Fast wäre ich zur Bundeswehr gegangen. Als 18-Jähriger saß ich dem Karriereberater des Militärs gegenüber, und er argumentierte meine Bedenken in Grund und Boden. Gerade für mich als Arbeiterkind, sagte er, sei die Offizierslaufbahn lukrativ, denn ein Anwärter studiere bei vollem Gehalt und erhalte nach zwölf Dienstjahren einen Beamtenstatus. Man lebe unabhängig vom Geldbeutel der Eltern, häufe keine BAföG-Schulden an und habe niemals Existenzsorgen.
Was gab es da noch zu grübeln? Nun ja, ich hätte meine politische Haltung über Bord werfen müssen. 2003, das war das Jahr der US-Invasion im Irak, und keine Antikriegsdemonstration in meiner Umgebung fand ohne mich statt. Auch den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan fand ich schrecklich. Jetzt aber stand ich kurz vor dem Abitur – und bekam es mit der Angst zu tun. Noch nie hatte jemand in meiner Familie diesen Schulabschluss erreicht, erst recht nicht studiert. Eigentlich, so dachte ich, habe ich an einer Universität nichts verloren. Diese Scheu wurzelte tief.
Ein Beispiel: Früher ließ der für meine Familie zuständige Mitarbeiter vom Jugendamt oft herabwürdigende Sprüche über uns fallen. Sein berühmtester: „Die Barons sind der Sozialhilfe-Adel.“ Damit traf er einen wunden Punkt. Er verbreitete das Vorurteil, die Armen seien immer aus eigenem Verschulden arm. Darum setzte er unser Dasein am Existenzminimum mit dem Leben dekadenter Fürsten gleich, die es sich auf Kosten der hart Arbeitenden bequem machen, anstatt selber zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu werden.
Kürzlich hat eine Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes bestätigt, was seit Jahren bekannt ist: In Deutschland hängt der Bildungserfolg sehr stark von der sozialen Herkunft ab. Kindertagesstätten und Schulen bauen die Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer nicht ab, sondern verfestigen sie. In allen Bundesländern ist der Übergang von der Grundschule zum Gymnasium an den formalen Bildungsgrad der Eltern geknüpft.
Aufstiegslast, Abstiegsangst
Laut Klemm hat ein Kind aus einer Akademikerfamilie bei gleichen kognitiven Fähigkeiten und gleicher Lesekompetenz eine 3,81-mal größere Chance auf eine Gymnasialempfehlung als ein Kind aus einer Facharbeiterfamilie. Aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil einen akademischen Abschluss hat, studieren 79 Prozent der Kinder. Aus Familien, in denen beide Elternteile keinen beruflichen Abschluss haben, sind es nur 12 Prozent.
Trotz der materiellen Verheißung der Bundeswehr habe ich etwas anderes studiert. Dass ich Journalist werden konnte, lag nicht an einem Talent. Es lag daran, dass ich viele Tausend Euro an Schulden in Kauf nahm, dass ich Unsicherheiten aushielt – vor allem aber lag es daran, dass ich die „richtigen“ Leute traf. Zufall und Mut statt Neugier und Bildungshunger. So läuft das in der Klassengesellschaft.
Wir sind viele, aber wir sind bislang kaum zu hören. Denn nicht wenige von uns schämen sich ihrer Herkunft wegen. Wenn diese Gesellschaft wieder zusammenwachsen will, dann muss sich das ändern. Kein Diversity-Konzept ist vollständig ohne die Dimension der sozialen Klasse. Wir müssen über die feinen Unterschiede reden. Und wir müssen über die wachsende Ungleichheit zwischen Arm und Reich sprechen. Dann entdecken wir vielleicht sogar Gemeinsamkeiten, wo wir sie derzeit nicht vermuten. Denn die Auswirkungen der Klassengesellschaft betreffen Frauen, Männer und Menschen mit Migrationsgeschichte gleichermaßen.
Die Betroffenen müssen sich zu Wort melden. Darum starten wir #unten. Welche Erfahrungen mit sozialer Abwertung haben Sie gemacht? Empfinden Sie Angst vor sozialem Abstieg? Wann spürten oder spüren Sie die Unsicherheit als soziale Aufsteigerin beziehungsweise sozialer Aufsteiger? Welche Erniedrigungen erleben Sie durch Ihre Vorgesetzten am Arbeitsplatz? Wo begegnen Sie im Alltag den Vorurteilen gegen „die Unterschicht“? Schreiben Sie uns einen Brief, kontaktieren Sie uns per Email oder nutzen Sie das Kontaktformular. Melden Sie sich mit einem eigenen Blog-Beitrag in der Freitag-Community zu Wort. Kommentieren Sie gleich hier auf Freitag.de oder in den Sozialen Netzwerken – äußern Sie sich bei Twitter.
Nutzen Sie dafür #unten.
Kommentare 24
Famose Idee :-))) Gibts schon eine Seite?
Schöner Beitrag. Kann ich den auf http://www.textland-online.de/index.php?article_id=1 setzen?
Schöner Beitrag. Kann ich den auf http://www.textland-online.de/index.php?article_id=1 setzen?
Wir bitten darum
"Eigentlich, so dachte ich, habe ich an einer Universität nichts verloren. Diese Scheu wurzelte tief."
Die ist nicht angeboren, diese Scheu. Die ist eingehämmert, eingeprügelt, oktroyiert, befohlen, propagiert, hineingefoltert in die Deutscher-Michl Existenz. Und das wird sie heute noch, auf täglicher Basis.
Warum schon wieder eine neue Sammlungsbewegung? Gleichgesinnte und Leidensgenossen mit einer sich entwickelnden Plattform findet man doch u. a. bei den #Aufstehern. Die politisch-sozialen Ursachen lassen sich nicht aus der "Zersplitterung" heraus beseitigen. Was empfahl damals schon der alte M.: Kapitalismusopfer aller Länder vereingt Euch, oder so ähnlich.
Soziale Diskriminierung, Menschenverachtung und Ausgrenzung wie Ausbeutung vieler Schichten der Bevölkerung sind nun einmal Urtugenden des Kapitalismus. Menschenliebe und soziale Kompetenz wohnen dem Kapitalismus dagegen eher nicht inne. Somit wird noch ein Aufschrei, wie Tausende Aufschreie zuvor, die durch Geschichte und Jahrhunderte hallen, daran nichts ändern. Den Kapitalismus überwinden schaffen die Menschen nicht, sie gehen lieber mit ihm unter. Die im Text beschriebene Herablassung des Mitarbeiters vom Jugendamt zeigt noch die dazu passende Geisteshaltung des deutschen Beamtentums.
wer glaubt, "verachtung nach unten" sei eine erfindung der kapital-wirtschaft:
irrt.
aber wer sagt, auf einem freien markt/in einer offenen gesellschaft
würden sich gleiche chancen/möglichkeiten für alle eröffnen, betrügt
die, die mit pressure-groups/betroffenen-gruppen und
aufschrei -hashtags weiterkommen
in ihrer selbst-ermächtigung/empowerment(-->wiki).
Och nö, nach 'aufschrei', 'aufstehen', 'unteilbar' ect., noch so ein Sammelaufruf.
Kopf in Nacken und und selbst im größten Schmerz immer hoch schauen: ... und dann? 'von unten' 'nach oben' ?? Und dann?????(s. Gerhard Schröder und Konsorten)
Schwarmverhalten ist (wirtschaftlich) prekär oder arm sein als 'mittellos' anzusehen - noch haben wir den Rechtsstaat und wenn Gott will, Phantasie). Inwieweit der/die Einzelne die Chupze aufbringt erstmal gegen den Strom zu schwimmen und die anderen mitzureißen???
Ein passender Antagonismus für Ungleiche Chancen, (Un)Gerechtigkeit, ect. wäre schon mal ein Beginn ...
Ach ja, da dies ja ein redaktioneller Beitrag zu sein scheint, neue Kampagne zur Lesergewinnung oder Marktpositionierung?????
@kmv "Och nö, nach 'aufschrei', 'aufstehen', 'unteilbar' ect., noch so ein Sammelaufruf."
Mit Verlaub, das Problem besteht doch nicht darin, dass wir in Deutschland zu viele dieser "Sammelaufrufe" haben haben, sondern viel zu wenige, wenn man sich den neoliberalen Medien-Mainstream anschaut und weiß, wie vernetzt Rechtskonservative, Nationalisten und Rechtsextreme sind.
Oder auf welcher Seite der Demokratie stehen Sie?
Autoritätgläubige Menschen und Sozialdarwinisten haben es naturgemäß einfacher. Sie treten nach unten und kriechen irgendeinem "Führer", der vorgibt, ihre Interessen zu vertreten, in den schwarzbraunen Arsch. Nicht nur die Mehrheit der Deutschen sind scheinheilige, opportunistische und autoritätsgläubige Arschkriecher.
Ach ja, vielleicht sollten Sie tatsächlich einmal vor dem BFH, BVerwG, BGH oder dem BVerfG klagen. Dann merken Sie, wie "rechtsstaatlich" unsere vielgepriesene (west)deutsche Demokratie tatsächlich ist.
Oh, mein Hund bellt gerade und wendet ein, dass die DDR bekanntlich auch ein "demokratisches" und rechtsstaatliches Land war, schließlich steht die Abkürzung für Deutsche "Demokratische" Republik. Ich glaube, mein Hund hat ein Glas Sherry zu viel getrunken. Wer zu viele Alkohol trinkt, wird risikofreudiger, aber weniger kritikfähig und schwächt sein Urteilsvermögen.
Cheerio Mister Winterbottom
PS: Grüßen Sie Admiral von Schneider und Mr. Pommeroy von mir.
Am eindringlichsten diskriminiert das alltaegliche allgegenwaertige Marktgeschehen. Es schmerzt insbesondere dort am meisten, wo die jeweilige Unternehmung, die die ersehnte Dienstleistung oder Ware anbietet, nur aufgrund massiver staatlicher Subventionen kuenstlich am Leben erhalten wird.
Einfachste Dinge, wie z.B. die Zugfahrt ins 20km entfernte Stadtzentrum (hier 10 Euro fuer Hin- und Rueckweg), bringen fast durchgaengig eine unueberwindbare Schwelle mit sich, wenn man sich nicht kriminalisieren moechte.
Theaterbesuch mit der Familie? Auf dem Wochenmarkt einkaufen? Freunde zum Kindergeburtstag in Kino, Spassbad oder Freizeitpark einladen? Mitgliedschaft in einem Sportverein? Hahahaha, traeum weiter!
Pick two: erschwinglich - legal - erstrebenswert
Das hier stellt sich ja nicht in eine Reihe mit #aufstehen, #unteilbar usw., sondern mit #metoo und #metwo. Man könnte sagen, es wird zu den Online-Foren für sexistisch und rassistisch nun auch eines für klassistisch diskriminierte Menschen gestellt.
Das kann nur gut sein.
Der folgende Kommentar wurde von der SPON-Zensur heute entfernt:
Von Reinhold Schramm
»Gedenken zur Pogromnacht. Bundespräsident Steinmeier fordert Kampf gegen ''neuen aggressiven Nationalismus''. Zum Jahrestag der Pogromnacht plädiert Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für einen "demokratischen Patriotismus". Die Farben der deutschen Flagge dürfe man nicht Nationalisten überlassen.«
Vgl. Spiegel-Online *
Kommentar, SPON, 09.11.2018, Nr. 6.
Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung in BRD!
Der Kampf gegen die vorhandene Armut bei Millionen BundesbürgerInnen und deren soziale Ausgrenzung müsste die gesellschaftspolitische Hauptaufgabe heute sein!
Für die kommende Revolution im 21. Jh. in Deutschland (?)
Warum dulden 40 Prozent der w/m Bundesbürger ihre sozialökonomische und gesellschaftspolitische Abkopplung in Deutschland und Europa?
Rund 33 Millionen w/m Bürger in Deutschland, davon 26 Millionen Erwachsene, verfügen seit Jahrzehnten über kein Einkommenszuwachs, über keine nennenswerte Verbesserung ihrer sozialen Lebenssituation. Dazu gehören auch 3 Millionen Kinder und Jugendliche in sozialer Armut, ebenso mehr als 1 Million Alleinerziehende, vor allem Frauen in sozialer Armut, ebenso mehr als 4 Millionen w/m Rentner. Offiziell befinden sich 13 Millionen Menschen in Erwerbsarmut. In Westdeutschland erhält die große Mehrzahl aller Frauen und Mütter (ohne Beamtenstatus und ohne ''Gleichstellung'' für Vorstandsposten), gegenwärtig und künftig, nur eine Altersrente aus der gesetzlichen GRV- Rentenversicherung, deutlich unterhalb des geringen Niveaus der gesetzlichen Grundsicherung, analog unterhalb der Sozialhilfe.
Berücksichtigen wir auch die aus dem sog. gesetzlichen Mindestlohn fehlenden sozialen Ansprüche für die Altersvorsorge und Altersrente, so kommen in den nächsten Jahren weitere Millionen Menschen, selbst bei mehr als 45 Vollzeitarbeitsjahren, aus ihrer vorausgegangenen Erwerbstätigkeit, in die Altersarmut.
Das skizzierte Bild, über die reale Armut im bundesdeutschen Reichtumsland und Konsumparadies, bleibt hierbei immer noch unvollständig. Es liegt beim Leser dieser Zeilen es zu vervollständigen.
Es gibt auch heute, unter Beachtung der ungebrochenen Fortschreibung der Umverteilung des produzierten gesellschaftlichen Reichtums, von unten nach ganz oben, sozial- und gesellschaftspolitisch berechtigte Gründe für eine sozioökonomische und politische Revolution in Deutschland!
Vgl. Spiegel-Online, 09.11.2018: Gedenken zur Pogromnacht. Bundespräsident Steinmeier fordert Kampf gegen ''neuen aggressiven Nationalismus''. Zum Jahrestag der Pogromnacht plädiert Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für einen "demokratischen Patriotismus". Die Farben der deutschen Flagge dürfe man nicht Nationalisten überlassen.
www.spiegel.de/politik/deutschland/frank-walter-steinmeier-fordert-kampf-gegen-neuen-aggressiven-nationalismus-a-1237595.html
PS: Die maximale Verbreitung ist ausdrücklich. Auch gegen alle staatliche GroKo-Zensur, so auch bei den deutschen Medien, erwünscht!
09.11.2018, R.S.
in der tradition kultur-revolutionärer chines. wand-zeitungen,
eine internet-klage-mauer, die tatsächliche zustände/kaum vergangenes
vor ort zu gehör bringt? why not.
tja, herr steinmeyer äußert sich halt als vertreter eines
konservierenden parlamentarismus,
den un-anständigkeiten/unregelmäßigkeiten im ideal-demokratischen
betrieb mehr stören als materielle mangel-erscheinungen
"da, ziemlich weit unten".
Für mich einer der spanenden Fragen in diesem so reichen Land wie Deutschland, was werden die schweigenden Mehrheiten in diesem Land tun, wenn Menschen mit Mistgabeln vor den Palästen der Mächtigen protestieren?
Läuft man wieder am Ende dem Faschismus hinterher, oder stellt sich auf die Seite der Protestierer? Bundeswehr im Inneren, denn Polizei ist schon heute teilweise überfordert. Wie schnell es gehen kann, sieht man doch an all die rechten Parteien die wieder in Europa Wähler gewinnen, oder schauen wir heute nach Brasilien. Wenn irgendjemand glaubt, das könnte in Deutschland nicht wieder passieren, der wacht schneller im Faschismus auf, als ihm lieb wäre. Heißt das dann wieder am Ende: „Das haben wir nicht gewusst“?
-ey, sorry, steini, bin halt ein proll.
Sagt mal, in welchem Land habt Ihr eigentlich gelebt? Doch nicht in Deutschland? Ich stamme auch aus einer deutschen Arbeiterfamilie. Auch in meiner Familie hatte nie jemand das Abitur gemacht, geschweige denn studiert. Trotzdem gab es nie einen Zweifel bei mir, ob ich an den Schulen richtig bin; bestenfalls noch bei meinen Großeltern und meiner Mutter. Es gab auch keine Existenzsorgen, sondern Stipendium und billigen Wohnheimplatz. Nur hieß das damals noch nicht Deutschland, sondern DDR und war, so hört man, ein Unrechtsstaat.
Einen Druck zur Armee zu gehen gab es freilich trotzdem, wenn auch keinen wirtschaftlichen; habe ich aber auch nicht gemacht.
Schaden tut's (dem Freitag) sicherlich nicht ... und, dass ich in der #metoo Debatte eher der Flaßpöhler Argumentation zuneige wird Dich jetzt aber sicher nicht überraschen ...
"Ihr da unten wir da oben" von Bernt Engelmann und Günter Wallraff, 1973, war mein Einstieg in die bundesrepublikanische Zustandsbeschreibung. Und ja, seit ein paar Jahren erhöhen sich die Türschwellen wieder rasant. Wehe dem, der die Codes nicht kennt oder anwenden kann. (Wie und an welcher Stelle die ateemnehmende Einschränkung biographischen Freiraums und Entscheidungsspielraum für (bildungs- uund wirtschafts)arme Bürger festzumachen ist ließe sich, in minutenschnell, an einer Menge Beispiele sehr konkret darstellen.) Allerdings hat 'Klasse' als Kategorie schon seinerzeit als ergiebiger Erkenntnisbegriff eher versagt ... als die ideologisch argumentierenden Studentenschaft der arbeitenden Bevölkerungsschicht recht unverstanden gegenüberstand ...
Ungerechtigkeiten, besser Chancenungleichheit jedweder Art bringen mich, nach wie vor, auf die Palme. Du wirst mir zustimmen, es stehen mehr als genug davon 'rum. Insofern, # Betroffenheitsbekundungen sind (unverbindliche) Solidarität auf der Metaebene oder in der virtuellen Welt - versehen mit (nach)frag(ens)würdigen hashtags ???
Wenn schon, dann Ich-Erzählungen in denen sich (auch nur ansatzweise) politische Haltung, Widerspruchsgeist, vielleicht gar eine Herangehensweise widerspiegeln. Lässt sich/Ließe sich nicht da Kraft tanken, Widerstandswillen mitnehmen um anwenden?
Liegt nicht hier sowieso die Crux: der, der abgeben soll, macht das nie freiwillig. Die Autorität, die in Frage gestellt wird, macht in der Regel erstmal zu. Also muss erstmal Flagge gezeigt werden und wenn's dann hart auf hart kommt, geben (leider!) eine Menge Leute - und sei ihr Fall noch so gerechtfertigt - sich lieber zufrieden mit dem was ist, dem was sie kennen, als mit dem was sein könnte und was nunmal mit Risiko behaftet ist ... Und ich bleibe dabei, egal wie frustrierend und mühselig es manchmal/öfters ist, der Rechtsstaat ist der gemeinsame Nenner und das einzige was wir haben.
Sehr geehrter Herr Baron,
vielen Dank für diesen Artikel. Ich glaube, das Thema ist ein wichtiges Stück im Puzzel zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Da sie um Beiträge gebeten haben, möchte ich mich hiermit als sozialer Aufsteiger outen und auf Ihre Fragen eingehen:
Welche Erfahrungen mit sozialer Abwertung haben Sie gemacht? Meiner Erfahrung nach findet soziale Abwertung immer und überall statt. Das liegt m.M.n. daran, dass Menschen sich gegenüber anderen Menschen behaupten wollen. Man möchte eine gute Stellung in der Gesellschaft. Man möchte gehört, verstanden, geliebt werden. Das ist schon bei kleinen Kindern so. Meine persönliche Motivation besser gestellt zu sein, liegt darin, nicht im Sumpf der gesellschaftlichen Abwertung zu versinken. Ich komme aus einer Klein-/Arbeiterstadt in Ostdeutschland. Ich bin im Arbeiter- und Bauerstaat aufgewachsen, wo per Definition alle gleich waren. Aber faktisch gab es immer Menschen, die den Status primus inter pares für sich beanspruchten. Ich lernte schnell, Menschen sind nicht gleich. Jeder ist anders. Ich wollte damals raus aus dem Sumpf gegenseitiger Abwertung. Die "Waffen" die ich mir dazu gewählt habe, sind Wissen und Logik. Sicherlich nicht die besten Mittel sich zu bahaupten. Aber es reicht aus, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Gut, die soziale Abwertung innerhalb der Arbeiterschicht ist anders, als die hier von Ihnen erfragte. Natürlich sie reden von den Eliten gegenüber der Unterschicht. Bitte verstehen sie mich nicht falsch. Auch wenn jeder anders ist, bin ich fest davon überzeugt, dass jeder die gleichen Rechte hat oder zumindest haben sollte. Ich glaube, das ist in unserem Lande leider nicht gegeben. Hier fängt soziale Ungerechtigkeit und damit Abwertung an. Menschen die Ihre Rechte nicht kennen, werden leichter Opfer von Betrug. Menschen die die Rechte anderer nicht respektieren, sind arrogant und im schlimmsten Fall kriminell. Sie reden von Adel. Was bedeutet das im ursprünglichen Sinne? Adel kommt von Edel. Was zeichnet einen edlen Menschen aus? M.m.n. ist ein edler Mensch, der jeden Menschen unabhängig seiner ethnischen Herkunft, Geschlecht, Alter, sexuellen Orientierung oder Weltanschauung/Religion gleich gut behandelt und seine eigenen wie auch die Rechte anderer verteidigt und sich dabei nichts darauf einbildet. Davon gibt es leider nicht mehr sehr viele. Ich kenne leider nur wenige und selbst die können es nicht immer. Und sie kommen aus allen sozialen Schichten und von überall auf der Welt. Alle anderen betreiben mit Lust regelmäßig soziale Abwertung.
Empfinden Sie Angst vor sozialem Abstieg? Ja natürlich. Wer empfindet die nicht? Kinder reicher Eltern? Sicherlich auch die. Verlustangst steckt in uns allen. Selbst die Bohèmien haben Angst davor. Auch wenn sie was anderes behaupten. Es führt dazu, dass man sich Mühe gibt. Vermutlich hat diese Angst sogar noch der Obdachlose, der schon fast nichts mehr hat. Ich ziehe meinen Hut vor Obdachlosen, die ihr Leid mit Engelsgeduld ertragen.
Wann spürten oder spüren Sie die Unsicherheit als soziale Aufsteigerin beziehungsweise sozialer Aufsteiger? In dem Bereich in dem ich arbeite, verspüre ich das selten. Ich habe mir einen Ruf erarbeitet. Außerdem spielt es in meiner Firma kaum eine Rolle, da viele Kollegen soziale Aufsteiger sind. Soziale Abwertung findet trotzdem statt. Die kommt v.a. aus dem oberen Management.
Welche Erniedrigungen erleben Sie durch Ihre Vorgesetzten am Arbeitsplatz? Mein direkter Vorgesetzter ist ein edler Mensch. seine Vorgesetzten sind das leider nicht. Erniedrigungen sind auch eine Frage der Definition. Im verhältnis zu einem Angestellten aus Indien, der seine Familie einmal alle drei Monate sieht und in der Firma auf dem Boden schlafen muss (selbst gesehen), kann ich mich unheimlich glücklich schätzen. Je länger ich darüber nachdenke, gibt es trotzdem Erniedrigungen, auch wenn ich sie nicht so nennen würde. Z.B. wenn man beim Firmenchef sachliche Argumente bringt und diese als Affront abgelehnt werden. Oder wenn man in Meetings übergangen wird. Aber das ergeht irgendwie ja auch allen so. Es ist eine Frage, wie man damit umgeht.
Wo begegnen Sie im Alltag den Vorurteilen gegen „die Unterschicht“?Schalten sie den Fernseher oder das Radio ein und sie werden beschallt mit Vorurteilen. Darum sind diese Geräte bei mir i.d.R. aus. Meine Kollegen reden z.B. von den "Galaun". Gemeint sind Männer, die ihren Frust mit Alkohol ertränken und mit aggressivem, wie auch autoagressivem Verhalten begehen - gern an Haltestellen oder Supermärkten. Für mich sind das Menschen, die ziemlich viel Pech hatten. Klar man fühlt sich in ihrer Gegenwart irgendwie Unwohl. Aber wahrscheinlich ist es die Angst, selbst so zu werden oder so sein zu können. Hartz IV ist ein Kampfbegriff. Manche einer glaubt ernsthaft, das Betroffene faul seien oder sich gehen lassen. Hier haben die Medien "gute" Arbeit geleistet. Teile und Herrsche. Übrigens gibt es auch Vorurteile der Unterschicht gegenüber den "Oberen". Es wird gern das Bild des edlen Arbeiters gezeichnet, der etwas "verdient". Anders als die "Oberen", die es nicht verdienen. Gemeint ist v.a. ehrlicher Respekt. Die Mehrheit der Besucher der Montagsdemos (z.B. Pegida) denkt in diesen Mustern. M.m.n. ist allein der Gedanke Respekt verdienen zu müssen, der Fehler im System. Ich wünschte mir, mehr Menschen wären edel.
Hier noch grafische Kurzgeschichte zum Thema von einem neuseeländischen Illustrator. Sie zeigt sehr schön wie zwei theoretisch gleiche Kinder aus einem einmal wohlhabenden und einmal ärmeren Haus unterschiedliche Möglichkeiten haben. Es bringt die Sache sehr gut auf den Punkt. Suche mit bevorzugter Suchmaschine: "Toby Morris The Pencilsword #Ten - On A Plate".
Danke für das Teilen! Im Zuge der midterm-elections gab es sogar eine kritische Berichterstattung in den gebührenfinanzierten Programmen, namentlich eine Reportage von Claudia Buckenmaier zu sozialen Unterschieden im US-Schulsystem: "Schicksal Schule?"
Warum noch so eine #-Geschichte?
1. Weil es Geschädigten klar macht, dass sie nicht alleine sind. - MeToo bezweckte meines Erachtens vor allem das und es ist mittlerweile erwiesen, dass Dokumentation der Geschehnisse nicht nur die individuelle Verarbeitung erleichert, sondern (geistige) Solidarisierung und Vernetzung erst ermöglicht. It's a battle for the hearts and minds, stupid!
2. Weil nur so Muster gesellschaftlicher Unterdrückung sichtbar werden, meine lieben StamoKap-Stammtisch-Schreiber! Hier mein Beitrag dazu:
"Verordnete Weiterbildung".
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-11/die-gruenen-robert-habeck-abschaffung-hartz-iv
In diesem Zusammenhang, wollen nun nach der SPD, auch die Grünen etwas ändern, hin zu mehr Gerechtigkeit zwischen oben und unten !