Zugfahren Dass der Bereich Verkehr seine Klimaziele verfehlt, liegt auch daran, dass wir lieber Autobahnen bauen anstatt in den Schienenverkehr zu investieren. Das muss sich endlich ändern
Deutscher Nah- und Fernverkehr: Zeit für eine Weichenstellung
Foto: Imago/Gottfried Czepluch
Das vergangene Jahr war kein gutes für die Bahn: Ja, kurzzeitig herrschte Euphorie über das Neun-Euro-Ticket, aber ansonsten dominierten in der Berichterstattung über den Schienenverkehr die Probleme: Verspätungsrekord, Baustellenchaos, überfüllte Züge, und besonders die Güterverkehrsunternehmen ächzten unter dem überlasteten Netz, das nicht allen Zügen Platz bietet. Was ist da los auf der Schiene, die doch eigentlich der Verkehrsträger einer klimafreundlichen Zukunft sein soll?
Was wir gerade erleben, sind die Folgen jahrzehntelanger Versäumnisse – von ambitionslosen Verkehrsministern (eine Berufsbezeichnung, die bislang nicht gegendert werden muss!) und von Bundes- und Landesregierungen, die nur in Sonntagsreden ü
den über eine Verkehrswende sprechen und ansonsten ihre autozentrierte Verkehrspolitik unverändert fortsetzen.Seit mehreren Jahrzehnten wissen wir vom Klimawandel und den Grenzen des Wachstums. Doch der Verkehr ist der einzige Sektor, der seine klimaschädlichen Emissionen seit 1990 nicht einmal ansatzweise reduziert hat. Immer weitere Autobahnen und Flughäfen werden gebaut, als gäbe es kein Morgen. Das Weiterwachsen des Verkehrs wird als unveränderbar betrachtet, obwohl es die Folge genau dieser Infrastrukturpolitik ist. Schlimmer noch: Verkehrswachstum wird sogar mit Wohlstandsgewinn gleichgesetzt, als würde immer mehr Auto-, Lkw- und Luftverkehr nicht neben dem Klima noch viele weitere Schäden für Mensch und Natur verursachen – von Lärm über Luftverschmutzung und Flächenversiegelung bis hin zu Tausenden Unfalltoten und -verletzten.Nur ausgerechnet die Schiene, die unstrittig der klima- und umweltschonendste motorisierte Verkehrsträger ist und über die im Sinne der Verkehrsverlagerung eigentlich zukünftig noch wesentlich mehr Verkehr laufen müsste, wurde unterm Strich zurückgebaut: Seit Anfang der 1990er Jahre ist das deutsche Schienennetz um 15 Prozent geschrumpft, während der Verkehr auf diesem Netz um mehr als 50 Prozent zugenommen hat. Zahlreiche neuralgische Streckenabschnitte sind seit Jahren als überlastet bekannt, aber daraus folgt in der Regel: nichts.Dazu kommt ein Instandhaltungsrückstau im bestehenden Netz, der inzwischen auf 50 bis 100 Milliarden Euro geschätzt wird. Über viele Jahre wurde zu wenig investiert, die Erneuerung vieler Gleise, Brücken und Tunnel ist inzwischen überfällig. Auch wenn gerne die Digitalisierung der Schiene beschworen wird, werden Züge auf einigen Strecken noch mit mechanischen Stellwerken aus der Kaiserzeit gesteuert. Der Bund stellt zwar über die „Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung“ jedes Jahr mehr als sechseinhalb Milliarden Euro für die Instandhaltung des Schienennetzes zur Verfügung, doch in Anbetracht der steigenden Baupreise und des riesigen Nachholbedarfs reicht das nicht aus.2050 ist es zu spätEs ist Zeit, die Weichen umzustellen: Wenn wir eine ernsthafte Verkehrsverlagerung auf die Schiene schaffen wollen, muss nicht nur das bestehende Netz wieder instandgesetzt werden, sondern wir brauchen zudem eine Reihe von Ausbauprojekten. Im Bundesverkehrswegeplan 2030, dem Masterplan für die Verkehrsinfrastruktur, finden sich bereits viele sinnvolle Projekte für den Ausbau des Schienennetzes und für den zukünftigen Deutschlandtakt. Diese Projekte sind aber seit Jahren massiv unterfinanziert, was zu einer sehr, sehr schleppenden Umsetzung führt. Wenn die Bundesregierung das momentane Investitionstempo beibehält, wird die Umsetzung schon nur der im „vordringlichen Bedarf“ eingestuften Schienenprojekte noch fast 50 Jahre dauern – und das ist noch ohne weitere Baupreissteigerungen gerechnet. Umgekehrt gerechnet müssten die jährlichen Investitionen in das Schienennetz auf über zwölf Milliarden Euro pro Jahr versechsfacht werden, um den Bundesverkehrswegeplan ernst zu nehmen und diese Projekte tatsächlich bis 2030 fertigzustellen.Das klingt nach Traumtänzerei von Mobilitätswende-Aktivist:innen. Aber wäre es wirklich abwegig? Die meisten unserer Nachbarländer investieren schon heute wesentlich mehr in ihr Schienennetz: Luxemburg lässt sich die Bahninfrastruktur fast fünfmal mehr pro Einwohner:in kosten als Deutschland, die Schweiz dreieinhalbmal mehr. Wäre es da nicht Zeit für ein „Sondervermögen Bahn“, um die Schiene wirklich zum leistungsfähigen Rückgrat unseres zukünftigen Personen- und Güterverkehrs auszubauen?Schon mit einer klaren Prioritätensetzung hätten wir auch ohne zusätzliche Kosten wesentlich mehr Geld für die Schiene übrig: mit dem Verzicht auf die Erweiterung des Fernstraßennetzes – in Zeiten der Klimakrise ohnehin ein überfälliger Schritt. Noch immer investiert der Bund jährlich mehr als drei Milliarden Euro in den Neu- und Ausbau von Autobahnen und Bundesstraßen. Dadurch werden viele Quadratkilometer Natur zerstört und versiegelt sowie Millionen Tonnen klimaschädlicher Emissionen erzeugt. Dieses Geld stattdessen in den Ausbau der Schiene zu investieren, wäre schon mal ein sinnvoller Anfang.Die Koalitionsvereinbarung der Ampelregierung ist zwar nicht ganz so radikal, aber dort ist immerhin vorgesehen, mehr Geld in die Schiene als in die Straße zu investieren. Selbst dieses Versprechen wird aber gebrochen – ohne größeren Widerspruch der Koalitionsparteien. Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) warnt gar davor, den Koalitionsvertrag in diesem Aspekt umzusetzen: Wenn wir das Autobahnnetz nicht beständig weiter ausbauten, stünden wir bald vor leeren Supermarktregalen. Da aber Deutschland schon heute eines der dichtesten Autobahnnetze in Europa hat und es ja darum geht, einen großen Teil genau dieser Transporte auf die Schiene zu verlagern, darf man solche Warnungen wohl ähnlich ernst nehmen wie Wissings Aussage, dass die Einführung eines Tempolimits auf Autobahnen am Schildermangel scheitern müsse.Bei der Bahn machen es sich die Verkehrsminister hingegen gerne einfach: Sie laden die Bahnmanager immer wieder öffentlichkeitswirksam vor und fordern Verbesserungen. Sie schweigen jedoch über ihre eigene politische Verantwortung. Seit der Bahnreform von 1994 wird die Deutsche Bahn als Aktiengesellschaft geführt und soll „eigenwirtschaftlich“ Gewinne machen. Nur: Dann kann sie nicht zugleich gemeinwirtschaftliche Ziele verfolgen. Es ist es deshalb überfällig, dass die Bundesregierung wieder Verantwortung für den größten Staatskonzern übernimmt und der Bahn Leitlinien vorgibt. Welche Bahn wir brauchen, wie gut sie das ganze Land versorgen soll und was das kosten darf, ist eine politische, keine rein betriebswirtschaftliche Entscheidung.Wie passt aber die Forderung nach einem Ausbau des Schienennetzes und mehr Verkehr auf der Schiene mit der Notwendigkeit zusammen, das bislang ungebremste Verkehrswachstum zu stoppen? Eine klimafreundliche Mobilitätswende muss sich an drei Leitlinien orientieren: An erster Stelle muss Verkehr vermieden werden – unter anderem durch einen Stopp der Zersiedlung und möglichst nahräumliche Strukturen, aber auch durch die Verteuerung desjenigen Verkehrs, der die meisten Schäden verursacht. Stattdessen subventionieren wir diesen in Milliardenhöhe durch das Dienstwagenprivileg, die Dieselsteuervergünstigung, die Kerosinsteuerbefreiung oder die Entfernungspauschale für Pendler:innen.Warten auf den „Wow-Effekt“Aber auch mit einer Reduktion würde noch eine ganze Menge Verkehr bleiben – und dieser muss so viel wie möglich weg von der Straße und aus der Luft auf die Verkehrsträger des sogenannten „Umweltverbunds“ verlagert werden: Fuß- und Fahrradverkehr, öffentlicher Nahverkehr und für größere Entfernungen die Bahn. Die wachsende Nachfrage im Schienenverkehr und die Begeisterung für das Neun-Euro-Ticket zeigen, dass die Bürgerinnen und Bürger und viele Unternehmen längst bereit dafür sind – wenn sie denn könnten. Das Klima würde sich freuen: Die gleiche Reise verursacht mit der Bahn weniger als ein Drittel der klimaschädlichen Emissionen, die beim Auto entstehen, der Transport mit dem Güterzug gegenüber dem Lkw nur ein Siebtel. Fährt die Bahn mit Strom aus erneuerbaren Energien, vervielfacht sich dieser Vorsprung noch. Nur die dritte Priorität – für den verbleibenden Verkehr – sollte das sein, worum sich die Verkehrspolitik heute fast ausschließlich dreht: technische Verbesserungen und Effizienzmaßnahmen wie die Elektrifizierung des Autoverkehrs.Diese Prioritätensetzung lässt sich übrigens nicht nur ökologisch, sondern auch volkswirtschaftlich begründen: Wir sparen mit der Vermeidung und Verlagerung nicht nur Milliarden an Klimafolgen, sondern auch für die Instandhaltung. Jeder Lkw setzt den Autobahnen und Bundesstraßen massiv zu und verursacht immense Instandhaltungskosten – Züge hingegen nur einen Bruchteil. Und im Schienenverkehr ist das Unfallrisiko im Vergleich zur Straße mehr als fünfzig Mal geringer.Nun werden Kritiker einwenden: Aber das kostet doch alles irre viel Geld. Das stimmt nicht: Denn es braucht nicht überall milliardenteure Neubaustrecken für höchste Geschwindigkeiten. Oft können mit Ausbaumaßnahmen entlang bestehender Strecken fast ebenso gute Verbindungen bei geringerem Naturverbrauch und mit wesentlich niedrigeren Kosten erreicht werden. Streckenreaktivierungen bringen die Bahn zurück in die Fläche und schaffen Ausweichrouten. Statt höchster Geschwindigkeiten auf wenigen Strecken müssen robuste Fahrpläne mit verlässlichen Umstiegen im Fokus stehen.Oft bringen überschaubare Maßnahmen wie zusätzliche Gleise, Ausweichstellen und Weichenverbindungen, Elektrifizierungen oder moderne Stellwerke schon viel für die Kapazitätserhöhung und Entzerrung des Verkehrs und damit einen stabilen Betrieb bei wachsendem Verkehr. Und wenn dabei gezielt Ausweichstrecken für alle wichtigen Hauptstrecken ertüchtigt werden, sind nicht nur die vielen Baustellen in der Instandsetzungsphase besser verkraftbar: Auch bei unvorhergesehenen Ereignissen wird die Bahn so robuster.Eine schnelle Lösung für die Krise der Bahn gibt es leider nicht. Jahrzehntelange verkehrspolitische Versäumnisse lassen sich nicht auf einen Schlag aufholen. Die amtierende Bundesregierung und der zuständige Minister lassen bisher aber kaum die Absicht erkennen, die Weichen endlich so zu stellen, damit die Bahn den lange versprochenen „Wow-Effekt“ bekommt.
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