Fundiert über Antisemitismus und Israel sprechen

Sammelrezension Fünf neuere Publikationen vermitteln interessante Perspektiven auf jüdische Lebensrealitäten in Deutschland, die deutsche Israeldebatte sowie Grundlagenwissen über Antisemitismus.

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Die linke Philosophin Judith Butler verklärt den Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 zu einem Akt des „bewaffneten Widerstands“. Nur wenige Tage zuvor wird auf der Abschlussveranstaltung der diesjährigen Berlinale – ohne jede Empathie für die bis heute verschleppten israelischen Geiseln und Opfer des Hamas-Anschlags – der Genozid-Vorwurf gegenüber Israel erhoben. Die Dokumentationsstellen antisemitischer Vorkommnisse verzeichnen seit dem Hamas-Anschlag rapide gestiegene Zahlen.

Von ganz rechts bis in das konservativ-liberale Lager wird mit dem Kampfbegriff des „importierten Antisemitismus“ ein Pauschalverdacht gegenüber Menschen mit muslimischen Migrationshintergrund geäußert. Die Forderung nach einer Waffenruhe, um die humanitäre Katastrophe im Gaza-Streifen zu bewältigen, und die Frage, welche Perspektive die israelische Regierung für die Zeit nach dem Krieg verfolgt, ist wiederum nicht gleichzusetzen mit der zu Recht inzwischen unter Strafe gestellten Losung „From the River to the Sea“, mit der die Auslöschung Israels angestrebt wird.

Das gesellschaftliche Gespräch über Antisemitismus und dessen Ursachen sowie über die Bekämpfung seiner unterschiedlichen Erscheinungsformen, einschließlich des israelbezogenen Antisemitismus zu führen ist umso schwieriger in Zeiten, in denen „statt reflektierter Positionen […] einseitige emotionale Solidaritätsbekundungen Hochkunjunktur“ haben, wie Meron Mendel im Nachwort seines 2023 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen Buches „Über Israel reden. Eine deutsche Debatte“ formuliert. Viele in der jüngeren Zeit und aktuell erschienene Publikationen bieten fundierte Möglichkeiten, sich zu orientieren und zu informieren. Die schiere Zahl der Neuerscheinungen ist freilich so groß, dass ein Überblick fast unmöglich ist. Fünf neuere Publikationen bieten Orientierungshilfe.

Handbuch Antisemitismus

„Die Antwort auf die Frage, was Antisemitismus ist, scheint leicht: Feindschaft gegen Jüdinnen*Juden und das Judentum. Doch ein Blick in mehr als 100 Jahre Forschungsliteratur zeigt schnell und deutlich: So leicht ist es offensichtlich nicht.“ Vielmehr hat die Antisemitismusforschung eine große Vielfalt von Sichtweisen hervorgebracht, die sich aus fachlich sehr unterschiedlichen Disziplinen aber auch den jeweiligen zeitlichen Kontexten ihrer Entstehung begründet, wie die Herausgeber:innengruppe bestehend aus Sina Arnold, Anna Danilina, Klaus Holz, Uffa Jensen, Ingolf Seidel, Peter Ullrich und Jan Weyand in der Einleitung zu dem im Göttinger Wallstein-Verlag diesjährig erschienenen Buch „Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft“ darlegen.

Vor dem Hintergrund, dass über Antisemitismusdefinitionen und –konzepte vielfach vehement gestritten wird, verfolgen die Herausgeber:innen nach eigener Aussage zwei Anliegen: „Erstens, das komplexe Wissen der unterschiedlichen Verständnisse von Antisemitismus einem breiteren Publikum dem Stand der aktuellen Forschung entsprechend zur Verfügung zu stellen, und zweitens, auch mit Blick auf die Fachöffentlichkeit, diese Ein- und Überblicke reflektierend zu ordnen“.

Hierzu wird nach der sehr kurzen und den Anspruch der Herausgeber:innen einordnenden Einleitung in vier Abschnitten vorgegangen. Unter der Überschrift „Grundbegriffe“ beleuchten zehn Beiträge von wenigstens vier bis maximal neun Seiten den Terminus Antisemitismus und dessen unterschiedliche Erscheinungsformen: Antijudaismus, Moderner Antisemitismus, Erlösungsantisemitismus, Sekundärer Antisemitismus, Neuer Antisemitismus, Muslimischer/arabischer/islamisierter/islamistischer Antisemitismus, Israelbezogener Antisemitismus, »Postkolonialer Antisemitismus« bis zum Philosemitismus. Die Beiträge dieses Abschnittes sind inhaltlich anspruchsvoll ohne zu überfordern und dürften insbesondere für Lehrkräfte an Schulen bzw. in der politischen Bildung eine gute Handreichung darstellen. Die fettgedruckten Verweise auf weitere Beiträge im Buch bieten den Ausgleich zum erkennbaren Bemühen der Herausgeber:innen, das mit 315 Seiten umfangreiche Buch dennoch überschaubar zu halten.

Der nachfolgende Abschnitt, „Problemfelder“ genannt, widmet sich in dreizehn Beiträgen Kontroversen in der Antisemitismusforschung. Auch diese kurzgehaltenen Beiträge mit hilfreichen Querverweisen beackern ein weites Feld. Dazu gehören beispielsweise die Diskussion um die IRHA-Arbeitsdefinition Antisemitismus, die Jerusalem-Erklärung und das Nexus-Dokument oder die Frage »umkämpfter Sprechpositionen in der Antisemitismusdebatte« – also die Debatte, ob Jüd:innen aufgrund ihrer Betroffenheit allein oder maßgeblich entscheiden, was als antisemitisch gilt bzw., wie die Gegenposition annimmt, hindert gerade diese Betroffenheit sie an einer „objektiven“ Einschätzung dessen, was Antisemitismus ist. Die Autor:innen der Beiträge stellen die jeweiligen Sichtweisen ausgewogen dar und legen offene bzw. wünschenswerte weitere Forschungsfragen ebenso offen, wie die Interessen, die einzelnen Sichtweisen zugrunde liegen.

Da sich Positionen in der Antisemitismusdebatte und –forschung mit einzelnen Personen verbinden, dient der dritte Abschnitt des Buches dazu, diese vor allem in der deutschen Debatte prägenden Personen und Positionen darzulegen. Dreizehn Beiträge stellen dreizehn Personen vor, von denen eine, der Soziologie und frühere Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland, Klaus Holz, Mitherausgerausgeber des Buches ist. Vorgestellt werden mit ihren einschlägigen Werken bzw. Forschungsfragen: Hannah Arendt, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Jean-Paul Sartre, Shulamit Volkov, Moishe Postone, Detlev Claussen, Helen Fein, Zygmunt Bauman, Astrid Messerschmidt, Judith Butler, Monika Schwarz-Friesel, Jonathan Judakan und Klaus Holz. Einige der vorgestellten Personen dürften sehr, andere weniger und einige nur vorgebildeten Leser:innen bekannt sein. Dass die Herausgeber:innen das Geschlechtermissverhältnis auch in der öffentlich rezipierten Antisemitismusforschung gegen den Strich bürsten ist ebenso selbstverständlich wie gleichwohl immer noch erwähnenswert.

Der vorgelegte Band will, wie die Herausgeber:innen betonen, „heftig ausgetragenen Streit nicht befördern“, sei vielmehr zu verstehen „als eine Einladung zur Auseinandersetzung mit einer von vielfältigen Positionen gekennzeichneten Debatte über Antisemitismus“. Dazu dienen die ersten drei Teile, die das Buch zu einem klugen und nützlichen Handbuch machen. Im vierten und abschließenden Teil gehen die Herausgeber:innen einen Schritt weiter. Ausgehend von den Erkenntnissen des Forschungsprojektes »Antisemitismus verstehen«, in dem die Herausgeber:innen gemeinsam tätig waren, „wird zunächst in einige maßgebliche theoretische Grundprobleme der wissenschaftlichen Begriffsbildung eingeführt. Und es wird gefragt, wie die Antisemitismusforschung bisher mit ihnen umgegangen ist.“ Die Herausgeber:innen sind der Auffassung, dass ‚die‘ Antisemitismusforschung sich „ihren erkenntnistheoretischen Grundlagen bisher kaum gestellt hat“ und verzichten zugleich darauf, eine allgemeingültige Antwort zu geben. Stattdessen werden im Abschnitt „Probleme der Begriffsbildung und Definition von Antisemitismus“ zunächst „Vielfalt und Leerstellen der Debatten um Antisemitismus“ identifiziert, Überlegungen zu Eigenschaften, Gebrauch und Problematiken von Begriffen generell und in der Antisemitismusdebatte im Spezifischen angestellt und schlussendlich „Acht Probleme der Begriffsbildung von Antisemitismus“ erörtert. Dieser Abschnitt des Buches ist erkennbar gerichtet an versierte Mitglieder der scientific community und der Antisemitismusforschung. Und dennoch ist auch dieser Abschnitt kein Fremdkörper in diesem Band, der sich sowohl an Laien wie Interessierte mit Vorkenntnissen und Expert:innen richtet. So wünschenswert „ein (Hervorhebung im Original) allgemeines Verständnis von Antisemitismus“ sei, ist dies aus Sicht der Herausgeber:innen „ebensowenig plausibel wie wahrscheinlich“. Statt dessen gelte es, „sich einer Situation von Komplexität und Widersprüchlichkeit möglichst produktiv zu stellen und die Debatte weiterzuführen, ohne fälschlich auf ihr Ende im allgemeinen Einverständnis zu hoffen“. Diesem Anspruch wird der vorgelegte Band gerecht, dem eine breite interessierte Leser:innenschaft zu wünschen ist.

Christliche Wurzeln des modernen Antisemitismus

Der christlich motivierten Judenfeindschaft, dem »Antijudaismus«, widmet sich im vorstehend besprochenen Handbuch Antisemitismus die Religionswissenschaftlerin Katharina von Kellenbach in einem instruktiven Beitrag. Der Vorstellung, dass »Antijudaismus« nur die „prämoderne Vorgeschichte eines modernen (politischen, rassistischen, wirtschaftlichen, sozialen etc.) Antisemitismus“ sei, widerspricht von Kellenbach. Denn aus ihrer Sicht „kann weder historisch noch ideologiekritisch eindeutig zwischen einer säkularen und einer religiösen Judenfeindschaft unterschieden werden“ (S. 18).

Vielmehr bestünde die religiöse Dimension des modernen Antisemitismus sowohl in „der Kontinuität christlicher Bilder und Narrative“ als auch „im Verlangen nach einer Heilsgewissheit, die alle Ambivalenzen abwehrt […], indem sie störende, unreine und böse Elemente auslagert und auf das jüdische Andere projeziert“ (ebd.).

Bereits im Jahr 2022 legte der promovierte Jurist Tilman Tarach auf 224 Seiten eine lesenswerte Studie zu den christlichen Wurzeln des Antisemitismus bei Edition Telok vor. Er will sich „der Frage annehmen, in welchem Verhältnis die Gründungsmythen und Leitideen der christlichen Lehre als solche (Hervorhebung im Original) zum Antisemitismus stehen – und zwar durchaus auch zum modernen, nationalsozialistischen und schließlich auch zum israelbezogenen Antisemitismus.“ (S. 9f.)

Zusätzlich will Tarach mit seiner Untersuchung zeigen, dass „die Shoa nur vor dem Hintergrund des christlichen Antisemitismus möglich war“ und „die traditionellen Muster des christlichen Antisemitismus sich auffallend häufig auch“ beim Blick auf Israel wiederfinden (S. 10).

Nach einem Geleitwort von Annetta Kahane, Gründerin und langjährige Vorsitzende der Amadeo-Antonio-Stiftung, sowie der Einleitung unternimmt Tarach in 22 übersichtlichen Kapiteln den Nachweis einer Kontinuität antisemitischer Motive von der Spätantike bis in die Gegenwart. Die Schilderung ist faktenreich und belegt. Ob der im theologischen Feuilleton geäußerte Vorwurf zutrifft, Tarach habe eine nur selektive Quellenauswahl vorgenommen und sei zu wenig quellenkritisch, kann hier nicht bewertet werden.

Wer sich neue Erkenntnisse aus der Studie von Tarach verspricht, wird enttäuscht sein. Dies ist jedoch auch nicht sein Anspruch. Ebensowenig, ein wissenschaftliches Sachbuch zu schreiben. Tarach spitzt zu und insoweit besteht der Wert des Buches darin, ein zuletzt vor allem in Expert:innenkreisen behandeltes Thema, das allenfalls anhand kurzfristiger medialer Erörterungen wie z.B. dem Umgang mit dem sogenannten Judensau-Relief in Lutherstadt Wittenberg in die Öffentlichkeit dringt, für ein breites Publikum aufbereitet zu haben. Hierzu gehört die Schilderung antijüdischer Mythologien, die lange Geschichte der Kennzeichnung von Jüd:innen durch besondere Kleidung und den Umstand, dass bereits die spanische Inquisition Voraussetzungen schuf, die von den Nationalsozialisten aufgegriffen wurden.

Saul Friedländer prägte den Begriff des »Erlösungsantisemitismus« und machte damit deutlich, dass sich, wie Michael Wildt im Handbuch Antisemitismus ausführt. „ein aus religiösen Überlieferungen und Gefühlen gespeister Judenhass auch im 20. Jahrhundert“ erhalten hatte. Der nationalsozialistische Antisemitismus griff diese judenfeindliche Imagination einer Christenheit ohne Jüd:innen und Heilsgewissheiten auf, die säkularisiert wurden. Tarach bezieht sich in seiner Darstellung vor allem auf den nationalsozialistischen Antisemitismus, während von Kellenbach darauf hinweist, dass antijudaistische Heilsvorstellungen in säkularisierter Form in „ganz unterschiedliche politische Ideologien eingeschrieben [wurden], vom Nationalsozialismus zum Kommunismus, vom Feminismus zum Postkolonialismus“.

Es geht Tarach, wie er einleitend schreibt, nicht darum, ein weiteres Buch über die „Verbrechen der Kirche“ zu verfassen. Das hindert ihn nicht, Verstrickungen des Vatikans mit den nationalsozialistischen Verbrechen offenzulegen und deren fehlende gründliche Aufarbeitung zu kritisieren. Dass dies weiterhin wichtig ist, konzediert erneut auch Francesco Papagni, der Tarachs Buch methodisch und inhaltlich sonst nicht viel abgewinnen kann: „Auf katholischer Seite macht man es sich mit dem Verweis auf Nostra Aetate zu einfach. Ja, die Konzilskonstitution Nostra Aetate ist ein Meilenstein und Wendepunkt des katholischen Verhältnisses zum jüdischen Volk, aber Jahrhunderte antijüdischer Vorurteile verschwinden nicht einfach so. Aufklärungsarbeit in den Gemeinden täte not, aber geschieht viel zu wenig.“

Insgesamt legte Tarach ein meinungsstarkes und mit einem hilfreichen Orts-, Namens- und Sachregister versehenes Buch vor, das ein überwiegendes Expert:innenthema populär aufbereitet und dafür Schwächen in Kauf nimmt.

Jüdische, muslimische und christliche Lebensrealitäten in Ostdeutschland

Am diesjährigen 8. März setzte das Team von Friedrich Merz einen Tweet mit dem Inhalt ab: „In unserem Land gibt es tausende Moscheen, von denen keine geschützt werden muss – aber alle Synagogen brauchen Polizeischutz. Auch das ist Deutschland im Jahr 2024. Wir müssen dafür sorgen, dass alle Menschen – vor allem auch jüdischen Glaubens – angstfrei leben können.

Dieser Tweet ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen zeigt sich darin der Unterschied zwischen dem designierten Kanzlerkandidaten der Unionsparteien und dem früheren SPD-Kanzlerkandidaten Johannes Rau, der seine Kampagne 1987 unter das Motto stellte »Versöhnen statt spalten«. Darüber hinaus ignoriert Merz, dass ausweislich der Statistik des Bundeskriminalamtes über politisch motivierte Straftaten 51 Angriffe auf Moscheen in Deutschland im Jahr 2021 verübt wurden und 62 Angriffe im Jahr 2022.

Zudem ignoriert Merz erneut die bestehenden signifikanten Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, die auch im Hinblick auf die Gegebenheiten für Jüd:innen, Muslim:innen und Christ:innen bestehen. Dieser spezifischen Lebens- und Glaubensrealität widmet sich Band II in der Buchreihe der »Denkfabrik Schalom Aleikum«. Die von der Bundesregierung geförderte Denkfabrik unter dem Dach des Zentralrats der Juden in Deutschland besteht seit 2022 in Fortsetzung des gleichnamigen Dialogprojekts Schalom Aleikum. Jüdisch-muslimischer Dialog. Erforscht werden in der Denkfabrik Themen aus jüdischer, muslimischer und christlicher Perspektive.

Der bei Hentrich & Hentrich, dem Verlag für jüdische Kultur und Zeitgeschichte, erschienene Band soll, mit den Worten von Daniel Botmann, Zentralratsgeschäftsführer und Dmitrij Belkin, dem Leiter der Denkfabrik „die Generation, die nach der Wiedervereinigung geboren ist und ihre religionsgesellschaftlichen Ansichten in einer angeblich areligiösen Region Deutschlands“ formte, analysieren und darauf aufbauend Zugänge zur Frage ermöglichen, „Wie leben sie in Ostdeutschlands als junge Muslime, Christen und Juden?“ (S. 14). Sieben Beiträge geben Antworten auf knapp 160 Seiten im leicht lesbaren und ansprechend layouteten Großdruck.

Nach dem bereits erwähnten Beitrag von Botmann/Belkin, der eine Einleitung in den Band darstellt, legt Magdalena Herzog (Wissenschaftlerin in der Denkfabrik) empirische Erkenntnisse vor. Auch hier lautet das Erkenntnisinteresse, ausgehend von der „gegenüber Westdeutschland fundamental andere[n], defizitäre[n] Ausgangslage für religiöse Gemeinschaften, die bis heute ihre Wirkung zeigt“, soll herausgefunden werden, „wie junge Erwachsene die unterschiedlichen Aspekte ihrer Identität changieren und wie sich ihr Selbstverständnis formt: wie sie Judentum praktizieren und Ostdeutschland erfahren; wie Musliminnen religiös und hochengagiert in der Integrationsarbeit, jedoch an keine Gemeinde gebunden sind, weil die Angebote keine Passung aufweisen; wie junge Erwachsene christlich-evangelisch gläubig sind, geprägt von der Ausgrenzungserfahrung der Eltern als Christen in der DDR, und doch mit der etablierten Kirche kaum noch etwas anfangen können und nach neuen Formen gelebten Christentums suchen; und wie es um armenische und syrisch-orthodoxe junge Christinnen und Christen in Ostdeutschland steht.“ (S. 21)

Angesichts der mit mehr als zwei Dritteln Konfessionslosen Ostdeutschlands spricht Herzog von einer „dünnen Gelegenheitsstruktur“ religiöser Gemeinden und Communities, die einen klar lebensweltlichen Bezug hat. Und angesichts des starken Rechtsextremismus und Rassismus in der ostdeutschen Gesellschaft signifikante Unterschiede zwischen den Communities provoziert: „Das Grundgesetz Artikel 1, nämlich: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt‘ ist für viele Juden, Musliminnen und Christen der ostdeutschen Gesellschaft nicht erfüllt“. (S. 23) Wobei zwischen Christ:innen und Christ:innen differenziert werden muss. Denn „Christinnen und Christen, die der armenischen oder einer der orthodoxen Kirchen angehören, haben häufig, wie die meisten Juden und Musliminnen in der ostdeutschen Gesellschaft Migrationshintergrund und werden mitunter fälschlicherweise für Muslime gehalten. In dieser rassistischen Wahrnehmung sind sie ebenfalls von antimuslimischem Rassismus betroffen.“ (ebd.) Der Beitrag gibt einen Überblick über die Spezifik der Gemeinden, Vereine, Glaubensmöglichkeiten, der in dieser systematischen Form bislang nicht vorliegt und dem deshalb eine große Relevanz zukommt und in geeigneter Weise den politischen Verantwortungsträger:innen, insbesondere auf der kommunalen Ebene zugänglich gemacht werden sollte.

Lorenz Hegeler und Akin Şimşek (beide Mitarbeiter der Denkfabrik) baten für ihren Beitrag drei junge Menschen, Leonid, Sultan und Elsa einen für sie wichtigen religiösen Ort zu benennen, mit einem Photo zu veranschaulichen und Fragen der beiden Autoren zu diesem jeweiligen Ort aus ihrer jüdischen, muslimischen bzw. christlichen Perspektive zu beantworten. Entstanden sind drei kurze sensible Porträts über die Bindung der jungen Menschen zu diesem Ort und ihrer Lebenswelt.

Auch in der Dokumentation des von der Autorin und Journalistin Jana Hensel moderierten Videogesprächs mit Igor Matviyets, Projektleiter beim Landesnetzwerk der Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt, Azim Semizoğlu, Mitbegründer des Hauses der Sozialen Vielfalt e.V. und Mara Klein, Teil von #OutinChurch kommen die jungen Menschen zu Wort, statt das allein über sie geschrieben wird. Darin besteht ein großer Wert dieses Buches. Ausgangspunkt des Gesprächs ist der am jüdischen Feiertag Jom Kippur 2019 in Halle/Saale verübte Anschlag auf die Synagoge. Ein Tag, der alle drei, die in Halle bzw. Leipzig wohn(t)en auf unterschiedliche Weise berührte und der sich, mit den Worten Semizoğlus anfühlte „als würde einem die Realität ordentlich auf die Fresse hauen“. (S. 69). Berührt werden im Weiteren Fragen der sich überlagernden, ambivalenten Identitäten als religiös gebundene Ostdeutsche, Menschen mit Migrationshintergrund oder Teil einer queeren Minderheit. Es zeigt einen unverstellten Blick auf die Lebensrealität und macht insoweit Mut als die drei sehr engagierten Protagonisten:in Ostdeutschland als ihre Heimat identifizieren.

Die jungen jüdischen Lebensrealitäten Ostdeutschlands nimmt Olaf Glöckner, Mitarbeiter am Potsdamer Moses-Mendelssohn Zentrum in den Blick. Die jüdischen Gemeinden Ostdeutschlands sind bis heute spürbar kleiner als ihre westdeutschen Schwestergemeinden, was seine Ursache auch im ignoranten und diskriminierenden Umgang der DDR mit den im Land lebenden Jüd:innen hatte, wie ich im Rahmen zweier Rezensionen auf diesem Blog 2022 hier und 2023 hier darlegte.

Glöckner legt dar, dass es vornehmlich (postsowjetische) Migrant:innen waren, „die während der 1990er-Jahre dafür sorgten, dass die acht lokalen jüdischen Gemeinden der einstigen DDR […] quasi ‚in letzter Minute‘ vor dem demografischen Zusammenbruch bewahrt blieben“ und dass „in vielen jüdischen Gemeinden […] die ‚Post-Sowjets‘ heute die demografische Mehrheit“ sind und den Gemeindealltag, die Umgangssprache sowie das Vereins- und Kulturleben wesentlich bestimmen (S. 84).

Wenn die CDU im Thüringer Landtag eine Aktuelle Stunde zur verpflichtenden Aufnahme von mit 80 ct/h geringbezahlter Beschäftigung für Migrant:innen unter die Überschrift „Solidarität ist keine Einbahnstraße“ stellt, lohnt sich ein Blick in Glöckners Beitrag: „Viele der nach Deutschland emigrierten, ehemals sowjetischen Jüdinnen und Juden wussten und wissen die hiesigen Freiheiten, sozialen und rechtlichen Möglichkeiten sehr zu schätzen. Andererseits haben Sie ‚Integration in Deutschland‘ auch nie als eine ‚Einbahnstraße‘ verstehen wollen – weder in der breiten Gesellschaft als solcher noch in den lokalen jüdischen Gemeinden.“ (ebd.) Glöckner verweist auf die nahtlose Fortsetzung des hohen Akademikeranteils und des weiterhin bestimmenden Bildungs- und Kunstideals. Gleichwohl entsteht daraus keine zwangsläufige Bleibeperspektive in Ostdeutschland, solange höhere Löhne und wohl auch eine weniger diskriminierende und mit größeren jüdischen Gemeinden aufwartende Perspektive in Westdeutschland als Alternative besteht.

In einem gegenüber den vorhergehenden Beiträgen deutlich stärker wissenschaftlich argumentierenden Beitrag stellt Collin Feuerstein (als Soziologe bei der Denkfabrik beschäftigt), die Erkenntnisse einer Untersuchung über die innere Verbundenheit religiöser Communities dar. Alle drei betrachteten religiösen Communities, jüdische Gemeinden, muslimische Verbände und christliche Kirchen sind – in sehr unterschiedlichem Maße – von Schwäche geprägt, was wiederum Wirkung auf die jungen Mitglieder hat, wie die 14 leitfadengestützten Interviews, die der Studie zugrunde lagen, ergab.

Der in jeder Hinsicht wichtige und erkenntnisreiche Band zeigt die Bedeutung des interreligiösen Dialogs und der Forschungsarbeit der Denkfabrik. Zu wünschen gewesen wäre dem Band, dass insbesondere die Perspektiven und Gesichtspunkte der Mitglieder der armenischen und orthodoxen Kirchen, ihre Lebensrealitäten nicht nur abstrakt erwähnt worden wären und analog zum Beitrag von Glöckner ein tiefergehender Beitrag zu den muslimischen Verbänden Ostdeutschlands in systematischer und vergleichend übergreifender Form im Band Platz gefunden hätte.

Junge jüdische Politik und Aktivist:innen in Deutschland

Der deutsche Philosoph und liberale Rabbiner Emil Fackenheim brachte in die Diskussion, ob man nach der Shoa noch von Gott reden könne, ein 614. Gebot, das den 613 traditionellen Geboten der Tora hinzugefügt werden müsse. Dieses Gebot lautet: „Den Juden ist es verboten, Hitler posthume Siege zu verschaffen. Es ist ihnen geboten, als Juden zu überleben, damit das jüdische Volk nicht untergeht.“ In der Jüdischen Allgemeinen führte dies Karl Erich Grözinger vor bald zehn Jahren ausführlicher aus.

Über jüdisches Leben in Deutschland zu sprechen findet oft nur im Zusammenhang mit antisemitischen Vorfällen, in der Vergangenheitsform statt oder in einer Erinnerungskultur, in der jüdische Selbstbehauptung oder jüdischer Widerstand bis heute nur ein Schattendasein führen. Der Mythos des passiven, widerstandslosen Juden ist mit den Worten Arno Lustigers, eines der bedeutsamsten Chronisten des jüdischen Heldentums und Widerstandes, eine der letzten historischen Lügen, eine sich hartnäckig haltende Legende.

Wiederum im Verlag Hentrich & Hentrich legen die beiden Aktivisten Monty Ott und Ruben Gerczikow das starke Buch „‘Wir lassen uns nicht unterkriegen.‘ Junge jüdische Politik in Deutschland“ vor. Der Anspruch von Monty Ott, von 2018 bis 2021 Gründungsvorsitzender von Keshet Deutschland e.V., der hiesigen jüdischen LGBTIQ*-Community, sowie Ruben Gerczikow, zur gleichen Zeit Vizepräsident der European Union of Jewish Students sowie der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands (JSUD), ist es, mit diesem Buch dazu beizutragen, aus der Erfahrung der jüdischen Fremdzuschreibung auszubrechen und jüdische Widerständigkeit zu erzählen: „Ihre Kämpfe werden nur selten erzählt und scheinen hinter anderen Geschichten zu verschwinden. Diese Leerstellen wollen wir nicht akzeptieren. Wir wollen, dass die jungen Jüdinnen*Juden ihre Geschichten selbst erzählen.“ (S. 12)

Entstanden ist ein wohl bislang einmaliger Reportageband über zeitgenössischen Aktivismus junger Jüd:innen, der gleichwohl fragmentarisch bleiben muss und keinen allumfassenden Anspruch erhebt.

Gerczikow/Ott gehen in dem Band, der vom AJC Berlin Lawrence & Lee Ramer Institute for German-Jewish Relations gefördert wurde, in neun sehr unterschiedlichen Schritten vor. Das Kapitel 1 beleuchtet historische Facetten des jüdischen Aktivismus nach der Befreiung vom Nationalsozialismus. Gerczikow/Ott, die dankenswerterweise die Fähigkeit besitzen, fesselnd zu schreiben, ohne darüber Tiefgang vermissen zu lassen, bedienen sich hierzu des akkumulierten Wissens des Historikers Dan Diner, dessen eigenes politisches Wirken mit der linken jüdischen Selbstorganisation in der Studierendenbewegung verbunden ist. Dan Diner und seine Zeitgenoss:innen, „ihre Biografien, ihre Widersprüche und Brüche vermitteln einen Eindruck davon, wie in den vergangenen Jahrzehnten Räume erkämpft worden sind – Räume, von denen junge Jüdinnen*Juden heutzutage profitieren“ (S. 28), wie Gerczikow/Ott resümieren.

Das zweite Kapitel widmet sich dem jüdischen Studierendenaktivismus. Obwohl Diner u.a. bereits 1968 den Bundesverband Jüdischer Studenten in Deutschland (BJSD) gründeten, stellte dieser 2013 seine Arbeit mangels aktiver Mitglieder endgültig ein. Bereits drei Jahre später schlossen sich jüdische studentische Aktivist:innen erneut mit dem Ziel zusammen, einen Verband auf die Beine zu stellen. Erzählt wird diese neuere Geschichte durch ein Gesprächsporträt Benjamin Fischers, dem ersten Gründungspräsidenten der JSUD. Es wäre denkbar gewesen, das zweite Kapitel mit dem dritten, das sich dem „Denk- und Streitraum jüdischer Studienförderung“ widmet, zusammenzuführen. Vorgestellt wird das Begabtenförderungswerk der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES). Wie im vorhergehenden Kapitel findet das Instrument des Gesprächsporträts Anwendung. In diesem Fall kommt der ELES-Geschäftsführer, Jo Frank, zu Wort.

Bereits im Band über die religiösen Lebensrealitäten Ostdeutschlands wurde deutlich, dass Aktivismus in religiösen Communities sich verbindet mit Aktivismus beispielsweise queer-politischer oder feministischer Form. Hiervon berichtet das Kapitel 4, das den Titel „Aktivismus in Widersprüchen. Queerness und Feminismus zwischen Kongressen, Organisation und Aktivismus“ trägt. Vorgestellt wird sowohl das queer-jüdische Netzwerk Keshet Deutschland e.V. als auch das »Jewish Woman*Empowerment Summit«, das als inzwischen etabliertes Format jährlich dazu beiträgt, dass die Positionen junger jüdischer Frauen in Deutschland an Sichtbarkeit und Relevanz gewonnen haben. Im Interview mit der Jüdischen Allgemeinen beschrieb Laura Cazés, eine der Summit-Organisatorinnen die Genese des Formats wie folgt: „Als wir vor vier Jahren den Jewish Women* Empowerment Summit gemeinsam konzipiert haben, stand auch in jüdischen Gemeinden und Institutionen die Frage im Raum, ob es solch ein prominentes Format überhaupt braucht und inwieweit auch die Aushandlungsprozesse jüdisch-feministischer Positionen noch notwendig sind, denn junge jüdische Frauen und auch nicht binäre Personen gelten ja vermeintlich als empowert. Keshet war gerade gegründet worden, die JSUD hatte eine Präsidentin, es gab in den Dachverbänden sichtbare Mitarbeiterinnen in Leitungsfunktionen. Dennoch identifizierten viele junge jüdische Aktivistinnen es als ein für sie zentrales Thema.“ Gerczikow/Ott lassen in ihrem Beitrag ebenfalls Laura Cazés zu Wort kommen, die bei der Zentralen Wohlfahrtsstelle, ZWST, die Abteilung „Kommunikation und Digitalisierung“ leitet.

Einen anderen Weg wählt das Kapitel 5, in dem Gerczikow/Ott mit Igor Matviyets und Karamba Diaby (SPD), Illya Trubman und Hermann Gröhe (CDU), Leah Luwisch und Irene Mihalic (GRÜNE), Julian Detering und Benjamin Strasser (FDP) sowie Franziska Lucke und Martina Renner (DIE LINKE) jeweils ein junges Parteimitglied und ein:e Bundestagsabgeordnete:r der im Bundestag vertretenen demokratischen Parteien über parteipolitischen Aktivismus berichten.

Das Kapitel sechs lässt anhand ausgewählter politischer Ereignisse schlaglichtartig jüdischen Aktivismus aufleben: Die Solidarisierung französischer Jüd:innen in Rostock-Lichtenhagen 1992 mit von Abschiebung bedrohten Sinti*zze und Rom*nja in Folge des im September 1992 verabredeten deutsch-rumänischen Rücknahmeabkommens; die Kritik jüdischer Aktivist:innen an problematischer Solidarisierung fundamentalistischer Christ:innen mit Israel 2002; der Kampf gegen die seit den 1980er Jahren in der Bundesrepublik und seit 1996 jeweils zentral in Berlin durchgeführten sogenannten Al-Quds-Tag-Demonstrationen, die mit dem iranischen Regime und ihm verbundenen Terrororganisationen sympathisieren und notorisch antisemitisch sowie israelfeindlich sind; die Auseinandersetzung mit AfD; dem Anschlag in Halle/Saale vom Oktober 2019 und dessen vergessene Opfer und Wirkungen. Die Bandbreite und Vielfältigkeit jüdischer Widerständigkeit insbesondere aber Solidarisierung mit z.B. Sinti*zze und Rom*nja sowie anderen Marginalisierten ist die Stärke dieses Kapitels.

Am 3. Juni 2023 gewann TuS Makkabi Berlin den Landespokal der Amateure und nahm nicht nur erstmals am DFB-Pokal teil – das Spiel gegen den VfL Wolfsburg ging mit 0:6 leider eindeutig aus -, sondern ist zugleich der erste deutsch-jüdische Verein in der DFB-Pokalgeschichte. Die Berichterstattung dürfte vielen Fussballfans in Deutschland die bislang weitgehend unbekannte deutsch-jüdische Fussballrealität vor Augen geführt haben. Unter der Überschrift „You’ll never walk alone. Jüdinnen*Juden und Fußball-Fanszenen“ widmen sich die Autoren dem Jüdischsein im Stadion, oder wie Gerczikow/Ott es ausdrücken: „This is my Synagoge. This is where I heal my hurts“. „Die Fankurven sind ein Ort des gesellschafts- und fussballpolitischen Diskurses“ und „Hooligan, Ultra und aktive Fanszene […] zum Teil viel gebrauchte Begriffe, die durch Alltag und die mediale Berichterstattung strömen.“ (S. 155)

Gerczikow/Ott lassen zunächst den Fussball- und Fankultur-Experten Robert Claus zu Wort kommen, bevor Felix Tamsut, israelischer Fussballjournalist und Fanaktivist des 1. FC Köln über seine Liebe zum Verein und Aktivismus berichtet. Daran schließt sich das Gesprächsporträt des ebenfalls aus Israel stammenden Leipzigers und RB-Fans Yuval Rubovitch an.

Mit der rhetorischen Frage „Ist Kunst politisch?“ ist das achte und abschließende Kapitel überschrieben. Vorgestellt wird die US-amerikanische Aktivistin und Künstlerin Talya Feldman, die u.a. als Teil des kollaborativen Projekts „Global White Supremacist Terror: Halle“ im Rahmen des interdisziplinären Netzwerks Forensic Architecture wirkte. Diese Mitarbeit war nicht nur ein Beitrag dazu, das eigene Überleben des Anschlags vom 09. Oktober 2019 zu bearbeiten, aufzuarbeiten, sondern es war nicht weniger „als das Zurückerobern der eigenen Geschichte – der Geschichte, wie sie sie erlebt hat, und nicht wie Journalist*innen oder die Gesellschaft sie erzählen wollen.“ (S. 169)

Porträtiert werden weiterhin die aus Israel stammende und in Pforzheim lebende Rapperin Sharon Suliman, sehr ausführlich der Drehbuchautor und Regisseur Arkadij Khaet („Masel Tov Cocktail“) sowie die unter dem Pseudonym Asur wirkende Streetart-Künstlerin und der ebenfalls als Streetart-Künstler in Göttingen tätige Mordechai.

Das Panorama jüdischen Aktivismus in Deutschland, das Gerczikow/Ott entfalten ist bemerkenswert und bietet einen Einblick in jüdische Lebensrealitäten, dem zu wünschen ist, dass er über das Buch hinaus Eingang in die alltäglichen Wahrnehmungen der deutschen Gesellschaft findet. Denn wie Lea Wohl von Hasenberg 2020 in der APuZ formulierte: „In einer Gesellschaft, in der Jüdinnen und Juden vielstimmig, divers und auch widersprüchlich erlebt werden (können), kann auch Antisemitismus anders verhandelt werden, als in einer Gesellschaft, in der sie vor allem als eine symbolisch überhöhte Mini-Minorität gesehen werden.“ (S. 11)

Über Israel reden

Die Chance sichtbarer jüdischer Vielfalt und Streitbarkeit liegt Wohl von Haselberg zufolge zudem darin, sich „dem ‚Zwang zur Repräsentation‘ zu entziehen, der die heterogenen Erfahrungen und Positionen von Jüdinnen und Juden verdeckt und zu einer Stimme zu kondensieren sucht.“ (S. 13)

Einen beachtlichen Beitrag zur Vielfalt jüdischer Stimmen leistet seit geraumer Zeit Meron Mendel. Der in Israel aufgewachsene Direktor der Bildungsstätte Anne Frank und Professor für transnationale soziale Arbeit an der FH Frankfurt hat beim Verlag Kiepenheuer & Witsch „Über Israel reden. Eine deutsche Debatte“ veröffentlicht.

Mit dem Buch nimmt Mendel die deutsche Debatte über Israel in den Blick und bürstet sie aufklärerisch gegen den Strich, indem er die Frage danach stellt, welche Funktion das Verhältnis zu Israel in der deutschen Politik und Gesellschaft erfüllt. „Das Verhältnis zu Juden im Allgemeinen, und ganz spezifisch die Verbundenheit zum Staat der Juden, bildet einen wichtigen Teil des deutschen Projekts der ‚Vergangenheitsbewältigung‘“ (S. 29), doch konstatierte Mendel bereits an anderer Stelle die problematische Ausrichtung deutscher Erinnerungskultur. In der berühmten Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker formulierte dieser am 8. Mai 1985: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“, doch ist dieser Gedanke für Mendel aus pädagogischer Sicht gefährlich. „Unter dem auf nichts weniger als Erlösung verpflichteten Diskurs scheint der pädagogische Umgang mit dem Nationalsozialismus kaum einen Beitrag zu Sensibilisierung mit den Erscheinungsformen des Antisemitismus zu leisten. […] In der Kluft zwischen der gefühlten Aufarbeitung und der pädagogischen Praxis gedeiht der Antisemitismus weiter, und vielleicht gerade dort, wo vor lauter Selbstzufriedenheit über die gelungene ‚Vergangenheitsbewältigung‘ das Problem nur noch beim Anderen, selbst bei sich selbst gesehen werden kann“ (S. 38), formulierte Mendel 2020 ebenfalls in der APuZ.

In gleicher Weise scheint die Unterstützung Israels zum Symbol des deutschen demokratischen, toleranten und liberalen Selbstverständnisses geworden zu sein. Ein moralischer Kompass, dessen Widersprüche Mendel in vier Kapiteln beleuchtet: „Die Bundeswehr an der Klagemauer. Die Debatte um die Staatsräson“, „Drei Buchstaben mit Schlagkraft. Der BDS-Streit“, „Aus der Geschichte verlernt. Die Linke und der Nahostkrieg“ sowie „Vergleichbar einzigartig. Die Erinnerungskultur und ihre Kritiker“.

Von welchem Standpunkt aus Mendel seine Analyse vornimmt und seine Argumente entfaltet, macht er im Prolog zum Buch deutlich. Er beschreibt darin sein Aufwachsen in Israel und die Begegnung mit dem Philosophen Jeschaju Leibowitz, der bereits 1968 – nur kurz nach dem Sechstagekrieg – formulierte: „‘Der wichtigste Tag im Sechstagekrieg ist der siebte Tag.‘ Am siebten Tag nämlich häte sich die israelische Armee aus seiner Sicht aus den besetzten Gebieten – Ostjerusalem, Westjordanland und Gazastreifen – vollständig zurückziehen müssen.“ (S. 11) Seinen Wehrdienst absolvierte Mendel in den besetzten Gebieten in Hebron und Ramallah. Er beschreibt seine Erlebnisse unter der Überschrift „Besatzung bedeutet Gewalt und Angst“ und die daraus folgenden Bemühungen des arabisch-jüdischen Dialogs im Studium an der Universität Haifa.

Mendel hält mit Kritik an der israelischen Regierung unter Benjamin Netanjahu nicht hinter dem Berg. Die Spaltung der israelischen Gesellschaft „zwischen dem (immer kleiner werdenden) liberal-säkularen Lager und dem (immer stärker werdenden) nationalistisch-religiösen Lager“ (S. 21) lässt ihn nicht nur hinsichtlich einer friedlichen Beilegung des Konflikts mit den Palästinensern desillusioniert sein, sondern auch skeptisch hinsichtlich der Zukunft der israelischen Demokratie. Er sieht sie in Gefahr, wie Ungarn oder die Türkei zu einer illiberalen Demokratie oder »defekten Demokratie« zu werden (S. 23).

Seine Kritik an der in Deutschland gebräuchlichen Formulierung der Solidarität mit Israel als »Staatsräson« nimmt vor diesem Hintergrund drei Ebenen in den Blick: (1) die historische Entlastungsfunktion, (2) die Instrumentalisierung des Staatsräson-Begriffs, wenn beispielsweise die AfD (und inzwischen auch Teile der Union), die Solidarität mit Israel als Bühne für antimuslimische Ressentiments nutzen. Spätestens dann ist es wohl nicht nur „eine Ironie der Geschichte, dass sich mehr als 75 Jahre nach dem Holocaust rechte Israelis und rechte Deutsche zusammenfinden, um gemeinsam gegen Muslime und andere Geflüchtete zu agitieren.“ (S. 64) sowie (3) die Notwendigkeit, sich die kritische Frage zu stellen, „ob in Zeiten, in denen in Jerusalem rechtsextremistische Minister im Amt sind, das Konzept [der »Staatsräson«] noch tragbar ist“ (ebd.)

Im Wissen darum, dass solcherart kritische Sichten auf die israelische Regierungspolitik aus jüdisch-israelischer Tastatur instrumentalisiert werden, stellt Mendel bereits im Prolog klar: „Ich will nicht die Rolle des jüdisch-israelischen Kronzeugen übernehmen.“ (S. 24) Im Hinblick auf die Staatsräson geht es ihm deshalb nicht um das Ende dieser besonderen Form der Solidarität, sondern darum, wie eine „deutsche Staatsräson für Israels Sicherheit das Land vor der Gefahr der demokratischen Selbstzerstörung schützen kann“.

Die Debatte um die sogenannte BDS-Bewegung ist seit Jahren im Gang. Dass eine ihrer Protagonistinnen, Judith Butler, wie eingangs dargelegt, inzwischen jeden moralischen Kompass verloren hat, trägt nicht dazu bei, dass sich bezogen auf die Boykottbewegung BDS eine sachliche Erörterung entfalten wird. Mendels Haltung zum BDS ist offensichtlich: „Ich erlebe das Gedankengebäude hinter den Buchstaben BDS als totalitäre Ideologie, die vornehmlich die radikalen Kräfte auf beiden Seiten stärkt: auf der palästinensischen genauso wie auf der israelischen“. (S. 71f.)

In diesem totalitär ideologischen Sinne schadet die BDS-Bewegung aus Sicht Mendels: „Nicht der Siedlungsbau, sondern vor allem Friedens- und Dialogprojekte werden durch den Boykott gestoppt.“ (S. 73) Die BDS-Bewegung ist nicht zwangsläufig antisemitisch, doch sind Antisemit:innen in der BDS-Bewegung in großer Zahl zu finden. Sie wirkt anziehend auf Antisemit:innen und ist unwillig, sich von diesen zu lösen. Die Ablehnung der BDS-Kampagne hat wiederum, so Mendel „ein Eigenleben entwickelt, oder besser: Er wird mal von der israelischen Regierung, mal von Rechten zweckentfremdet. […] Sie ist zu einer Gesinnungs- und Identitätsfrage geworden.“ (S. 77)

Mendel legt mit dieser Argumentation einen wichtigen Aspekt offen, der in der heftig geführten Debatte um die BDS-Bewegung untergeht: Dass sowohl durch extremistische Terrorgruppen wie die Hamas, Boykott-Kampagnen der falschen Freunde vom BDS aber auch durch die als deutsche Gesinnungs- und Identitätsfrage inszenierte Ablehnung des BDS palästinensische Stimmen verstummen, denen Gehör zu schenken schon deshalb wichtig ist, weil es legitime Kritik an der israelischen Besetzung gibt und weil auch Palästinser:innen Orte und Gelegenheit der Argumentation und Artikulation benötigen. Dass von den rund 200.000 in Deutschland lebenden Palästinenser:innen im öffentlichen und medialen Diskurs so gut wie niemand vernehmbar ist, dafür nennt Mendel drei Erklärungsansätze: (1) eine fehlende intellektuelle Elite, (2) eine schwierige Ausgangsposition für akzeptierte fundamentale Kritik aus palästinensischer Sicht sowohl an Israel als auch (3) an der korrupten und terroraffinen Führung der Palästinenser in Gaza und dem Westjordanland (S. 79).

Mendel reflektiert desweiteren die BDS-Resolution des Deutschen Bundestages vom Mai 2019 und die Debatten um den geplanten Auftritt Achille Mbembe auf der Ruhrtriennale 2020, die Kontroverse um und den Rücktritt des Direktors des Jüdischen Museums Berlin. Ausführlich beschreibt er die Kontroversen und mediale Rezeption der »documenta fifteen«, bei der er u.a. mit einem Team der Bildungsstätte Anne Frank einen Ort für Austausch und Debatte initiierte. Mendels Schlussfolgerung ist zuzustimmen, dass solange beide Lager in der Debatte der Überzeugung seien, jeder Israelboykott sei unterschiedslos immer Antisemitismus bzw. Boykott unterschiedslos immer ein legitimes Mittel des palästinensischen Kampfes und solange „in Deutschland beide Seiten den Konflikt zwischen Israel und Palästinensern nur als Projektionsfläche nutzen, um ihre eigene moralische Überlegenheit zur Schau zu stellen, wird keine aufgeklärte Diskussion möglich sein“. (S. 111)

Wie eine solche sachliche Diskussion zu Israel zu führen wäre? Darauf antwortet Mendel mit einem auf die deutsche Debatte über Israel abgewandelten Zitat der afroamerikanischen Dichterin Pat Parker: „Erstens, vergiss, dass Israel nach Auschwitz entstanden ist. Zweitens, vergiss nie, dass Israel nach Auschwitz entstanden ist.“ Und fügt im letzten Satz seines Buches hinzu: „Wer sich darüber beklagt, dass diese Forderung so entsetzlich widersprüchlich ist, hat damit verdammt recht.“ Wie mit diesen Widersprüchen umgegangen werden könnte, hat Meron Mendel auf den vorherigen 185 Seiten klug aufgefächert.

Mendel, Meron: Über Israel reden. Eine deutsche Debatte, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023 (ISBN: 978-3-462-00351-2)

Ott, Monty/Gerczikow, Ruben: „Wir lassen uns nicht unterkriegen“ Junge jüdische Politik in Deutschland, Hentrich & Hentrich, Berlin - Leipzig 2023 (ISBN: 978-3-95565-557-0)

Tarach, Tilman: Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus, Edition Telok, Berlin & Freiburg, 2022 (ISBN: 978-3-9813486-4-4)

Ullrich, Peter et al (Hrsg.): Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft., Studien zu Ressentiments in Geschichte und Gegenwart hsrgg. vom Zentrum für Antisemitismusforschung, Bd. 8, Wallstein Verlag, Göttingen 2024 (ISBN: 978-3-8353-5070-0)

Zentralrat der Juden in Deutschland (Hrsg.): Glaubensspuren. Jüdische, muslimische und christliche Lebensrealitäten in Ostdeutschland, Denkfabrik Schalom Aleikum Buchreihe Bd. II, Hentrich & Hentrich, Berlin - Leipzig 2023 (ISBN: 978-3-95565-632-4)

Der Autor ist Beauftragter der Thüringer Landesregierung zur Förderung jüdischen Lebens und die Bekämpfung des Antisemitismus
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

Benjamin-Immanuel Hoff

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