie sie ihre Posten und Privilegien erhalten und ausbauen können (In Deutschland dokumentiert die Behandlung des "Diesel-Skandals" dies eindrücklich). Aus dem Misstrauen gegenüber den Parteifunktionären entwickelt sich schnell ein Misstrauen gegenüber den Maßnahmen, die beschlossen werden, und es herrscht eine Grundhaltung vor, die dazu aufruft, alle politischen Entscheidungen nur nach den Vor- beziehungsweise Nachteilen zu beurteilen, die sich für den Einzelnen daraus ergeben. Man darf es zwangsläufig nennen, dass bei dieser Stimmungslage der Gedanke der Gemeinschaft unter die Räder gerät. Solch eine Haltung wirkt sich nicht ausschließlich auf die EU aus, vielmehr ist sie in allen Staaten mit Parteiendemokratie wirksam. Aber die europäischen Angelegenheiten leiden darunter noch stärker, weil sich nicht nur der einzelne Bürger geschädigt sieht, sondern obendrein die ganze eigene Gruppe, die eigene "Nation". "Wir Deutsche", hört man hierzulande, "sind die Zahlmeister der EU". Das stimmt zwar nicht, verlangt zu seiner Widerlegung jedoch eine sorgfältige Betrachtung der Wechselwirkungen europäischer Wirtschaftsverbindungen, was den meisten zu aufwändig erscheint und deshalb unterbleibt. So festigt sich das Vorurteil, wir, die Deutschen, alimentierten mit unserer Tüchtigkeit die gesamte EU, insbesondere die "unordentlichen Polen", die "faulen Ungarn" und die "mafiosen Italiener". Einer entsprechenden Einstellung folgend glauben auch in den übrigen EU-Staaten die meisten Bürger, sie und ihr Land haben vorwiegend Nachteile zu ertragen. Und die Scharfmacher aller Länder leiten für die eigene "Nation" Anhaltspunkte daraus ab, die belegen sollen, wie sehr "ihre" Landsleute unter den Machenschaften der anderen und der Brüsseler Bürokratie zu leiden haben.

Vertrauen ist das wichtigste Fundament jeder gemeinschaftlichen Unternehmung

Es fehlt, müssen wir aus dieser Lagebeurteilung schließen, eine, wahrscheinlich die wichtigste Voraussetzung dafür, dass Gemeinschaft überhaupt funktionieren kann: das gegenseitige Vertrauen. Alle Versuche, in einer Gesellschaft Regeln des Zusammenseins zu etablieren, müssen jedoch scheitern, wenn nicht genügend Vertrauen darein aufgebracht wird, dass sich die ganz große Mehrheit freiwillig an die Regeln hält. Jeder Autofahrer erlebt dies täglich, wenn er nämlich darauf vertraut, dass auch die übrigen Straßennutzer die Verkehrsbestimmungen achten, beispielsweise die jeweils rechte Fahrwegseite zu nutzen (auf dem Kontinent). Das klingt zu selbstverständlich, um es überhaupt als erwähnenswert anzusehen; aber das Vertrauen in die Überzeugung der Beteiligten, dass sich alle den Regeln unterwerfen, ist die wichtigste Bedingung für das Funktionieren einer Gesellschaft. Man stelle sich nur vor, welcher Aufwand wohl zu betreiben wäre, um sicherzustellen, dass die Besucher eines Supermarktes sich an das Gebot "du sollst nicht stehlen!" halten, wenn man nicht darauf vertrauen könnte, dass sie es tatsächlich tun (mit Überwachungsmaßnahmen lässt sich nur gegen eine Minorität von Regelbrechern vorgehen). – Nach ausreichend scharfem "Hindenken" müsste allen klar sein: Vertrauen ist das wichtigste Fundament jeder gemeinschaftlichen Unternehmung; denn ohne diese Basis würde überall nackte Gewalt herrschen. Im Verhältnis zwischen den Bürgern und deren Vertretern in der Politik gilt diese Bedingung selbstverständlich gleichermaßen, ja sie ist allein schon deshalb bedeutsam, weil Macht nur funktionieren kann, solange diejenigen, über die Macht ausgeübt werden soll, grundsätzlich damit einverstanden sind. Sie müssen das erforderliche Vertrauen aufbringen, das ihnen vermittelt, ihre Belange seien in guten Händen. Wie ein Staatswesen aussieht, wo diese Voraussetzung fehlt, kann man in einigen "failed states" gut beobachten; so beispielsweise in Libyen und Syrien, aber auch im Jemen, im Sudan, im Kongo, in Pakistan, in Venezuela oder in Honduras sind Tendenzen zum Chaos sichtbar. Das chinesische Regime setzt in Ermangelung des Vertrauens der Bürger auf Staatsterror und wird am Ende doch scheitern, weil eine Gewaltherrschaft dauerhaft nicht erfolgreich sein kann – das lehrt beispielhaft die Geschichte der Sowjetunion.

Vertrauen ist allerdings nicht dadurch zu gewinnen, dass es verordnet wird; vielmehr schafft man Vertrauen nur durch überprüfbare Angebote und nachgewiesene Ehrlichkeit; und es bedarf eines längeren Prozesses der Vertrauensbildung, an dessen Ende dann ein vertrauensvolles Verhältnis entstanden sein kann. – Im EU-Raum müssen wir einen erschreckend starken Mangel an Vertrauen in die bestehenden Institutionen feststellen, der wahrscheinlich als Hauptursache für die sich verbreitende Rückwendung auf eine nationale, ja nationalistische Einstellung großer Teile der Bevölkerung verantwortlich ist. Die rechtsgerichteten Scharfmacher der "populistischen" Parteien in Europa erreichen ihren wachsenden Wählerstrom nur dadurch, dass sie sich das Misstrauen in die Integrität der "etablierten" Parteien angeblich zu eigen machen, selbst aber keine konkreten Angebote unterbreiten und somit sich auch keinen kritischen Kommentaren aussetzen müssen. Es erscheint reichlich absurd: aber den Nationalisten vertraut man, weil sie behaupten, die Stimmung der Leute zu verstehen und deren Sorgen ernst zu nehmen; sie vermitteln den "Enttäuschten" jedoch lediglich, dass man sich mit ihnen solidarisiert. Und das genügt vielen Wählern als Begründung für einen Vertrauensvorschuss. Einen historischen Vergleich finden wir Deutschen in der Weimarer Republik, als die Nationalisten – nicht nur die Horden Hitlers – Zulauf erhielten, weil sie die Stimmung im Lande aufnahmen, die von der Enttäuschung über den verlorenen Weltkrieg geprägt war, und weil sie all das Elend der Nachkriegszeit den Siegermächten und den "Roten" anlasteten. Es langte die Erklärung, dass mit der Rückkehr zu "nationaler Größe" die Sorgen der Bevölkerung verfliegen würden. Und heute reicht es den in Deutschland angeblich Schlechtweggekommenen, wenn die AfD die diffusen Ängste vor "Überfremdung" durch Flüchtlinge und die Sorge, ihre "deutsche Leitkultur" sei gefährdet, aufnimmt und einfach behauptet, mit ihr würde wieder Sicherheit und Ordnung einkehren, obwohl die tatsächlich nicht einmal gefährdet ist. Die Ängste sind nämlich nicht konkret begründet, sondern sie entstehen, weil kein Vertrauen in "die da oben" existiert.

Die überraschten Demokraten sahen hilflos zu, wie demokratisch Gewählte die Demokratie abbauten

Die Gefahr, dass abermals rechter Mob von den Straßen in die Parlamente zieht, ist deshalb leider höchst akut. Dennoch wird sie von den meisten Politikern und von den "Medien" heruntergespielt, häufig mit dem lapidaren Hinweis, die Geschichte wiederhole sich eben nicht, und die meisten Bürger Europas seien ausreichend gefestigt in ihrer Überzeugung, dass die demokratischen Kräfte den Angriff von rechts abwehren werden. Und immer wieder hört man den Einwand, solange "demokratische Wahlen" abgehalten werden, sei die Stärke der Demokratie nachgewiesen – auch das hatten wir schon mal, als Hitler und seine Bande gewählt wurden und die überraschten Demokraten hilflos zusahen, wie demokratisch Gewählte die Demokratie abbauten, sobald sie an den Schalthebeln der Macht saßen, übrigens nach vorheriger Ansage. Und wer hat vor nicht einmal zehn Jahren denen geglaubt, die in den USA faschistische Bestrebungen innerhalb der "Grand Old Party" ausmachten und vor der Gefahr warnten, in den USA könnten sich Zustände entwickeln, wie wir sie nun erleben müssen? – Weiterhin überwiegt die Überzeugung, die demokratischen Kräfte innerhalb der amerikanischen Gesellschaft würden dem Spuk ein schnelles Ende bereiten. In der ZEITBREMSE wurde darüber im April 2011geschrieben ("Kranker Mann am Potomac"), und die Kommentare fielen vorwiegend abfällig aus: alles übertrieben! Auch als kurz darauf ein weiterer Beitrag zum Thema erschien ("Faschismus heute?"), waren es ähnliche Reaktionen, die sogar Panikmache erkannten. Aus diesem Text sei hier folgender Abschnitt zitiert:

"Ein gefährlicher Strom faschistischer Parolen und Vorstellungen überflutet derzeit aber die USA [Frühjahr 2011]. Dass Figuren wie Frau Palin mit ihren dämlichen Shows es immerhin erreichen, als ernstzunehmende Kandidaten für das Präsidentenamt gehandelt zu werden, sollte an sich schon ein schrilles Alarmsignal auslösen. Doch die Infiltration mit primitivem "Gedankengut" läuft viel unterschwelliger, als wir es uns, erst recht von der anderen Seite des Atlantiks aus, vorstellen können. Auch die meisten Amerikaner selbst scheinen nicht zu bemerken, wie nah sie bereits an einer faschistisch geprägten Gesellschaft sind, die sehr bald diktatorischen Anwandlungen ihrer "Führer" nichts mehr entgegenzusetzen haben wird. Bereits heute können es sich moderate Demokraten, die gern schon mal als "Linke" und damit "Aussätzige" diffamiert werden, nicht mehr leisten, mit gesellschaftskritischen Äußerungen an die Öffentlichkeit zu treten, ohne dass sie um ihre Posten fürchten müssen. Und man darf Herrn Obama abnehmen, dass er bei Amtsantritt tatsächlich Veränderungen durchsetzen wollte; aber er kann lediglich Unwichtiges oder "Patriotisches" erreichen, wenn er sich auch nur die leiseste Chance offenhalten will, die nächste Wahl erfolgreich zu bestehen. Wir sollten uns das mal ganz langsam zum Mitschreiben vorsagen: die Tötung eines Osama bin Laden, der sich wie Sadam Hussein praktisch in ein Erdloch verkrochen hatte, löst in den USA einen Sturm der Begeisterung aus und wird als eine Unterstützung im Wahlkampf Obamas eingeordnet! Da muss bereits eine Stimmung herrschen, die es nicht mehr zulässt, irgendetwas zu hinterfragen, sobald "nationales Interesse" nur reklamiert, nicht etwa nachgewiesen wird.
Wie die "Ausrichtung" der Bevölkerung funktioniert, kann an einem Beispiel beobachtet werden, worüber die 'New York Times' dieser Tage berichtete. Ein Mr. David Barton, seines Zeichens ursprünglich Lehrer und Pastor, hat sich zu einem "Self-Made-Historiker" aufgeschwungen und lebt bereits seit zwanzig Jahren sehr gut von Vorträgen und Seminaren, die er zur Geschichte der USA abhält. Er wohnt in der Kleinstadt Aledo in Texas, wo er sein "Institut" unterhält und wo er republikanisch gesinnte Politiker und evangelikale Prediger aus allen Bundesstaaten empfängt, um – wie er es ausdrückt – sie hinsichtlich ihres Geschichtsbewusstseins zu beraten. Er "begründet" seine abstrusen Thesen von der "Christlichen Nation USA", indem er die Bibel als historisches Beweisstück einführt und unübersehbare Fakten, die seinen Vorstellungen nicht entsprechen, einfach "umdeutet". Beispielsweise behauptet er, die von Thomas Jefferson gesetzlich verankerte Forderung, dass zwischen Kirche und Staat eine Mauer der Trennung zu stehen habe ("a wall of seperation between church and state"), sei völlig falsch interpretiert worden und werde deshalb noch heute vom obersten Gerichtshof der USA falsch angewendet. Jefferson habe gemeint, der Staat dürfe sich nicht in die Angelegenheiten der Kirche einmischen, die wiederum den Auftrag habe, das Leben der Menschen nach christlichen (sprich: kirchlichen) Maßstäben zu steuern. Und dann – ganz in faschistischem Sinne – übernimmt er die Vorstellungen des republikanischen Establishments, indem er Steuererleichterungen für Reiche und Abschaffung sozialer Leistungen des Staates fordert, auch hierfür historische "Belege" schaffend. Schließlich wird er von diesen Kreisen bezahlt; und: wes Brot ich esse, …"

Wir dürfen nicht einfach abwarten, bis ganz vielleicht doch noch Vernunft einkehrt

Wollen wir verhindern, dass die amerikanische Entwicklung in Richtung Faschismus über den Atlantik zu uns herüberschwappt – und leider gibt es einige Anzeichen dafür, dass dies bereits beginnt –, dann dürfen wir nicht einfach abwarten, bis ganz vielleicht doch noch Vernunft einkehrt und es mit Hilfe der verbliebenen Kraft der demokratisch Gesinnter gelingt, Menschenwürde und Menschenrechte in der Gesellschaft nachhaltig zu sichern. Denn es ist zu befürchten, dass die Zeit für einen langwierigen Prozess des Bewusstseinswandels nicht reicht, um den Marsch in Richtung Diktatur noch aufzuhalten. Vielmehr müssen schleunigst Anstöße erfolgen, die die "schweigende Mehrheit" wachrütteln und sie ermuntern, am Entscheidungsprozess zur Regelung der Gemeinschaftsaufgaben (das nämlich ist Politik) teilzunehmen. Dafür könnte die Lösung der Probleme, die mit dem "Brexit" verbunden sind, eine gute Gelegenheit bieten. Begonnen werden sollte mit einer Entscheidung der EU-Regierungen, die Verhandlungen über die Bedingungen, die das Verhältnis zu Großbritannien nach dessen Austritt regeln, öffentlich zu führen und die Ergebnisse der gesamten Bevölkerung in der EU zur Abstimmung vorzulegen. Damit würde zweierlei erreicht: Zum einen zwänge es die Verhandlungsführer, ihre Positionen so zu erläutern, dass die europäische Öffentlichkeit versteht, welche Zwecke mit welchen Maßnahmen erreicht werden sollen; und zum anderen würden von der gesamten Bevölkerung mehrheitlich beschlossene Regelungen allgemeine Akzeptanz finden und erlangten einen Status, der es den Menschen erlaubt, sich damit zu identifizieren. Dies könnte eine erste Maßnahme sein, die das Vertrauen in die Aufrichtigkeit der politisch Handelnden fördert und die es den "Mitträgern" der Entscheidungen ermöglicht, polemisierenden Nationalisten entgegenzutreten. – Allerdings ist große Eile geboten, weil die bestehenden Verträge dazu zwingen, innerhalb des nächsten halben Jahres einen Abschluss des "Brexit" zu finden, so oder so, "Deal oder No Deal".

In der ZEITBRMESE wurden unmittelbar nach dem Referendum einige Gedanken dazu formuliert ("Doch Brexit"). Auch sie sollen hier wiederholt werden; denn die Notwendigkeit, sich mit den Problemen der Europäischen Union zu befassen, ist nur noch größer geworden, nachdem sich herausgestellt hat, dass der Erosionsprozess, der zu befürchten war, bereits in vollem Gange ist.

Als Denkanstoß soll hier ein "Fünf-Punkte-Plan" vorgestellt werden, der vielleicht die "Nachdenkphase", die gern mehrere Monate oder auch länger dauern kann, zu ordnen hilft.

Punkt 1:
Die Europäische Gemeinschaft (Der Begriff Union verführt zu der Annahme, es handele sich ums einen föderativ gegliederten Staat, weshalb hier bewusst von Gemeinschaft gesprochen wird) sollte ein "Verein" sein, der aus Mitgliedern besteht, deren "häusliche Angelegenheiten" ihrer eigenen Verantwortung unterliegen, und die sich dazu verpflichten, in der "Vereinssatzung" festgehaltene einzelne Bereiche des öffentlichen Lebens gemeinschaftlich zu regeln, und entsprechende Beschlüsse für alle unterzeichnenden Mitglieder verbindlich zu fassen. Dabei soll es möglich sein, dass jedes Mitglied den der Gemeinschaft vorbehaltenen Angelegenheiten im Einzelfall zustimmt oder sie ablehnt (als Beispiel kann das sogenannte Schengen-Abkommen angeführt werden, dem nicht alle EU-Staaten beitreten mussten). Hierzu ist folgendes zu bemerken: Wenn eine Gemeinschaftsregelung nur von einigen der Mitglieder anerkannt ist, wird sie sicherlich im Falle eines Erfolges von anderen, wahrscheinlich sogar von den meisten anderen übernommen; im Falle des Misserfolges bleibt es bei der Minderheit, und es ist anzunehmen, die Regelung wird wieder kassiert, wenn sie sich in der Gemeinschaft nicht bewährt. Wir erreichen damit eine Art Selbstkontrolle über das Regulativ "Reiz zur Nachahmung".

Punkt 2:
Es ist ein Katalog von Grundsätzen aufzustellen, der die "verfassungsmäßigen" Bestimmungen enthält, denen alle Mitglieder bei Eintritt in die "EG" zustimmen und wozu sie ihr Einverständnis erklären müssen, dass die Missachtung dieser Grundsätze zum automatischen Ausschluss aus der Gemeinschaft führen wird. Diese Bestimmungen sollten die Achtung der Menschenrechte, die individuelle Freiheit und Freizügigkeit aller Bürger, die demokratischen Grundrechte (etwa wie sie im Abschnitt 1 des deutschen Grundgesetzes formuliert sind), die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, die Wahl eines Parlamentes mit wirksamen Kontrollfunktionen sowie die Festlegung auf eine europäische Verwaltung, die nur auf Weisung des Parlamentes handeln darf. Außerdem sollte der Katalog eine Art Gliederung der Aufgaben hinsichtlich solcher, die von der Bevölkerung direkt zu entscheiden sind (Referenden), solcher die den Regierungen der Nationalstaaten vorbehalten bleiben und derer, die im europäischen Parlament behandelt und entschieden werden.

Punkt 3:
Damit das europäische Parlament den nötigen Rückhalt in der Bevölkerung findet, sollte es nur direkt in den Wahlkreisen, und zwar nach dem Mehrheitswahlprinzip gewählte Volksvertreter geben. Die Bewerber dürfen nicht von Parteien aufgestellt sein, sondern jeder Bürger, der das passive Wahlrecht beanspruchen darf, kann sich zur Wahl stellen und muss in die Wahllisten aufgenommen werden. Diese Regelung hat zwar zur Folge, dass die Zahl der Parlamentsmitglieder vielleicht auf 5.000 anschwillt (zum Beispiel: auf je 100.000 Einwohner ein Abgeordneter); doch diese Größenordnung wirkt nur dann erschreckend, wenn man davon ausgeht, die Parlamentarier müssten sich "körperlich" treffen. Im Zeitalter des Internets besteht dafür aber keine Notwendigkeit.

Punkt 4:
Ein europäischer Gerichtshof hat über alle Streitfragen, die die Gemeinschaft betreffen, zu entscheiden. Er sollte ähnlich wie in den meisten nationalen Rechtsordnungen mindestens zweistufig organisiert sein, damit Berufungsverfahren möglich werden. Ganz wichtig sind dabei folgende Gesichtspunkte: Erstens müssen alle Bereiche, in denen der Gerichtshof zuständig sein soll, präzise beschrieben sein, und zweitens müssen die nationalen Verwaltungs- und Polizeiorgane verpflichtet sein, für die Durchsetzung von Entscheidungen des europäischen Gerichtes zu sorgen. Außerdem sollte allen Bürgern und nicht nur den Verwaltungsinstitutionen das Recht gewährt sein, vor dem Gerichtshof zu klagen. Die Einrichtung einer Gerichtsbarkeit für alle auf europäischer Ebene behandelten Angelegenheiten, also solchen, die gemäß "Gemeinschaftsvertrag" von den Organen der Gemeinschaft abgewickelt werden, ist aus folgendem Grund sehr wichtig: Ein erheblicher Teil des Unmutes, den die Bürger heute empfinden, entsteht aus dem Ohnmachtsgefühl gegenüber den "Mächtigen", weshalb die Möglichkeit jedes Einzelnen, eine Entscheidung gerichtlich überprüfen lassen zu können, wie ein Ventil wirkt, durch das Überdruck entweichen kann.

Punkt 5:
Das Prinzip der möglichst weitgehenden Freizügigkeit des Wirtschaftsverkehrs fordert, dass die ökonomischen Bedingungen in den Mitgliedsstaaten weitgehend gleich sind. Dieser Zustand ist jedoch in absehbarer Zeit nicht zu erreichen, selbst wenn der dafür notwendige gute Wille vorausgesetzt wird. Deshalb ist beispielsweise der geltende Grundsatz der europaweiten Konkurrenz unsinnig, da er – wie zu beobachten – zu einer Stärkung der bereits "Starken" und zu einer Schwächung der bereits "Schwachen" beiträgt. Nutznießer des Verfahrens sind folglich multinationale Konzerne, die aber zur Wirtschaftskraft in den Regionen nur geringe Beiträge leisten. Es gilt, eine Art "Wirtschaftsverfassung" zu entwickeln, die nach folgenden Prinzipien ausgerichtet sein sollte. Erstens: Vereinheitlichungen der Regelungen des Wirtschaftsverkehrs dürfen nur dann vorgenommen werden, wenn die Bedingungen in den Mitgliedsländern zumindest weitgehend übereinstimmen. Dazu zählt vorrangig die Steuergesetzgebung. Zweitens: Eine Währungsunion setzt voraus, dass die Mitgliedssaaten ihre Hoheit über das Geldwesen vollumfänglich an eine europäische Institution abgeben und dass alle Steuerzahler im Währungsgebiet für die Staatsschulden aller Mitglieder haften. Da auch dieser Zustand nicht ohne erhebliche Veränderungen des Finanzgebarens der nationalen Regierungen zu erreichen ist, was schwierig sein wird, muss bis dahin die gemeinsame Währung aufgegeben werden, der Euro ist also wieder abzuschaffen. Drittens: Die für weitgehende Freizügigkeit im Wirtschaftsverkehr notwendigen "Gleichschaltungen" der Bedingungen werden ganz sicher nicht für alle Mitglieder zugleich akzeptabel sein. Deshalb sollten auf ökonomischem Feld Vereinbarungen nur zwischen denjenigen Staaten getroffen werden, die dafür die Voraussetzungen bieten, und zwar von Bereich zu Bereich getrennt. So könnten für einzelne Märkte eigene Regelungen gelten, die nur von einigen der Mitgliedsstaaten in Kraft gesetzt werden. Das ermöglicht eine schrittweise Näherung zum Ziel eines gemeinsamen Gesamtmarktes, der nicht aus Brüssel diktiert wird, sondern der dem Wunsch der Mehrheit der Menschen entspringt.

Dies sind Eckpunkte, die ganz absichtlich nicht weiter ausgeführt wurden, weil sie Grundlage für einen Prozess der Meinungsbildung in der gesamten EU sein sollen, für den folgendes zu gelten hat: Am Ende einer Phase des Nachdenkens kann ein Volksentscheid stehen, der in allen Mitgliedsstaaten abzuhalten ist und damit sicherstellt, dass die neue Europäische Gemeinschaft "demokratisch legitimiert" ist. Denn in dem Augenblick, wo die Bürger selbst entschieden haben, welche Struktur sie sich im europäischen Gefüge vorstellen können, werden sie auch hinter den der Gemeinschaft zugrundeliegenden Ideen stehen und eine Zukunft in einem gemeinschaftlich organisierten Europa für erstrebenswert halten. Statt dass wir uns, was allerdings zu befürchten ist, jetzt ein kleinkariertes Feilschen zwischen Parteifunktionären gefallen lassen, sollten wir "mündigen Bürger" die Diskussion um eine Europäische Gemeinschaft nach dem "Brexit" beginnen, und die politischer Klasse zwingen, daran teilzunehmen. Umdenken fängt in den Köpfen Einzelner an und "vermehrt" sich dann allmählich; daran sollten wir denken, bevor wir resignieren, weil der "Mainstream" auf anderem Kurs fährt.

Bedauerlicherweise erlebten wir in Europa während der vergangenen zwei Jahre wenig Nachdenken und viel gedroschenes Stroh, das jetzt nur noch schwer zusammenzukehren ist. In dem fast manischen Bemühen, einen "Deal" zu zimmern, dem die wichtigsten Interessenverbände zustimmen können – die Bürger sollen ja ausdrücklich nicht gefragt werden –, sind alle Überlegungen untergegangen, womit der Prozess der Genesung der EU hätte in Gang gesetzt werden können. Der Schwund an Vertrauen in die Handlungen der "Mandatsträger" hat weiter zugenommen, und die Bereitschaft der Bevölkerung, der Gemeinschaft einen Platz auf dem Feld ihrer Zukunftspläne zu gewähren, tendiert gen Null. Stattdessen gewinnen nationalistische Rattenfänger täglich neuen Zulauf und vergiften die Atmosphäre mit Parolen, die wir längst für ausgerottet hielten. Vor diesem Hintergrund schrumpft die Frage "Deal oder No Deal?" zu einer Angelegenheit von vernachlässigbarer Bedeutung. – Gleichzeitig verändert sich das Gefüge der Weltpolitik drastisch, und es drohen an allen sogenannten Brennpunkten des Globus gewaltige Umbrüche, Kriege eingeschlossen, deren Auswirkungen wir Europäer lediglich als ängstlich zitternde Zuschauer beiwohnen können, da die die EU praktisch nur noch als Markt, nicht aber als "Player" wahrgenommen wird.

Der Artikel erschien auch auf zeitbremse.wordpress.com

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zeitbremse

Mein zentrales Thema: die direkte Demokratie, dazu: "Die Pyramide auf den Kopf stellen", Norderstedt 2008.

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