Vor 30 Jahren, zum 1. Januar 1994, trat die Bahnreform in Kraft: Aus der Bundesbahn in West- und der Reichsbahn in Ostdeutschland wurde die neu gegründete Deutsche Bahn AG (DB AG).
Diese sollte zukünftig als eines von vielen Unternehmen im Markt agieren. In der Privatisierungseuphorie der 1990er Jahre erwarteten viele dadurch reine Wunder: mehr Verkehr in besserer Qualität bei gleichzeitig niedrigeren Preisen und mit geringeren Zuschüssen des Staates. Der Bundestag hatte dieser Reform mit einer überwältigenden Mehrheit von mehr als 97 Prozent der Abgeordneten zugestimmt.
Der Nahverkehr ist attraktiver geworden
Dreißig Jahre später fällt die Bilanz allerdings sehr durchwachsen aus. Wirklich positiv hat sich vor allem der Nahverkehr auf der Schiene e
hverkehr auf der Schiene entwickelt, für den seit der Bahnreform die Länder oder von ihnen beauftragte Verkehrsverbünde zuständig sind. In vielen Regionen ist der Nahverkehr seitdem wesentlich dichter sowie attraktiver geworden und auch oft besser mit dem lokalen öffentlichen Verkehr verknüpft. Der Grund dafür ist neben der regionalen Verantwortung vor allem die gute Finanzierung, die der Bund den Ländern über die Regionalisierungsmittel zukommen lässt. Dadurch ist der Personenverkehr auf der Schiene um fast ein Drittel gewachsen. Und der Güterverkehr hat sich sogar fast verdoppelt, weil engagierte Güterverkehrsunternehmen neue Transporte auf die Schiene gebracht haben.Das sind aber leider auch schon die wesentlichen Erfolgsmeldungen. Denn trotz des Mengenwachstums hat sich der Marktanteil der Bahn leider kaum erhöht. Nur 8,9 Prozent des Personen- und 19 Prozent des Güterverkehrs laufen auf der Schiene, während noch immer der weit überwiegende Teil über die Autobahnen rollt – ein Ergebnis einer weiterhin dem Straßenverkehr extrem freundlich gesinnten Verkehrspolitik.Stillgelegte GleiseZudem ist auch noch das Gleisnetz geschrumpft: Seit der Bahnreform sind rund zwölf Prozent der Gleise stillgelegt worden, viele Orte wurden dadurch vom Schienennetz abgekoppelt – das verbleibende Netz ist mit dem wachsenden Verkehrsaufkommen zunehmend überlastet. Erschwerend wirkt ein Stau bei der Instandhaltung, der sich inzwischen auf geschätzte 80 bis 100 Milliarden Euro summiert. Darauf geht zurück, wenn es immer wieder zu Störungen und kurzfristigen Sperrungen kommt oder Züge langsamer fahren müssen. Zudem wurden auch noch mehr als die Hälfte der Weichen ausgebaut, um damit Geld für die Instandhaltung einzusparen. Unter Hartmut Mehdorn, Vorstandschef der Deutschen Bahn AG zwischen Dezember 1999 und April 2009, wurden sogar Prämien für solche Stilllegungen ausgelobt.80 Prozent der Bahnhöfe verkauftDas Ergebnis ist ein Schienennetz mit geschrumpfter Kapazität und weniger Flexibilität, denn ohne eine Ausweichstelle kann ein ICE einen langsameren Güter- oder Regionalzug über viele Kilometer nicht überholen. Weggespart wurden auch Notfallkapazitäten wie Abschlepploks, Ersatzzüge oder Schneefräsen. Der Rückzug betraf auch die Bahnhöfe: Seit der Bahnreform wurden mehr als 80 Prozent der Bahnhofsgebäude verkauft, und es ist Glückssache, ob eine engagierte Kommune eines übernommen und zu einer Mobilitätszentrale ausgebaut hat oder ob ein Spekulant es verrotten lässt. Der Verkauf Tausender ehemaliger Eisenbahnerwohnungen schuf im Übrigen die Grundlage für die großen Wohnungskonzerne, die heute häufig in der Kritik stehen. Trotz dieser Verkäufe hat der 1994 schuldenfrei gestartete DB-Konzern inzwischen Ausstände von fast 40 Milliarden Euro angehäuft.Nach 30 Jahren lässt sich bilanzieren: Die rein betriebswirtschaftliche Ausrichtung der DB AG und besonders des Netzes hat sich in vielerlei Hinsicht nicht bewährt. Die Folgen erleben die Bahnreisenden inzwischen täglich. Die Zahl der Verspätungen und ausfallenden Züge hat 2023 ein neues Rekordhoch erreicht. Das ist keine gute Werbung für die dringend notwendige Mobilitätswende. Noch schlimmer betrifft es die Güteverkehrsbetreiber: Sie können Transportaufträge aufgrund fehlender Schienenkapazitäten teilweise nicht annehmen, und ihre Züge haben manchmal tagelange Verspätungen. Das verhindert eine weitere Verlagerung von Transporten auf die Schiene, die klimapolitisch dringend geboten wäre.Immerhin ist das Problem inzwischen in der Politik angekommen: Es ist unstrittig, dass es neben mehr Geld eine bessere Struktur braucht, um das Schienennetz vorausschauend instand zu halten und zügig auszubauen. Die Lösung soll die neue „InfraGO“ bringen, die zum 1. Januar 2024 gegründete gemeinwohlorientierte Infrastruktursparte innerhalb der Deutschen Bahn AG. Dafür wurden die bestehenden Tochterunternehmen DB Netz und DB Station & Service zusammengelegt. Leider wird die neue Struktur alleine das Problem der Netzinstandhaltung aber noch nicht lösen, da weiter im Nebel bleibt, was diese neue Gesellschaft denn nun genau leisten soll. Es fehlt eine Steuerung durch politisch vorgegebene strategische Ziele. Liefert die Regierung diese nicht zügig nach, besteht die Gefahr, dass es so weitergeht wie bisher – nur unter neuem Namen.Die Frage des Geldes nach dem Haushalts-UrteilMit der Finanzierung sah es bis Mitte November noch gut aus: Für 2024 und die Folgejahre waren deutlich mehr Mittel als bisher für die Instandhaltung des Schienennetzes vorgesehen, viele Milliarden sollten dafür aus dem Klima- und Transformationsfonds (KTF) kommen. Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum KTF im November 2023 ist ein großer Teil jedoch plötzlich weggebrochen.Einzelne FDP-Politiker stellten die Instandsetzung des Schienennetzes daraufhin zugunsten der Schuldenbremse wieder grundsätzlich infrage. Doch der Großteil der Koalition scheint weiterhin zur Bahn zu stehen und sucht fieberhaft nach anderen Quellen für die notwendigen Milliarden – Ausgang bislang offen.Ein Teil der Mittel soll zusätzlich aus dem Verkauf der DB-Tochterunternehmen Arriva und Schenker Logistics kommen, die noch von der gescheiterten „Global Player“-Strategie der Bahnchefs Mehdorn und Rüdiger Grube (Mai 2009 bis Januar 2017; heute Aufsichtsratsvorsitzender der Vodafone GmbH) übrig geblieben sind. Damit trennt sich die DB AG von ihren internationalen Ambitionen im Personenverkehrs- und Logistikmarkt – eine sinnvolle Rückbesinnung auf ihr eigentliches Kerngeschäft. Letztlich werden diese gescheiterten Träume von der Entwicklung zu einem Weltkonzern unter dem Strich viele Milliarden Euro gekostet haben.Infrastrukturfonds in der Schweiz und in ÖsterreichDie aktuelle Finanzunsicherheit ist besonders groß, aber auch sonst hängt die Bahn bislang jedes Jahr von wechselnden Prioritäten der Haushaltspolitik ab. Baumaßnahmen am Schienennetz müssen aber sehr langfristig geplant werden, erst recht Ausbaumaßnahmen zur Kapazitätserweiterung – inklusive der rechtzeitigen Gewinnung von Personal zur Planung und Umsetzung oder der Anschaffung von Maschinen durch die Baufirmen. Notwendig sind daher eine längerfristig verlässliche Finanzierung und eine Zusammenführung der bisherigen Fördertitel mit ganz unterschiedlichen Logiken.In der Schweiz und in Österreich bewähren sich zu diesem Zweck Infrastrukturfonds, die den dortigen Bahnen eine Planungssicherheit über zwölf beziehungsweise sechs Jahre geben – abgesehen von der insgesamt vier- beziehungsweise dreimal besseren Finanzierung bezogen auf die Bevölkerungszahl. Solche Fonds bräuchte es dringend auch in Deutschland, um damit dann endlich den Instandhaltungsstau aufzulösen und mit dem notwendigen Ausbau voranzukommen.Um die vielen anstehenden Baumaßnahmen im Netz zu bündeln und zu verhindern, dass Strecken mehrfach gesperrt werden müssen, sollen noch in diesem Jahr die sogenannten Korridorsanierungen beginnen: Ganze Streckenabschnitte werden über Monate komplett gesperrt, was für den Bahnverkehr massive Einschränkungen bedeutet: Viele Fahrgäste werden in langsameren Ersatzbussen unterwegs sein, und die Güterverkehrsunternehmen müssen teilweise Hunderte von Kilometern an Umwegen in Kauf nehmen.Hochleistungsnetz und Deutschland-TaktDafür soll aber ein „Hochleistungsnetz“ entstehen, bei dem dann für lange Zeit keinerlei Sperrungen mehr notwendig seien. In Anbetracht des Sanierungsstaus ist dieser schmerzhafte Weg wohl unausweichlich, sollte aber die Ausnahme bleiben und zukünftig wieder durch das „kapazitätsschonende“ Bauen mit kurzzeitigen Sperrungen einzelner Gleise ersetzt werden, um Fahrgäste und Transporteure nicht dauerhaft zu verschrecken.Die Herausforderungen für das System Bahn bleiben immens – auch aufgrund des politischen Desinteresses und der fehlenden Steuerung des Bundesunternehmens DB AG in den vergangenen 30 Jahren. Wir brauchen die Bahn aber dringender denn je als Rückgrat eines zukünftigen klimaschonenden Verkehrs, der sich immer weniger in der Luft und auf der Straße abspielen darf.Immerhin gibt es mit dem Deutschlandtakt eine Vision, wie ein dichter, vernetzter und zuverlässiger Bahnverkehr im ganzen Land zukünftig aussehen könnte. Doch dafür braucht es endlich eine konsequente verkehrspolitische Prioritätensetzung und eine Bahn, deren oberstes Ziel ein guter Schienenverkehr im ganzen Land ist.Placeholder infobox-1