Olga Martynova, Vizepräsidentin der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, schreibt ihre Prosa auf Deutsch und ihre Gedichte auf Russisch. Seit 1991 lebt sie in Deutschland. Ulrich van Loyen lernte sie vergangenes Jahr in der Villa Massimo kennen, wo sie an ihrem autobiografischen „Buch der Trauer“ schrieb. Nach Russland zu reisen, wo ihr Mann, der Dichter und Dissident Oleg Jurjew begraben liegt, ist ihr nicht mehr möglich. Das Gespräch fand telefonisch zwischen Rom und Frankfurt statt.
der Freitag: Liebe Olga Martynova, was bedeutet Alexej Navalnys Tod für die Opposition in Russland, mit Blick auf Putins Regime? Wird etwas offenbar, das vorher verschleiert war?
Olga Martynova: Nichts war verschleiert, aber einiges will man wohl auch jetzt nicht wa
nova: Nichts war verschleiert, aber einiges will man wohl auch jetzt nicht wahrhaben. Etwa, dass Russland nicht für Putin steht. Dieses Narrativ eines imperialen Volkes ohne jede liberale Tradition und ohne jedes Streben danach, das man seit zwei Jahren massiv verbreitet, stimmt so nicht. Über die Menschenfresser im Kreml haben wir nichts Neues erfahren, außer, dass sie mit der Zeit immer dreister werden – sie wollen gar nicht, dass man ihnen glaubt, sie seien keine Mörder, sie wollen Angst verbreiten.Navalny sagte, wenn man mich einsperrt und tötet, zeigt das die Angst des Regimes. Nun hätte niemand im Kreml vor einer so kleinen, geradezu marginalen Opposition Angst haben müssen. Warum doch?Ich glaube, im Kreml weiß man nicht, wie groß die Opposition ist. Und ihre Größe ist tatsächlich schwer zu bestimmen. Es gibt keine einheitliche wirksame Opposition, in diesem Sinne war auch Navalny kein Oppositionsführer. Aber es gibt sehr viele oppositionell gestimmte Menschen in Russland. Ich habe irgendwo gelesen, dass nach offiziellen Umfragen sogar 30 Millionen Russen gegen den Krieg sein sollen. Intuitiv würde ich vermuten, dass das stimmt, und es werden immer mehr. Aber die Bevölkerung ist für die russische Regierung eine Blackbox. Die Ermordung Navalnys war natürlich ein taktischer Fehler, er könnte nun Züge eines Märtyrers bekommen. Wenn die russisch-orthodoxe Kirche sich jetzt noch vom Teufel befreit, dann werden nicht nur Straßen in Russland nach ihm benannt, sondern er wird zu einem Heiligen erklärt werden. Einerseits ist denen im Kreml also völlig egal, was die Welt denkt, andererseits haben sie eine Art Macbeth’sche Angst.Hatte sich Navalny verschätzt, oder hat er das Martyrium gesucht? Wie ordnest du seine Entscheidung zur Rückkehr ein?Ich kann mir vorstellen, dass er zum Martyrium bereit war, dass es in seinem Leben diesen Punkt gab. Kürzlich sprach ich mit einer russischen Verlegerin, die viel riskiert und sehr mutige Bücher publiziert. Sie kann nicht genau sagen, was sie antreibt, obwohl sie Angst hat. So lebt man ein bisschen wie in Trance. Entweder geht man dann immer weiter oder man wird von der Angst paralysiert. Vielleicht ging es Navalny ab einem gewissen Punkt so. Es ist völlig unwichtig, wie er davor war – als Politiker, als Denker, als Mensch, als Geschäftsmann. Es passierte etwas, das ihn zu einem Helden im antiken Sinne machen sollte oder zu einem Märtyrer. Das bedeutet nicht, dass es nicht andere Helden gäbe, die von einer Diktatur gequält werden, in Belarus, in Russland und weltweit. Navalny stand plötzlich im Rampenlicht stellvertretend für sie alle. Auch für Maria Kolesnikowa, die ebenso in vollem Bewusstsein der Gefahr in Belarus geblieben ist. Nun fehlt von ihr seit einem Jahr jede Nachricht. Damals, im Sommer und Herbst 2020, dachte ich, dass Maria Kolesnikowa ein Beispiel für eine andere Art Politik repräsentiert. Eine andere als die, wie sie Max Weber beschrieb. Politiker zu sein, schrieb Weber, bedeute, „mit diabolischen Mächten einen Pakt“ zu schließen. Dementsprechend sagte Weber der Ethik in der Politik Schwäche nach. In gewissem Sinne hatte sich auch Navalny von der Weber’schen diabolischen „Verantwortungsethik“ befreit.Es gibt noch andere Personen, die auch in Russland geblieben sind. Dmitri Muratow zum Beispiel, Chefredakteur der 2022 verbotenen „Nowaja gaseta“. Wie schätzen Sie deren Situation ein? Ist die Tötung Navalnys eine Botschaft an die Dissidenten, so nach dem Motto: Wenn wir wollen, können wir euch überall zerdrücken wie Insekten?Ja, definitiv ist es eine Botschaft für alle, auch für die im Ausland, damit sie (wir) Angst haben. Ich glaube nicht, dass die Regierung vor Navalny Angst hatte, sie wollten den Prominentesten töten, um zu zeigen, dass niemand sicher ist.Sie schrieben einmal, Putins Regime unterscheide sich von anderen totalitären Regimen darin, dass es nichts Attraktives gebe. Kein Projekt, in dem sich andere wiedererkennen, und sei es bloß für einen Moment, sondern nur nackte Macht. Wodurch ist diese Macht am ehesten herauszufordern, was ist ihre größte Angst?Sie haben nichts, womit sie Seelen anziehen oder verführen könnten, sie haben keine Ideologie. Vielleicht glauben sie, eine zu haben. Sie sprechen ja immer wieder von der messianischen Mission Russlands. Man kann sie sich am ehesten als eine Bande vorstellen. Wovor hat ein Mafiachef Angst?Davor, für nichts anderes zu stehen als für die Macht selbst. Auch die Mafia braucht eine Legitimation. Und wenn ein Legitimationsversuch, zum Beispiel Politiker zu werden, scheitert, dann steht ein Mafiaclan vor dem Ende. Und man muss sich mit Riten verankern, den Lebenszyklus organisieren. Am angreifbarsten ist man als leere Macht, als bloß korrupte Gang. Denn irgendwann kommt ja der Moment, in dem man keine Ressourcen zu verteilen hat, und sei es vorübergehend.Das stimmt mit meinem Bild der aktuellen Diktatur in Russland überein. Es passt auch für die Kirche. Es tangiert ihre Glaubwürdigkeit für die Menschen, die als Christen Dissidenten in der Sowjetunion waren und jetzt von ihrer Kirche verraten werden. Wobei es auch Priester gibt, die aus dem Dienst entlassen wurden, weil sie sich gegen den Krieg positionierten. Die Macht versucht, ihre Riten zu installieren, aber sie können die Leere kaum noch verbergen. Sowieso: Die Betonung angeblicher traditioneller Werte hat wenig mit Tradition zu tun. Das Ausmaß der Verfolgung von LGBT im heutigen Russland zum Beispiel hat kaum geschichtliche Parallelen, weder im Zarenreich noch in der Sowjetunion. Im 17. und 18. Jahrhundert haben westliche Reisende aus Russland berichtet, Homosexualität sei dort sehr verbreitet und die Regierung tue nichts dagegen, und das fanden sie schrecklich. Jetzt ist das andersrum, spiegelverkehrt.Noch einmal zu Navalny: War nicht sein Ansatz, die Macht als „nichts als kriminell“ zu diskreditieren, das Neue? Also die Illegitimität der Macht, nicht die falschen Ideen aufzugreifen?Genau das. Man könnte meinen, seine Untersuchungen zur Korruption waren so wirksam, weil die niederen Seiten der menschlichen Natur angesprochen wurden, zum Beispiel der Neid. Aber ich denke, es geht den Menschen wirklich um Gerechtigkeit. In den postsowjetischen Jahren waren sehr viele Menschen sehr links orientiert, das war keine Nostalgie oder Illusion, so nach dem Motto: Dass die Idee des Kommunismus mehrmals scheiterte, bedeutet noch nicht, dass sie utopisch bleibt, so wie das Fliegen ja auch erst nach Anläufen funktioniert hat. Also waren Navalnys Antikorruptionsaktionen bereits die Ausstellung einer Idee gegen pure Macht- und Geldgier. So haben die Proteste und Demos, ausgelöst durch seine Festnahme und seinen Film im Jahr 2021, doch einiges bewirkt: Navalny hat zumindest einen Platz für eine starke oppositionelle Gestalt geschaffen. Seither gibt es diesen Platz. Oder wenigstens das Bewusstsein dafür. Navalny wird dafür die Symbolfigur bleiben.Gibt es einen Vergleichsmoment für den Umgang mit Navalny in der russischen Geschichte der Literatur?Mir fällt der Märtyrer des Altgläubigenaufstands ein, der Protopope Awwakum, der aus der Verbannung und in Haft Briefe schrieb, wie Navalny. Das war im 17. Jahrhundert. Ein Freund in St. Petersburg hat Navalny mit dem Erzbischof Thomas von Canterbury verglichen, den Heinrich II. ermorden ließ. Will heißen, Navalny wird als eine Ausnahmefigur wahrgenommen werden. Als man der Familie die Leiche tagelang nicht herausgab, dachte ich, dass vielleicht analog zum „falschen Dmitri“, der behauptete, der früh gestorbene Zarensohn zu sein, oder zu dem legendären Anführer des Bauernaufstands Pugatschow, der sich als Peter III. ausgab, ein „falscher Alexej“ erscheinen würde und mit einem Volksheer den Kreml stürmen könnte. Das war natürlich unrealistisch. Jedoch glaube ich nicht, dass solche Opfer vergeblich sind. Ich möchte noch einmal betonen, dass Alexej Navalny für mich nun ein Symbol für alle Opfer politischer Repression ist. Und das ist nicht nichts.Placeholder infobox-1
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