Das Monster im Bauch

Beziehungskino Dietrich Brüggemanns „Nö“ zeigt, was mit der Liebe geschieht
Ausgabe 39/2021

Gibt es eine bessere Bestätigung für eine stabile Beziehung, als wenn auf ein zweifelndes „Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn wir uns trennen“, ein schlichtes „Nö“ im Sinne von „Wir schaffen das schon“ folgt? Michael (Alexander Khuon) und Dina (Anna Brüggemann) liegen da zusammen im Bett und reden darüber, wie es weitergehen soll. Heiraten? Kinderkriegen? Sind sie dafür überhaupt die Richtigen? Vor allem Michael hat Zweifel und Ängste, während Dina dagegenhält, dass ein Paar nicht nur durch gemeinsame Interessen, sondern auch durch das Gegenteil zusammengehalten wird: „Uns sind die gleichen Dinge egal!“ Die Szene ist bestrickend unromantisch, und genau darin liegt ihre Attraktivität: Nur selten treffen Filme so tief ins Herz alltäglicher Erfahrungen.

Es ist die erste Szene von Dietrich Brüggemanns neuem Film, mit dem er nach der 2015 gestarteten Nazi-Satire Heil und drei Tatort-Inszenierungen erstmals wieder auf die große Leinwand zurückkehrt. ist gleich in mehrfacher Hinsicht eine Rückkehr: Zum einen hat Brüggemann hier erneut das Drehbuch zusammen mit Schwester Anna verfasst wie zuletzt bei Kreuzweg (2014); zum anderen spielen Anna Brüggemann und Alexander Khuon wie schon in Drei Zimmer, Küche, Bad (2012) ein Paar. Und zum Dritten greifen die Brüggemanns in formal auf Mittel zurück, die sie in den vorherigen Filmen erfolgreich ausprobierten. Wie in Kreuzweg ist die Handlung in einzelne Tableaus gegliedert, die jeweils in einer Einstellung gedreht wurden. Wie in Drei Zimmer, Küche, Bad geht es um die Liebe und ums Erwachsenwerden.

Als „Thema“ klingt das ausgesprochen langweilig: Familiengründung. Aber die Brüggemanns sind begabt darin, die Langeweile so präzis in den Blick zu nehmen, dass sie eine höchst aufregende Prägnanz gewinnt. Und das Stilmittel der in einer Einstellung gedrehten Tableaus nutzen sie für eine Öffnung ins Surreale, die für den nötigen Humor sorgt.

In 15 Einzelszenen bewegt sich der Film vorwärts durch die Stationen von Michael und Dinas Beziehung: vom ersten Kind über das Fortkommen im Beruf bis zum zweiten Kind und dem bis dahin angesammelten Gefühlsstau. In den einzelnen Vignetten findet wunderbare Bilder für Dinas und Michaels oft divergierende Sichtweisen. Als Dina das erste Mal schwanger ist, sieht Michael bei der Ultraschalluntersuchung immer wieder statt des unschuldigen Babys ein ihn böse angrinsendes Monster auf dem Monitor. Er muss schließlich in Panik den Untersuchungsraum verlassen. Nach der Geburt dagegen ist es Dina, die auf einmal ganz anders auf die Wirklichkeit reagiert: Als Michael sie aus dem Krankenhaus abholt, sieht sie ringsherum ein Kriegsgebiet, vor dem sie den Säugling auf ihrem Arm beschützen muss. Später erlebt Michael, der Arzt ist, wie bei einer Operation auf einmal die Zeit stillsteht und ihm Gelegenheit bietet, sich mit dem älteren Patienten (Rüdiger Vogler) über so wichtige Fragen zu unterhalten wie, ob er vielleicht seiner ersten großen Liebe noch nachtrauert und wie er seinen Beruf mit seinem Vatersein unter einen Hut bringen soll. Dina hat es schwer, als Mutter in ihren Schauspielberuf zurückzukehren. Ein Workshop führt ihr vor, wie groß die Rolle der Selbstzweifel in ihrem ganzen Leben ist. Und ein Besuch bei Michaels todkrankem, bitterem Vater (Hanns Zischler) findet später einen überraschenden Nachhall.

In den stärksten Episoden erreicht Brüggemann einen ähnlichen Effekt wie der Schwede Roy Andersson in seinen parabelhaften Filmen seit Songs From the Second Floor: das Leben als mehr oder weniger tiefsinnige Karikatur, in der man sich betroffen und resignierend, aber auch mal erleichtert wiedererkennt.

Info

Dietrich Brüggemann Deutschland 2021, 119 Minuten

12 Monate für € 126 statt € 168

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