Vom Leben als Speerspitze

Leben Was es bedeutet, als Student in Berlin mit aggressiver Gentrifizierungskritik konfrontiert zu sein

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Vom Leben als Speerspitze

Foto: Jan Jasper Kosok

Immer mehr Menschen strömen nach Berlin, das mit Vielfalt, niedrigen Lebenshaltungskosten, alternativem Leben und kulturellem Angeboten lockt. Alteingesessene Berliner laufen dagegen Sturm. Was bedeutet es, als Student den Prozess zu befeuern, der den Zorn hervorruft?

Knapp 10 Millionen Besucher zog es im letzten Jahr nach Berlin, das sind 9 % mehr als im Jahr davor. Kein Zweifel, Berlin ist beliebtes Reiseziel, und die Touristen kommen nicht nur, um Reichstag und Stelen zu besuchen, sondern auch wegen der In-Viertel wie Kreuzberg oder Friedrichshain. Die Folge: Wie die Pilze schießen hier Hostels aus dem Boden und den Gästen schlägt zuweilen Derberes als die Berliner Schnauze entgegen. So berichtete die „Jungle World“, dass es im mitten in Kreuzberg gelegenen Café Marx, unglücklicherweise Nachbar eines solchen Hostels, Praxis sei, von Touristen für alles 20% mehr zu verlangen. Doch was bedeutet es, Menschen aus verschiedensten Ländern aufgrund der Tatsache, dass sie Berlin besuchen, mit Sanktionen zu belegen? Ein schlaue Rechnung fürs Café? Diskriminierung? Oder einfach schlechter Stil? Zu Berlin als einer weltoffenen, vielfältigen Stadt passt zumindest nichts davon.

Trotzdem: Man kann die Gereiztheit der Anwohner, die selbst gern Gäste im Café Marx sind, schon verstehen. Wo Touristen sind, geht’s hoch her, es wird gelacht, gelärmt, gefeiert – alles schön und gut, schließlich machen Berlinbesuche eben nicht nur Dom oder Checkpoint Charlie aus, sondern das echte Berliner Leben (oder das, was andere dafür halten). Doch die Relikte nach durchzechten Nächten reichen von kaputten Flaschen bis zu weitaus Unappetitlicherem, in das dann auch die Bewohner treten. Und dass die wiederum nicht selbst zum begafften Objekt werden wollen, ihr Lebensstil zur Attraktion, steht fest. Genau darauf zielt denn auch die Erklärung von Nina Warneke, Betreiberin des Café Marx, gegenüber der "Jungleworld". Für sie gehe es nicht um Ausgrenzung der Touristen, sondern um den Schutz der Bewohner des Kiezes.

Vom Einzelfall zum Problem der Gentrifizierung

Doch wer ist echter Berliner, richtiger Kreuzberger, wahrer Kiezbewohner? Wie viele Jahre Kiez-Erfahrung muss man auf dem Buckel haben, um dazuzugehören? Gilt nur der, der in Berlin geboren ist, das Urgestein, als echter Berliner? Wer legt solche Kategorien fest? Schon ist man mittendrin in einem Thema, das weiter geht als der Aufreger um die zweifelhaften Praktiken eines Cafés. Es wird gerade dann wichtig, wenn man neu nach Berlin zieht. Das Schlüsselwort, das in dem Zusammenhang stets zitiert wird, heißt Gentrifizierung. Welche Rolle spielt dabei der Einzelne? In dem Falle: der frisch zugezogene Student, der frisch gebackene „Berliner“?

Als ich nach Berlin zog, um dort zu studieren, kamen mir Menschen mit T-Shirts entgegen, auf denen stand: „Du bist kein Berliner“. Und natürlich überliest keiner Graffities wie „Raus aus dem Kiez“ oder „Touristen fisten“, auch ich nicht, im Gegenteil: Irgendwie fühlte ich mich persönlich angegriffen, mehr noch, solche Bekundungen bereiten mir ein schlechtes Gewissen. Denn auch wenn die meisten Bewohner meines Viertels freundlich und offen sind und keiner mit solchen Angriffen zu tun hat, auch wenn derlei Parolen als eine Art „Negativ-PR“ für das Viertel gemeint sein mögen – unterm Strich machen sie zu schaffen und sind für den Betroffenen von schlichter Fremdenfeindlichkeit kaum zu unterscheiden.

Als Student nach Berlin zu ziehen bedeutet darum auch, sich mit diesen „Vorwürfen“ auseinanderzusetzen, seien die Parolen auch noch so plump. Denn der Zorn der Anwohner richtet sich nicht nur gegen Immobilienhaie und die Reichen, die in Premium Immobilien beispielsweise am Paul-Lincke-Ufer residieren, sondern genauso gegen Studenten, Kreative, Künstler, die sich in Kreuzberg oder Neukölln auf der Suche nach günstigem Wohnraum niedergelassen haben. Durch diesen Zuzug wird die Gentrifizierung in Gang gebracht: Die Viertel werden attraktiver, die Nachfrage steigt, Investoren interessieren sich, neue Cafés, Bars oder kleine Galerien werten das Viertel zusätzlich auf, Mieten werden angehoben, wer nicht zahlen kann, wird verdrängt – auch wir Studenten sind Teil der Speerspitze, auch wir Studenten sind Teil eines Prozesses, den keiner will, der aber unaufhaltsam zu sein scheint. Dennoch ist das Mittel der plumpen Parole, die sich zuweilen noch vor dem Phänomen der Gentrifizierung an sich aktiv gegen Besucher und Zugezogenen richtet, falsch. Es führt nicht weiter. Die Problemanalyse kommt irgendwie konservativ und provinziell daher.

Um noch mal auf den Einzelfall zurückzukommen: Studenten, sogar die aus wohlhabenden Städten wie München oder Stuttgart, sind selten zahlungskräftig. Das fünfte Café in der Straße wollen sie so wenig wie die Anwohner. Erst recht wollen sie keinen verdrängen. Was hier greift, sind die Folgen eines Systems, das auf Profit zielt und auf Einzelschicksale keine Rücksicht nimmt. Es ist das Prinzip von Angebot und Nachfrage.

Was tun?

Kein Mensch will gerne verdrängt werden und nicht jeder verdrängt gern. Das Problem eines hart umkämpften Wohnungsmarktes, den andere Städte wie Hamburg oder München längst kennen, war in Berlin bislang keines. Der hohe Leerstand an Wohnungen, nicht zuletzt aufgrund der Teilung der Stadt, bot Platz für alle. Das ist inzwischen anders, das ist neu, entsprechend ist der Abwehreflex stark – doch was bedeutet das für den Zugezogenen? Soll der Neu-Berliner in spe, nur um nicht Teil dieses Mechanismus zu werden, bleiben, wo er herkommt? Und was wird mit Berliner Studenten, die innerhalb Berlins das Viertel wechseln, zum Beispiel nach Kreuzberg ziehen? Heißt es dann eines Tages „Berliner, raus aus unserem Kiez!“? 2011 gab es in Berlin 153.000 Studenten – wo sollen die hin? Die können sich gar nicht so weit verteilen, dass sie nicht an irgendeinem Ort in Berlin Teil den Prozess befeuern oder neu in Gang bringen würden.

Bleibt also nur die Möglichkeit, das herrschende Verwertungssystem, das Gewinn vor sozialer Durchmischung und Ausgewogenheit an erste Stelle setzt, auf allen Ebenen und differenziert zu kritisieren. Auch auf die Gefahr hin, dass einem eventuell erzwungene Reformen zum Nachteil gereichen. Dabei darf man seine Rolle aber nicht vergessen. Denn als Student genauso flach gegen die Gentrifizierung allgemein zu wettern, wäre vermessen und extrem zweischneidig, und keinen Deut besser als die Kritik, die man zurecht als zu kurz greifend empfindet. Seine Rolle zu verleugnen wäre naiv und man büßte zurecht jede Glaubwürdigkeit ein.

Es gibt bereits Strömungen, die versuchen einen solchen konstruktiveren Weg zu gehen, die sich von allzu einfach gemachtem Widerstand distanzieren und lieber nach sinnvolleren Lösungswegen suchen. Die Hipster Antifa Neukölln etwa, die durch „bewusste Aufwertung“ Viertel lebenswerter machen und gleichzeitig gegen steigende Mieten vorgehen will. Druck auf die Stadtpolitik auszuüben ist eine weitere Möglichkeit, wie es das Protestcamp am Kotbusser Tor tut. Denn die Politik Berlins entscheidet über Mietobergrenzen wie über Privatisierung. Sie kann die soziale Durchmischtheit am ehesten regeln und könnte versuchen zu verhindern, dass Orte wie die Cuvry-Brache nun anscheinend doch geräumt werden müssen. Und das Schönste ist: Sie könnte auch Einfluss auf die Hostellandschaft nehmen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin Knödler

Product Owner Digital, Redakteur

Benjamin Knödler studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). Neben seinem Studium arbeitete er als Chefredakteur der Studierendenzeitung UnAufgefordert, als freier Journalist, bei Correctiv und beim Freitag. Am Hegelplatz ist er schließlich geblieben, war dort Community- und Online-Redakteur. Inzwischen überlegt er sich als Product Owner Digital, was der Freitag braucht, um auch im Netz viele Leser:innen zu begeistern. Daneben schreibt er auch weiterhin Texte – über Mieten, Stadtentwicklung und Podcasts. Er ist außerdem Co-Autor zweier Jugendbücher: Young Rebels (2020) und Whistleblower Rebels (2024) sind im Hanser Verlag erschienen.

Benjamin Knödler

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden