Die Aktualität antiker Dramen: König Ödipus leugnet den Klimawandel
Theater „Antigone“, „König Ödipus“, „Sieben gegen Theben“: Antike Dramen erfreuen sich nach wie vor großer Beliebtheit auf den Bühnen. Warum eigentlich?
Prognose: Weltuntergang. Thomas Hauser als König Ödipus am Schauspiel Stuttgart
Foto: Katrin Ribbe
Er wirkt kompromisslos und immer tödlich: der Fluch der Labdakiden, verhängt über Laios und, noch schlimmer, all seine Kinder. Nachdem der Theaterbetrieb Laios jahrhundertelang weitestgehend übersehen hat, sorgten jüngst Roland Schimmelpfennig und Karin Beier mit dem zweiten Teil ihrer Antiken-Serie Anthropolis am Deutschen Schauspielhaus Hamburg für späte Gerechtigkeit. In der altertümlichen Sage noch zum Herrscher über Theben avancierend, fungiert er in der mit sichtlich satirischem Impetus gestalteten Neuadaption lediglich noch als Spitzenkandidat eines SPD-Ortsvereins. Warum ihn und seine Nachkommen Übles erwartet, hängt nicht zuletzt mit einer verbrecherischen Tat (und damit Schuld) zusammen. Der Legende zufolge hat er Chrysippos,
d damit Schuld) zusammen. Der Legende zufolge hat er Chrysippos, den Sprössling des Pelops, aus Knabenliebe entführt. Das Urteil durch das Orakel von Delphi folgte prompt: Sein eigener Sohn würde Laios irgendwann töten. Mit diesem Menetekel setzt sich die früheste und vielleicht auch blutigste Soap der Geschichte in Gang, woraus sich der Stoff für die uns heute noch bekannten Dramen, allen voran des Sophokles, nährt.Nur, was reizt uns eigentlich heute an diesen alten Tragödien, die von archaischen Prophetien bestimmt sind? Warum erfreuen sie sich auch auf den Spielplänen noch immer großer Beliebtheit?Zuvorderst fällt die Reichweite und Gültigkeit der Strafe über Laios auf. Der Zweite, den es nach dem König über Theben treffen wird, ist Ödipus. Er vermag es nicht, der Prophezeiung zu entkommen, wonach er seinen Vater töten und mit seiner Mutter Inzest begehen wird. Diese wählt daraufhin den Freitod, er selbst sticht sich die Augen aus und geht ins Exil. Dass sich im weiteren Verlauf auch noch seine Söhne im Kampf um Theben gegenseitig umbringen werden, belegt die Unerbittlichkeit des Fluches.Der Klimawandel als unerbittlicher FluchEin solcher Fluch manifestiert sich im 21. Jahrhundert als Resultat einer lange währenden Ära aus Dekadenz und Egoismus. So wie Ödipus und seine Kinder unschuldig schuldig werden, weil ihre Ahnen achtlos handelten, haben unsere Nachkommen mit den Effekten der Umweltzerstörung zu tun. Genau diese Assoziation aufgreifend, überschrieb zuletzt Thomas Köck den antiken Stoff. forecast:ödipus, uraufgeführt von Stefan Pucher am Schauspiel Stuttgart, rückt allerdings statt der verfluchten Titelgestalt die Mahnerin Pythia ins Zentrum. Im Wissen um den Klimawandel fordert sie eine politische Kehrtwende. Doch weder der die Wohlstandsbourgeoisie repräsentierende bräsige Chor noch der zum Zyniker verkommene Seher Teiresias sind an der Änderung der Verhältnisse interessiert.Dabei lehrt König Ödipus in einer Epoche der Fake News den hehren Wert der Wahrheit: „Io! Geschlechter der Sterblichen! / Wie zähle ich euch gleich / dem Nichts, solange ihr lebt! / Denn welcher, welcher Mann trägt / mehr des Glücks davon / als Schein / und nach dem Schein den Untergang?“, fragt der Chor. Im Trug macht er also nur ein vermeintliches Wohl aus. Erst der Fall verdeutlicht die schmerzhafte Dimension unbezweifelbarer Gewissheit. In der jüngsten Inszenierung des Textes am Theater Regensburg durch Jasper Brandis erscheint Ödipus ganz mit moderner Gesinnung. Was ihm der Seher weissagt, will er einfach nicht wahrhaben. Er hält an der Lüge fest – bis er den Zwängen erliegt.Um die Frage, was echt und richtig ist und als unveräußerliches Gesetz gelten darf, dreht sich letztlich alles in diesem endlosen Familienkrimi. Es fällt auf, dass primär die Männer dieses Riesenspektakels immer meinen, im Besitz der Wahrheit zu sein. Allen voran in Aischylos’ Sieben gegen Theben treffen mit den Brüdern Eteokles und Polyneikes zwei prototypisch-machistische Terminatoren aufeinander, die im Ringen um den Thron, den sie ursprünglich abwechselnd besetzen sollten, keinen Meter von ihrer jeweiligen Position abweichen. Wer über die Aktualität der antiken Dramen nachdenkt, kommt an Patriarchatsdiskussion und Männlichkeitskritik nicht vorbei.Sophokles und die Kritik des PatriarchatsSchon früh haben die antiken Autoren die fatalen Auswüchse einer rein männlichen Machtkonzentration thematisiert. Stets geht es um Eigentum und Eroberung. Sei es der von Laios in Beschlag genommene Jüngling Chrysippos oder die Herrschaft über die Stadt – Testosteron erweist sich als eine Haupttriebfeder. Am meisten hat davon Kreon abbekommen, die Verkörperung des rüpelhaften Basta. Nachdem er die Regierungsgeschäfte in Theben an sich gerissen hat, wird sein Wort zum Gebot. Leicht lassen sich da Verbindungen zu modernen Diktatoren ziehen.Doch wer einen genaueren Blick auf den moralischen Konflikt in Sophokles’ Drama Antigone wirft, vermag auch Grauzonen wahrzunehmen – obwohl natürlich von Beginn an die Sympathie Kreons Gegenspielerin gilt. Allein ihr Motto „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da“ öffnet die Herzen der Zuschauer:innen, die zunächst mit nichts anderem als verbrannter Erde konfrontiert sind.Der Krieg ist vorüber, mit größten Verlusten. Indessen kommt dem einen Bruder ein öffentliches Begräbnis zu, wohingegen dem anderen, Polyneikes, aufgrund Kreons autoritärer Anordnung, die Bestattung versagt wird. Antigone widersetzt sich dem und begräbt Polyneikes, auf ein höheres Recht pochend: „Welch göttliches Gesetz hab ich verletzt?“Antigone, die feministische IkoneEs ist einsichtig, dass in dieser mutigen Frau eine Widerstandsheldin vom Schlage einer Sophie Scholl gesehen wird, eine, die einer unanfechtbaren Moral des Guten den Vorrang vor allen willkürherrschaftlichen Ambitionen gewährt. Noch heute wird sie so in deutschen Theatern dargestellt, zuletzt etwa eindrucksvoll in der Fassung von Leonie Böhm am Gorki Theater in Berlin. Die antike Heldin entpuppt sich in dieser Aufführung als feministische Ikone. Sie kämpft sich aus dem Schmutz männlicher Fremdbestimmung hervor, der sein Korrelat in Schlammtümpeln auf der Bühne findet. Antigones Prinzipien sind zeitlos.Doch nicht immer steht so schnell fest, was die richtige Haltung definiert. Nehmen nicht auch Reichsbürger für sich in Anspruch, über eine höhere Einsicht als die Allgemeinheit sowie eine der Bundesrepublik angeblich vorgelagerte Rechtsordnung zu verfügen? Wie legitim ist also ziviler Ungehorsam und hätte Antigone gar an der Seite von Terrorist:innen wie Ulrike Meinhof agiert? Ließe sich der am Ende bei Sophokles geläuterte Kreon möglicherweise doch noch in einer Neuinterpretation als staatliche Vernunft deuten? Die Autorin Anna Gschnitzer wird derlei Überlegungen ihrem Text Ich, Antigone zugrunde legen, der im Juni am Staatstheater Mainz Uraufführung haben soll.Je länger wir uns mit diesen so welthaltigen Texten befassen, desto differenzierter und uneindeutiger erscheinen sie uns. Auch aus diesem Grund hat es bisher keine Epoche unterlassen, immer wieder Sinn aus ihnen zu gewinnen.
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