Der It-Man der Wiener Kulturszene

Popliteratur Joachim Lottman dreht in „Endlich Kokain“ dem Medienbetrieb die Nase und macht sich ein gar schönes Leben
Ausgabe 15/2014
Der It-Man der Wiener Kulturszene

Foto: PATRICIE COPPEE/ AFP/ Getty Images

Stephan Braum ist ein Koloss von Charakter, literarisch und buchstäblich. Der über 50-jährige frühpensionierte TV-Redakteur beschreibt sich selbst einmal als elefantöse Gestalt von 135 Kilogramm, als einen Fettsack eben, mit der Gabe zu bitterer Selbstreflexion: „Zu meiner Zeit war die Jugend anders. Sie mochte keine Alten, keine Dicken und nicht mich.“ Sein bisheriges Leben: dahingesiecht, als Waschlappen unter einer undankbaren, frigiden und hässlichen Ex-Frau leidend – als libidinöser Ja-Sager, der jede innere Aufregung mit einem Schweißausbruch bezahlen muss.

Als ihm sein Arzt den sicheren Tod als Folge der Fettleibigkeit binnen drei Jahren prophezeit, beschließt Oberspießer Stephan Braum den Griff zum in der Wiener Kunst- und Medienszene offensichtlich salonfähigen Kokain. So wird Joachim Lottmanns Endlich Kokain zum unorthodoxen Spätzünder unter den Coming-of-Age-Romanen.

Braums treuer Wegbegleiter wird sein „wissenschaftliches Tagebuch“, in dem er penibel aufschreibt, wie viel Koks er nimmt und was es bewirkt. Ein Experiment mit einer harten Droge, die ihm beim Abspecken helfen und das Leben retten soll. Durch das Changieren zwischen der dritten Person und Ich-Erzähler-Passagen gewinnt der Roman an Fahrt und umgeht trotz Startschwierigkeiten die Gefahr, als vorausschaubares Pop-Szene-Epos dahinzuplätschern.

Autor Joachim Lottmann, Generation 1956, erlebt sein Schicksal, das zumindest Reminiszenzen an seine Hauptfigur trägt: Für viele, nicht zuletzt wohl für ihn selbst, gilt der Hamburger als unterschätzter Publizist. Sein Debüt Mai, Juni, Juli wird 1987 vernichtet und bei der Neupublikation 2003 von der FAZ gefeiert. Lottmann schreibt wieder Bücher und polemisiert. Ein paar Impressionen: Exzentrischer, großkotziger Zyniker, Urvater der deutschsprachigen Popliteratur, genialer Humorist und immer auch Außenseiter.

Perpetuum Mobile aus Lachflashs

Und das ist auch Lottmanns Figur. Durch Braum erlebt Lottmann zumindest literarisch-fiktiv den Durchbruch. Auf einmal findet er soziale und sexuelle Akzeptanz und erlebt hirnrissige Abenteuer, er zeigt seiner ehemaligen Berufswelt den Mittelfinger und steigt zum It-Man der Wiener Szene auf. Bald kann er seine Tage so beschreiben: „Ich war sofort wieder hocherregt und euphorisiert, und als wir in der Kirche waren und den Beichtstuhl nicht sofort sahen, nötigte ich das schöne Mädchen, das T-Shirt hochzuziehen und sich auf den Altar zu legen. Ich schnupfte dann von ihrer festen Bauchdecke“.

Das Leben wird zum Perpetuum mobile aus Lachflashs und Orgasmen. Um den immer dünner werdenden Mann kreisen nun die Anbeterinnen – von Esoterikerinnen mit Daddy-Komplexen bis zu gestandenen Berliner Journalistinnen. Allesamt sind sie SM-mäßig veranlagt und lassen sich gerne an Kühlschränken festketten. Weitere Identitätsüberlappungen zwischen Autor und Hauptfigur erahnt man auch in der Azidität der Gesellschaftskritik. Braum hämmert brutal gegen die schnarchigen öffentlich-rechtlichen Sender („Ein Film für Rezzo Schlauch [...]. Für Idioten, die Häkelmuster für Kultur hielten und nicht das neue iPhone 5s von Apple“), gegen die amerikanische Lebensweise und gegen die Pop-Kultur selbst („Was ist ein Vorstand gegen einen Popstar? Nichts! Wer wüsste das besser als ein Bademeister“). Bemerkenswert bleibt dabei die Gewalt der Sprache: Lottmann liest sich bissig, derb und herrlich komisch, dabei muss der Leser nicht einmal ein Eingeweihter der abgefahrenen Szene sein, die der geläuterte Koks-Diätler frequentiert.

Die Wandlung Stephan Braums vom Wrack zum übermenschlichen Popstar gelingt dem Autor glaubwürdig. Das Gute: Die Spannung bleibt bis zum Ende erhalten, der Leser gerät etliche Male in die Versuchung, Wetten mit sich selbst abzuschließen – ob die Hauptfigur nun im Kokain-Sumpf verendet oder doch als Sieger über die Hedonistenbande hervorgeht.

Endlich Kokain von Joachim Lottmann, KiWi-Taschenbuch, 2014, 256 S., 9,99 €

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