Physische und seelische Versehrungen erfordern Zeit, zur Kommunizierbarkeit genauso wie zur Heilung. Sie bedürfen einer Atmosphäre des Zulassen-Könnens. Dieses Bedürfnis geht an der Aufmerksamkeitsindustrie der sozialen Netzwerke vorbei. Gelebt wird das Feel-good-Paradigma, das, was der Kulturkritiker Byung-Chul Han „Positivgesellschaft“ nennt. „Nicht nur die Kunst, sondern das Leben hat instagrammable zu sein.“
Angesichts dessen gleicht Schmerz einem lästigen Stimmungskiller. Und dort, wo er dennoch Präsenz zeigt, wird er sogleich umcodiert. Schnappschüsse von Beerdigungen oder aus dem Krankenbett liegen im Trend. Warum? Weil man den Schmerz mit anderen teilen will? Möglicherweise. Aber vielleicht geht es auch gerade darum, de
darum, den Schmerz nicht Schmerz sein zu lassen, indem man ihn medialisiert und zu einer Art Ausstellungsobjekt deklariert. Hauptsache, er ist fern.Dieses Diktum gilt insbesondere für die auf Effizienz ausgerichtete Arbeitswelt, in der sich der Schmerz nicht einhegen lässt. Denn er erweist sich weder als konkurrenzfähig noch als tauschbar. Er ist nicht schön, glatt und transparent, sondern kantig, unbiegsam, störrisch, passt nicht ins Korsett der Leistungsgesellschaft. Kranke erliegen daher oft einer subjektiv empfundenen Nutzlosigkeit. Deutlich tritt hierbei eine kognitive Dissonanz aus „Seinmüssen, aber Nicht-sein-Können“ zutage, wie der Mediziner Boris Wandruszka festhält. Insbesondere das mit Letzterem verbundene Gefühl der eigenen Minderwertigkeit wird durch den spätmodernen Kapitalismus massiv bestärkt.Auf perfide Weise muss er nicht einmal mehr auf frühere Formen der Versklavung und Gewalt zurückgreifen, um die Menschen auszubeuten. Das Ich des 21. Jahrhunderts, das sich als Arbeitsprojekt realisiert, bedarf nicht mehr einer äußeren Manipulation. Es hat die Ausbeutung internalisiert. Nichtsdestotrotz besteht die Belastung durch die Arbeit fort. Die Folgen: Vereinzelung und Einsamkeit.Sie zeigen sich auch auf privater Ebene, allen voran in der Tinder-Gesellschaft. Man operiert als Single gewissermaßen prophylaktisch, um sich vor Schmerz zu schützen. Man immunisiert sich gegen Schmerzen in zwischenmenschlichen Beziehungen. Mit der Vermeidung von Liebe als Verletzungsrisiko geht demnach die Ausblendung des Gegenübers als solches einher. Wer dem Schmerz aus dem Weg geht, kann ihn auch nicht verstehen. Erst recht nicht, wenn ein Gegenüber darunter leidet. In einer Gesellschaft der vornehmlich medialen Kommunikation lösen Hilfesuchen in uns nichts mehr aus.Der Verlust der SensibilitätDoch der Preis für diesen Schwund an Mitgefühl ist hoch. Wir verlieren nicht nur den Bezug zu Mitmenschen oder Mitwesen wie den Tieren, sondern ebenso den zu uns selbst. Innerliche Größe und Reife entstehen nicht aus sich heraus. Sie bedürfen der Lernprozesse, die einzig und allein auf Begegnungen zurückgehen. Mangelnde Empathie macht uns blind und trägt zur Verarmung unseres Bewusstseins bei.Indem der Sensibilitätsverlust sich im Einzelnen sowie in der Summe der Individuen zu erkennen gibt, fungiert er als gesamtgesellschaftlich wirksamer Faktor im biopolitischen Machtpoker. Bis zur Säkularisierung und zur zunehmenden Demokratisierung im auslaufenden 19. Jahrhundert trat der Schmerz vor allem als Mittel zur Disziplinierung in Aktion. Zu den drastischsten Erscheinungen zählen die Formen von Folter im Rahmen der Inquisition oder der mittelalterlichen Gerichtsbarkeit. Hinzu kommt die bis in die Moderne reichende „bürgerliche“ Erziehung durch Züchtigung.Eine Weitertradierung der Anwendung von Schmerz zur Manifestation eines Herrschaftswillens findet nach wie vor bei religiösen Ritualen statt. Alan Morinis zufolge markiert der Schmerz häufig die Zäsur zwischen der noch unschuldigen Kindheit und der Reife zum Erwachsenenleben. Dazu sei es – aus Sicht der VertreterInnen dieser Praxis – nötig, ein Opfer zu erbringen, ja, selbst zum Opfer zu werden, indem ein punktuelles Trauma ausgelöst wird. Der archaische Kult setzt im Gegensatz zu anderen Mechanismen der Moderne eine begrenzte Öffentlichkeit voraus, da er häufig auch in Form von Festen zelebriert wird. Selbst wenn ein nicht geringer Teil jener Art von Biopolitik in unseren Hemisphären geächtet wird, ist sie als solche hierzulande nicht verschwunden.Zur Perfidie der systemischen Intervention in den Körper zählt, dass sie oder ihre Urheber oft nur indirekt sichtbar werden. Wenn, wie viele Studien belegen, Armut häufig mit einer kürzeren Lebenserwartung und einer höheren Rate an Krankheiten und damit Schmerzen korreliert, lässt sich nur schwer ausmachen, wer genau die Verantwortung für diese physischen Ausprägungen letzthin gesellschaftlicher Eingriffe trägt.Wo Politik den Körper zum Austragungsort ihrer Lenkung, Steuerung und Instrumentalisierung erklärt, bleibt dem Menschen nur noch der Rückzug in die Sphären des Geistes. Auf der Haut zeichnen sich Wunden ab, die aufklaffen und vernarben, im Bewusstsein bahnt sich Traurigkeit Raum. Die Gedanken erweisen sich als letztes Exil gegenüber einer biopolitischen Durchsetzungskultur. Nur, was verspricht uns diese Schwermut? Birgt sie ausschließlich Resignation oder kann sie uns auch einen Ausweg aus einem seiner Sinne beraubten Schmerzreigen weisen?Placeholder infobox-1