Gegen Mittag verbreitete die staatliche russische Nachrichtenagentur TASS am 16. Februar eine lakonische Meldung. Sie bezog sich darauf, was offenbar die Gefängnisverwaltung der Strafkolonie Nr. 3 im Jamalo-Nenezki-Gebiet am Polarkreis gerade erklärt hatte: Der „verurteilte Nawalny“ habe sich „nach einem Spaziergang schlecht gefühlt“ und „praktisch sofort das Bewusstsein verloren.“ Daraufhin seien „unverzüglich“ medizinische Mitarbeiter der Haftanstalt zu ihm gekommen, ein Notarztwagen sei gerufen worden. „Alle notwendigen Wiederbelebungsmaßnahmen“ hätten „keine positiven Ergebnisse gebracht“, sodass die Notärzte „den Tod des Verurteilten festgestellt“ hätten. Die Urs
Ursachen würden untersucht.Nawalny hatte die Frage verneint, ob er damit rechne, verhaftet zu werdenPolitiker im Westen waren daraufhin mit der Bestimmung der Todesursachen schneller als alle Mediziner. Kanzler Olaf Scholz befand: „Wir wissen nun aber auch ganz genau, spätestens, was das für ein Regime ist.“ Als Ferndiagnostiker präsentierte sich gleichfalls der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj: „Es ist für mich offensichtlich: Er wurde getötet.“ EU-Ratspräsident Charles Michel sekundierte: „Die EU macht das russische Regime allein für diesen tragischen Tod verantwortlich.“ Und US-Präsident Joe Biden hat keinen Zweifel, dass Nawalnys Tod auf das Handeln von Putin und dessen Regime zurückzuführen sei.Kein europäischer Politiker von Gewicht erhob die naheliegende Forderung nach einer unabhängigen ärztlichen Untersuchung. So wird sich schwerlich klären lassen, ob Nawalny Opfer eines Anschlages wurde oder die Haftumstände und Strafprozesse seine ohnehin angeschlagene Gesundheit zerrüttet haben. Im August 2020 war Nawalny während eines Fluges in Russland ohnmächtig geworden und zunächst in einer Klinik im sibirischen Omsk behandelt worden. Darauf folgte ein Krankenhausaufenthalt in der Berliner Charité, wo sich sein Zustand durch ärztliche Hilfe wieder verbesserte. Währenddessen kam eine Untersuchung in einem Speziallabor der Bundeswehr zu dem Ergebnis, Nawalny sei dem verbotenen Nervengift „Nowitschok“ ausgesetzt gewesen. Eine folgende Recherche mehrerer westlicher Medien glaubte Indizien dafür gefunden zu haben, dass Geheimdienstkreise in Moskau eine Vergiftung Nawalnys organisiert haben könnten.Als er nach Behandlung und mehrmonatiger Rehabilitation in Deutschland wieder aktionsfähig war, flog Nawalny am 17. Januar 2021 wieder nach Moskau, begleitet von westlichen Journalisten. Er wollte seine politische Tätigkeit fortzusetzen. Noch während des Fluges antwortete Nawalny auf die Frage, ob er damit rechne, verhaftet zu werden, dies sei „unmöglich“. Das allerdings erwies sich als tragischer Irrtum. Nawalny hatte die entschlossene Härte der Staatsmacht unterschätzt und sich Illusionen über die Stärke seiner meist jugendlichen Anhänger hingegeben. Der Rückkehrer wurde sofort nach seiner Ankunft am Moskauer Flughafen Scheremetjewo festgenommen.Seine Gefolgschaft in Russland wie die medialen Unterstützer im Westen hatten suggeriert, Nawalny führe eine breite Massenbewegung, die ihn womöglich bald an die Macht bringen werde. Dabei hatte eine Umfrage des unabhängigen Moskauer Meinungsforschungsinstituts Lewada im Oktober 2020 ergeben, dass ihm nur elf Prozent vertrauten. Das Lager seiner Fans rekrutierte sich vorzugsweise aus jungen Angehörigen der großstädtischen Intelligenz und damit einer Minderheit.Mit 24 hatte sich der Offizierssohn Nawalny der linksliberalen Partei „Jabloko“ angeschlossenZuvor hatte Nawalny über Jahre hinweg ein Publikum von vielen Millionen Russen durch professionelle Videos angezogen, in denen er rhetorisch geschickt auf mutmaßliche Fälle von Korruption hinwies. Da waren Villen und Yachten zu sehen, die von hohen staatlichen Funktionsträgern genutzt wurden. Offenkundig war, dass die betroffenen Spitzenbeamten sich diesen Luxus mit ihren Gehältern nicht hätten leisten können. Die Videos waren ein Gemeinschaftswerk des von Nawalny 2011 gegründeten und inzwischen verbotenen „Fonds für die Bekämpfung der Korruption.“Damals konnte Nawalny bereits auf ein bewegtes politisches Leben zurückblicken. Mit 24 Jahren hatte sich der 1976 geborene Offizierssohn der linksliberalen Partei „Jabloko“ angeschlossen, war als Organisationstalent aufgefallen und bald zum Geschäftsführer der Moskauer Jabloko-Filiale aufgestiegen. 2007 jedoch wollte die Partei nichts mehr von ihm wissen und verkündete seinen Ausschluss. Nawalny hatte sich zusehends als Nationalist zu erkennen gegeben. Nawalny trat als Redner vor Rechtsextremisten bei „russischen Märschen“ auf und gründete eine ultrarechte Bewegung, die er „Volk“ nannte. In einem Video dieser Organisation verglich er Menschen aus den nordkaukasischen Regionen mit Kakerlaken und Insekten. Bewaffnet mit einer Fliegenklatsche und einer Pistole forderte er den freien Verkauf von Waffen. Auftritte wie diese, für die er sich nie entschuldigte, führten dazu, dass ihm viele Oppositionelle in Russland skeptisch gegenüberstanden. Für Zweifel an Nawalny sorgte in deren Kreisen letztlich auch der Umstand, dass sein Programm mit seinem Versprechen eines „wunderbaren Russlands der Zukunft“ so vage blieb wie der Weg dorthin.Es hatte immer Strafverfahren gegen Nawalny gegeben, das letzte im August 2023 vor dem Moskauer Stadtgericht, das ihn wegen Extremismus zu einer Haftstrafe von 19 Jahren verurteilte. Da verbüßte er bereits eine Strafe von neun Jahren Haft wegen Betruges, weil man ihn für schuldig hielt, Spendengelder veruntreut zu haben.