Alexej Nawalny war mutig genug, Putins absurde Tyrannei zu verspotten

Meinung Viele Jahre lang hat Alexej Nawalny den Präsidenten Russlands verspottet. Aber am Ende werden Wladimir Putins Feinde einfach zum Schweigen gebracht
Trauer um Alexej Nawalny vor der russischen Botschaft in Prag
Trauer um Alexej Nawalny vor der russischen Botschaft in Prag

Foto: Milan Kammermayer/AFP/Getty Images

Tyrannen und Diktatoren sind es gewohnt, kritisiert, verurteilt und geschmäht zu werden. Die Schreie ihrer Opfer sind ihnen gleichgültig. Die Flüche und die Tränen von Familien und Freunden, deren Angehörige entführt, eingesperrt, gefoltert und getötet wurden, werden als eine Art kranker, bestätigender Tribut an ihre Macht, Grausamkeit und Unmenschlichkeit akzeptiert.

Was der durchschnittliche Tyrann nicht ertragen kann, ist Spott. Und Wladimir Putin, der Präsident Russlands, ist keine Ausnahme von dieser Regel. Putin nimmt sich sehr ernst. Ihm scheint jeglicher Sinn für Humor völlig fremd zu sein. Selbstironie kennt er so wenig wie der Wolf das Mitleid. Und doch ist er im Grunde genommen vor allem lächerlich – ein kleiner Mann mit einer zu großen Aufgabe.

War Spott der Grund, warum Alexej Nawalny, Putins lautstärkster und bekanntester Kritiker, schließlich getötet wurde? Wer weiß, wie oft dieser mutige Kämpfer für Freiheit, Demokratie, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit den Präsidenten Russlands über viele Jahre hinweg provoziert und verspottet hat. Bei einem gut dokumentierten Vorfall im Jahr 2020 sollen Putins Agenten versucht haben, ihn mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok zu töten, was ihnen nicht gelang. Irgendwie hat er überlebt.

Das war Navalnys großes Talent: das Überleben. Er wurde ständig bedroht, verhaftet, geschlagen und misshandelt, seine Familie und Freunde eingeschüchtert, seine Anhänger schikaniert. Aber er hat nicht aufgegeben. Er machte weiter, als viele andere das Schweigen, das Exil, die Sicherheit gewählt hätten. Nach seiner Vergiftung wurde er in Deutschland behandelt, entschied sich dann aber erstaunlicherweise, nach Russland zurückzukehren und den Kampf fortzusetzen.

Alexej Nawalny zuletzt in einem Strafgefängnis am Polarkreis

Natürlich ließ Putin ihn wieder verhaften – er wurde bei seiner Ankunft auf dem Moskauer Flughafen Scheremetjewo abgeholt. Seitdem saß er hinter Gittern, zuletzt in einem Strafgefängnis am Polarkreis. Dorthin war er im Dezember verlegt worden, um eine 19-jährige Haftstrafe unter „besonderen Bedingungen“ weiter zu verbüßen. Damals wurden Befürchtungen mit Blick auf seine Gesundheit und Sicherheit geäußert. Die Bedingungen in der Kolonie, die von eisiger Tundra umgeben ist, sind außergewöhnlich brutal.

Aber das Wetter ist nicht der Grund für seinen Tod. Nawalny war ein zäher Bursche. Das hat er immer wieder bewiesen. Eine offizielle Untersuchung der Todesursache ist im Gange, sagen die russischen Behörden. Aber ihre Lügen sind berüchtigt, ihre bodenlose Verachtung für Fakten und die Wahrheit ist episch. Jede Untersuchung des eigenen Verhaltens durch Putins Regime ist so aufschlussreich und erhellend wie ein Tucker-Carlson-Interview. Mit anderen Worten: Es ist eine Farce.

Nawalny könnte erneut vergiftet worden sein. Sein angeblicher plötzlicher Bewusstseinsverlust nach einem Training im Freien lässt darauf schließen, dass etwas in dieser Art geschehen sein könnte. Er könnte misshandelt worden sein. Er könnte körperlich angegriffen worden sein. Seine Mutter sagte, als sie ihn am Montag sah, war er „lebendig, gesund und glücklich“. Ein natürlicher Tod scheint äußerst unwahrscheinlich.

Aber welche Methode auch dafür benutzt worden sein mag, um Nawalny zu töten: Der Grund für die Vollstreckung eines Todesurteils zu diesem Zeitpunkt mag mit seiner aktuellsten Spöttelei zusammenhängen – in Nawalnys jüngstem, durchdringenden Spott über den aufgeblasenen, angeberischen, puritanischen, armseligen und unsicheren Putin sowie sein Lakaienregime. Letzten Monat erschien er per Videokonferenz vor Gericht in der Strafkolonie in Jamalo-Nenets. Mit abgemagertem Gesicht und rasiertem Kopf machte Nawalny Witze über die peinliche Überreaktion des Regimes auf eine berüchtigte „Fast-Nackt-Party“ reicher Moskauer. Die reichen und berühmten Partygäste waren dafür kritisiert worden, dass sie in Saus und Braus feierten, während dank Putins katastrophaler „spezieller Militäroperation“ so viele junge russische Leben in den Schützengräben der Ostukraine ein jähes Ende fanden.

Lange Liste plötzlicher Todesfälle unter Putins Gegnern

Berichten zufolge wurden Putin skandalöse Bilder von der Veranstaltung gezeigt. Selbst er konnte sehen, wie schlimm sie aussahen. Der Nachtclub wurde geschlossen, und gegen den Rapper Nikolai Wassiljew, der mit einer Socke über seinem Penis aufgetreten war, wurde eine militärische Vorladung ausgesprochen. Als Hüter traditioneller, konservativer russischer Werte und selbsternannter Erbe der Zaren konnte Putin derartige Spielchen nicht dulden.

„Habt ihr eine Party gefeiert?“, fragte Navalny die Gefängnisbeamten während der Videokonferenz vor Gericht. „Ihr ward wahrscheinlich auf einer Nacktparty“, mutmaßte er. Selbst der Richter lachte. Es war nicht wirklich eine große Sache. Aber Putin wird es möglicherweise anders gesehen haben. Einmal mehr machte sich der unverbesserliche, unbezähmbare Nawalny, trotz allem, was Putin ihm angetan hatte, auf seine Kosten lustig. Hier hat Nawalny wieder einmal den letzten Lacher auf seiner Seite. Also beschloss der armselige Putin, dafür zu sorgen, dass es wirklich sein letzter Lacher war.

Kann es wirklich so gewesen sein? Angesichts der langen Liste plötzlicher Todesfälle unter Putins Gegnern und Kritikern scheint nur eines sicher zu sein: Die volle, ungeschminkte, hässliche Wahrheit wird frühestens dann bekannt werden, wenn dieser Tyrann endlich gestürzt oder selbst getötet wird.

Vergangenes Jahr wurde der Chef der Wagner-Söldner, Jewgeni Prigoschin, der mit Meuterei gedroht hatte, in die Luft gesprengt – bis zu dieser Woche, das jüngste von Putins prominenteren Opfern. Allein in Großbritannien wurden Alexander Litwinenko in London und Sergej Skripal in Salisbury ermordet oder versucht zu ermorden. Es gab noch viele andere Morde – an Politikern, Journalisten, Geschäftsleuten, Anwälten – und dabei sind die Tausenden von Unschuldigen, die in der Ukraine, in Georgien und in Tschetschenien ermordet wurden, noch gar nicht mitgezählt.

Es wäre tröstlich zu glauben, dass diese jüngste Gräueltat einen Volksaufstand gegen Putins Diktatur auslösen und zum Sturz des Tyrannen führen wird. Es wäre schön zu glauben, dass Putin bei den manipulierten Ein-Mann-„Präsidentschaftswahlen“ im nächsten Monat aus dem Amt gejagt wird. Aber so laufen die Dinge im repressiven Gefängnisstaat von Putins Gnaden nicht.

Es ist einfach, Putin zu verurteilen, sich über seine Verbrechen aufzuregen, seine Verhaftung zu fordern, ihn „zur Rechenschaft“ zu ziehen. Aber das kann vernünftigerweise nur von außerhalb des Landes geschehen. Für die Russen ist es vielleicht klüger und sicherer, dem ebenso traurigen wie Beispiel Nawalnys zu folgen. Lacht über den Tyrannen. Spottet über den Narren. Putin ist ein Clown. Er ist lächerlich, absurd. Dieser Witz geht auf seine Kosten.

Simon Tisdall ist Auslandskommentator. Er war früher Leitartikelautor, Auslandsredakteur und US-Korrespondent des Guardian

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Geschrieben von

Simon Tisdall | The Guardian

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