Wurzel allen Übels

Vorschlag Die Linke fordert eine Arbeitszeitverkürzung? Gut so, findet Christian Baron
Ausgabe 31/2020
Fokus: Freizeit
Fokus: Freizeit

Foto: Fox Photos/Hulton Archive/Getty Images

Revolutionen beginnen im Kleinen. Zum Beispiel, indem sich Eltern zusammenschließen und ihre Kinder nicht mehr frühmorgens um sechs Uhr aus dem Bett scheuchen, damit sie in der Schule auf Lehrer treffen, die ebenfalls zu wenig Schlaf bekommen haben. Indem sich Angestellte der gängigen Überstundenpraxis verweigern und pünktlich um fünf Uhr das Büro verlassen, um in der Kneipe über den Chef herzuziehen. Oder indem Arbeiterinnen hinterfragen, warum sie immer mehr schuften müssen, während ein wachsendes Heer von Erwerbslosen gar keinen Job mehr bekommt.

Die Subversion des Alltags allein beseitigt freilich nicht die Wurzel allen Übels, als die Karl Marx im ersten Kapital-Band den „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ beschreibt. Darin sah er den Mechanismus, der die Arbeiterklasse die kapitalistische Produktionsweise als „selbstverständliches Naturgesetz“ akzeptieren lässt. Doch irgendwo muss sie ja beginnen, die Umdeutung dessen, was als normal gilt. Es waren die Prediger des Sachzwangs, die vor 100 Jahren die Verkürzung der Arbeitszeit auf acht Stunden am Tag verteufelten, weil sie den Fortschritt gefährde. Und es waren ebenjene, die bereits zuvor jammerten ob der Forderung nach einer Abschaffung der Kinderarbeit, die sie gleichsetzten mit dem Untergang des Abendlandes.

In diesem Sinne ist es mehr als Sommerlochpopulismus, wenn aus der Linkspartei nun der Gedanke einer Verkürzung der Arbeitswoche von fünf auf vier Tage kommt. Im ersten Jahr, so die Idee, soll der Staat die Verdienstlücke mit einer Anschubfinanzierung ausgleichen, anschließend müssten die Betriebe zahlen. Dass dieser Vorschlag angesichts derzeitiger Machtverhältnisse kaum realisierbar erscheint, ist eine Sache. Die Reaktionen der üblichen Verdächtigen aus Medien, Wirtschaft und Politik sind eine andere. Was auf so viel Widerstand aus der liberalen Blase stößt, kann so verkehrt nicht sein. Da heißt es etwa: „Wer finanziert denn diese Subvention auf Kosten von uns fleißigen Steuerzahlern?“, oder: „Wir kommen doch wohl nicht aus der Krise, indem wir alle weniger arbeiten!“

Dass sich auch jenseits der Vorstandsetagen viele Menschen den Kopf der herrschenden Klasse zerbrechen und eine Arbeitszeitverkürzung ablehnen, liegt daran, dass sie sich Gehalts- und Renteneinbußen nicht leisten können. Darum ist es bei jedem Aufschrei besorgter Wirtschaftsexperten aufschlussreich, wie lange sie „uns“ und „wir“ sagen. Für gewöhnlich nämlich verstummt dieser inklusive Ton, sobald Finanzierungsvorschläge für den vollen Lohnausgleich laut werden, wie etwa eine deutlich gerechtere Besteuerung hoher Einkommen, Vermögen und Erbschaften.

Teilzeitmaloche, Vollzeitleben

Die Arbeitszeit ist extrem ungleich verteilt. Viele schuften buchstäblich bis zum Umfallen, landen mit Burn-out in einer Klinik, wodurch die gesamtwirtschaftlichen Kosten arbeitsbedingter psychischer Belastungen steigen. Zugleich verharren viele unfreiwillig in Teilzeit, sind prekär beschäftigt oder erwerbslos. 3,5 Millionen haben neben ihrem Hauptberuf mindestens einen weiteren Job, seit 2003 hat sich die Zahl der Multijobber in Deutschland mehr als verdoppelt. Die meisten von ihnen gehen einer geringfügigen Nebentätigkeit nach, weil die Entlohnung zum Leben nicht reicht. Es gibt mehr als 3,7 Millionen Beschäftigte, die weniger als 2.000 Euro brutto im Monat verdienen – in Vollzeit.

Eine Verkürzung der Normalarbeitszeit von fünf auf vier Tage denkbar zu machen, rückt den Alltag dieser Menschen in den Fokus. Ebenso wie die Frage der Geschlechtergerechtigkeit: Meist erledigen Frauen die unbezahlte Arbeit zu Hause. Das liegt vor allem daran, dass Männer noch immer durchschnittlich mehr Lohn erhalten als Frauen, sodass sich in vielen Familien die Frage nicht stellt, wer einer Erwerbsarbeit nachgeht und wer daheimbleibt. Während die eine Gruppe – vorwiegend formal hoch qualifizierte Männer mittleren Alters – also häufig zu viel arbeitet, kommt die andere Gruppe – oft formal gering qualifizierte Frauen – zu kurz. Wenn nun Menschen mit einer Vollzeitarbeit nicht genug verdienen, um in ihrer freien Teilzeit gut leben zu können, dann sollten sie zumindest für das Geld, das sie heute erhalten, Teilzeit arbeiten und Vollzeit gut leben.

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