Alexei Nawalny griff zuletzt Wladimir Putin und zugleich die neoliberalen 1990er Jahre an – das alarmierte die Eliten
Foto: Rafal Milach Magnum Photos/Agentur Focus
Mit der Ermordung von Alexej Nawalny in einem Straflager jenseits des Polarkreises endete für Russland ein möglicher Weg in die Zukunft. Selbst hinter Gittern war Nawalny eine Alternative geblieben, ein Held von fast biblischer Statur, der die Menschen mobilisieren konnte wie kein anderer. Wenn sich für Putin die Lage verschlechtert, werden die russischen Eliten gezwungen sein, nach einer starken Führungspersönlichkeit zu suchen, die beim Volk ankommt und gleichzeitig die internationalen Beziehungen wieder reparieren kann, die Putin so rücksichtslos zerstört hat. Nawalny war eine Option. Es war ein Szenario, das nicht nur viele russische Dissidenten herbeisehnten, sondern das auch Teile der herrschenden Klasse insgeheim in Betracht zogen.
Diese Hoffnung is
offnung ist nun mit Nawalny beerdigt. Es gibt für ihn keinen Ersatz in einem Land, dessen politische Szene sich seit Langem auf den Kampf zweier Männer reduziert hatte.Solange es die Hoffnung noch gab, ließ sich eine ganze Reihe von Fragen vermeiden, die sich jetzt umso unausweichlicher stellen. Was ist die Alternative zu Putins Willkürherrschaft, die keinerlei Hoffnung für die Zukunft anbietet, aber die Gegenwart für viele Russen berechenbar und sogar angenehm macht? Warum sollten sowohl die zynische Elite als auch die hoffnungslosen Massen Russlands es riskieren, Putin abzusetzen, selbst wenn sie mit seinen Kriegsabenteuern nicht glücklich sind? Was hätte Russland dabei zu gewinnen, sowohl im Inland als auch im internationalen Standing? Einfacher gesagt: Wie sieht die Kosten-Nutzen-Rechnung aus?Opposition? „Widerstand“ ist das passendere WortEine alternative Agenda zu setzen ist die Aufgabe einer politischen Opposition (wobei „Widerstand“ das passendere Wort wäre in Russland, wo politischer Wettstreit mit allen in Kriegszeiten zur Verfügung stehenden Mitteln unterdrückt wird). Seit dem Überfall auf die Ukraine haben Beobachter aus dem Ausland die Namen vieler Politiker und Aktivisten kennengelernt, die als „russische Opposition“ bezeichnet werden und von denen die meisten inzwischen im Exil sind. Es gelingt ihnen zwar, den Kontakt zum russischen Publikum über Social Media zu halten, viele haben Verdienstreiches geleistet, doch sie haben bisher kein politisches Angebot formuliert, das verlockend genug erschiene, um einen Wandel in ihrem Heimatland herbeizuführen.Ein wichtiger Grund dafür liegt in der Ideologie. Die meisten Personen, die als Oppositionelle im Ausland bekannt sind, stehen für jene Sorte Rechtsliberalismus, die den Fokus auf individuelle Menschenrechte, Wirtschaftsliberalisierung mit extrem schlankem Staat und nachholender Modernisierung nach dem Vorbild westlicher liberaler Demokratien legt. Diese Agenda stammt aus der Zeit, als das „Ende der Geschichte“ ausgerufen wurde. Sie wird in Russland mit der Transformationsperiode der 1990er verbunden, als brutale neoliberale Reformen die sozialen Sicherungsnetze zerstörten, eine nie da gewesene Ungleichheit verursachten und das organisierte Verbrechen in führende Positionen brachten. Viele Oppositionelle verstärken diese Assoziation noch, indem sie das Narrativ befördern, Russland sei in den 90ern eine Demokratie gewesen, wenn auch eine mangelhafte, die Putin dann in eine Autokratie verwandelt habe. Der implizierte Plan ist folglich, zurück in die 90er zu gehen und nicht erneut zuzulassen, dass die Autokraten schleichend die Macht übernehmen.Die neoliberale Agenda der 90er zieht nichtSo attraktiv diese Agenda im Westen auch erscheinen mag, für die russische Bevölkerung ist sie ein Rohrkrepierer. Jeder, der auf 90er-Jahre-Nostalgie setzt, ist zum Scheitern verurteilt. Nawalny hat das verstanden. In einem der aktuellsten Beiträge auf seinem Blog kritisierte er vor ein paar Monaten aufs heftigste die korrupten Eliten der 90er und gab ihnen die Schuld am Aufstieg der Autokratie in Russland. Anstatt die liberalen 90er den Putin-Jahren gegenüberzustellen, unterstrich Nawalny die Kontinuität zwischen den beiden Epochen.Tatsächlich war Wladimir Putin als Stellvertreter des ultraliberalen Bürgermeisters von Sankt Petersburg, Anatoli Sobtschak, selbst tief verankert in der liberalen Elite der 90er. Seine Beziehungen halfen ihm, an die Macht zu kommen und diese zu halten. Bis heute besteht sein die westlichen Sanktionen abwehrendes Wirtschaftsteam aus eben jenen Neoliberalen. Die Oligarchen seines Umfelds machten alle ihr Vermögen im Zuge der rücksichtslosen Privatisierung in den 90ern.2021, direkt nach seiner Verhaftung bei der Ankunft in Russland, veröffentlichte Nawalny sein Blockbuster-Video über den Palast von Putin bei Sotschi. Es war die Geschichte einer mafiösen Elite, die das Luxusleben ihres Bosses finanziert. Der Plot verlinkte Putins verstörende Gier aus den Jahren des frühen russischen Kapitalismus mit dem obszönen Geschmack und den Begierden, die sich in diesem monströsen Palast manifestieren. Die kremltreuen politischen Strategen, mit denen ich damals sprach, waren plötzlich in Sorge: Nawalnys Recherche bot die Grundlage dafür, sowohl Putin als auch die 90er anzugreifen. Das war wohl auch einer der Gründe, warum eigentlich jeder Russe sich das Video anschaute, obwohl es auf Fakten basierte, die lange schon öffentlich bekannt waren.Warum bekommen die Russen nichts besseres angeboten?Dass eine rechtsliberale Agenda keine Begeisterung auslöst, ist indes kein russisches Alleinstellungsmerkmal. Es zeigt im Gegenteil, dass Russland vielen europäischen Gesellschaften von heute ähnelt. In Deutschland hat die FDP Mühe, noch fünf Prozent der Stimmen zu bekommen. Da wäre es doch überraschend, wenn die russische Bevölkerung die Liberalen angesichts der Katastrophen der Jelzin-Ära attraktiver fände.Die eigentliche Frage ist also, warum die Russen nichts Besseres angeboten bekommen als die müde Einladung, der „liberalen Demokratie“ eine zweite Chance zu geben. Das Land leidet in weiten Teilen unter extremer politischer und wirtschaftlicher Ungleichheit. Die Bevölkerung ächzt unter privater Überschuldung und verabscheut den Despotismus der Zentralregierung über die Provinzen in dieser rein nominellen Föderation. Es fehlt an funktionierenden Verkehrs- und Flugrouten. Man stöhnt über die bröckelnde Infrastruktur und fürchtet die Auswirkungen der massiven Industrieemissionen. Gleichzeitig wird der Zugang zur Behandlung lebensgefährdender Krankheiten verweigert und die Menschen sind gezwungen, für Bildung viel Geld zu bezahlen. Wie eine weitere Runde neoliberaler Reformen diese Sorgen angehen will, kann man nur raten.Warum besteht diese offensichtliche Diskrepanz zwischen dem politischen Diskurs und den Bedürfnissen der Bevölkerung? Einen Teil der Schuld trägt der Kreml. Die Regierung war sich der immer größer werdenden Nische für sozialdemokratische Politik bewusst und hat selbst im engen Rahmen der russischen Marionetten-Politik alle Kräfte verboten, die versuchten, sich für diese Agenda stark zu machen. Sowohl die Kommunistische Partei der Russischen Föderation als auch die Partei Gerechtes Russland, die als Platzhalter für eine linke Politik fungieren, verfolgen in Wahrheit eine rechtsextreme Agenda, die Imperialismus, Militarismus, Chauvinismus und die Verehrung der orthodoxen Kirche umfasst.Nawalnys Strategie des „klugen Wählens“Einmal mehr war es Nawalny, der dieses Bedürfnis erkannte, das insbesondere unter der russischen Jugend fast mit Händen zu greifen ist. Dass er anfangs mit Nationalisten liebäugelte, spielte für seine weitere politische Karriere keine Rolle. Seine spätere Agenda orientierte sich an dem weit verbreiteten Gefühl extremer Ungleichheit. Er versuchte, Gewerkschaften zu organisieren, obwohl Streiks so gut wie verboten sind, und er setzte sich für die radikale Dezentralisierung der Föderation ein. Selbst sein Markenzeichen, der Kampf gegen die Korruption, nahm eine neue Note an: neben seinen investigativen Recherchen zu Gesetzesverstößen enthüllte er immer öfters den luxuriösen Lebensstil der herrschenden Klasse und zeigte ihre mangelnde Moral angesichts einer Bevölkerung, die Mühe hat, über die Runden zu kommen.Als geschickter Stratege erfand Nawalny das Instrument des „klugen Wählens“ („smart voting“), das jede Wahl zu einem Referendum über die Regierungspartei machte. Der Ansatz bestand darin, alle Proteststimmen hinter der „zweitschlechtesten“ Option zu versammeln, sprich, hinter dem erfolgversprechendsten Kandidaten, und sei es eine Marionette, nach dem der Regierungspartei. Von dieser Strategie profitierte vor allem die Kommunistische Partei, deren Chancen, Putins Einiges Russland zu besiegen, am besten standen.Dieser plötzliche Zustrom an Protestwählern löste jedoch bei den Kommunisten wiederum einen parteiinternen Prozess aus. Da sie erkannten, dass neue Wähler zu haben waren und das Wahlergebnis keineswegs vorab feststand, wagte die Partei, eine Kohorte junger linker Kandidaten aufzustellen, die längst nicht nur kremltreu waren. Und so bewegte die Partei sich von Stalin-Nostalgie (ein Thema, das für die meisten russischen Wähler irrelevant ist) weg, hin zu einer eher sozialdemokratischen Agenda. Am Wahltag war es so bereits schwer auszumachen, ob die neuen Wähler sie einfach nur unterstützten, um Putin eins auszuwischen, oder weil die Kommunisten tatsächlich angefangen hatten, über echte Probleme zu sprechen. Diese Strategie erreichte ihren Höhepunkt 2021, als Nawalny bereits im Gefängnis saß. Aller Wahrscheinlichkeit nach zog die Kommunistische Partei bei den Parlamentswahlen mit Einiges Russland gleich und erhielt zwischen 31 und 33 Prozent der Stimmen. Selbstredend wurde das durch Wahlbetrug vertuscht und seit Russlands Überfall auf die Ukraine spielen Wahlen in Russland ohnehin keine Rolle mehr.Wer eine politische Führungsfigur in Russland sein will, braucht die Unterstützung der Russen und muss deshalb russische Interessen an die erste Stelle setzen. Kriegerische Auseinandersetzungen mit den Nachbarländern gehören nicht dazu, wie Nawalnys unerschütterlicher Respekt für die Souveränität der Ukraine belegt. Die Herausforderung besteht jedoch darin, den Russen darzulegen, dass auch sie in einer europäischen Nachkriegsordnung besser dran wären. Denn das ist der einzige Garant für einen dauerhaften Frieden.Die Entwicklung und die Kämpfe von Alexej Nawalny in den letzten Jahren seines Lebens sind ein wichtiger Teil seines Vermächtnisses. Es ist an der Zeit, dass wir eine neue Vorstellung des „schönen Russlands der Zukunft“ (Nawalny) entwickeln – des Landes, an das wir einmal geglaubt haben, und für das er sein Leben opferte.Placeholder authorbio-1
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