„Zunächst möchte ich jenen danken, die es nicht geschafft haben, heute hier zu stehen – sie sind an der Mauer ums Leben gekommen und haben doch geholfen, sie einzureißen.“ Als Mario Röllig an der West-Side-Gallery diesen Satz ausspricht, geht ein Raunen durch die Reihen. Die Open-Air-Installation Jenseits der Mauer wird eröffnet, und der Berliner Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) wird sich nun viele böse Sätze des Stasi-Überlebenden anhören. Die Stasi wollte den 19-jährigen Röllig dazu ermuntern, seinen Freund aus dem Westen zu bespitzeln und zu verraten. Röllig weigerte sich – und wurde dafür mit sozialem Abstieg bestraft: „Ich erlebte den realsozialistischen Albtraum: vom gut verdienenden Oberkellner zum armen Tellerwäscher.“
Lederer lauschte aufmerksam, denn Röllig zu hinterfragen oder zu unterbrechen, hätte das Kunstwerk an der West-Side-Gallery gestört. Der Mann ist Teil der Mauerinstallation. Sein Schattenriss und seine Geschichte gehören zu Stefan Roloffs Jenseits der Mauer. Roloff und seiner Co-Initiatorin Carola Stabe ist es gelungen, die weiße, denkmalgeschützte Westseite der East Side Gallery zu bespielen: mit Roloffs Video-Stills aus den 70er und 80er Jahren, die er von Touristenplattformen für West-Mauergucker aufnahm. Und mit Geschichten von Überlebenden. Seien es Stasi-Knast-Zwangsarbeiter für Westfirmen wie Ikea. Oder Kinder, die im Stasi-Knast geboren wurden, um später im Alter von vier bis neun regelmäßig von der Stasi verhört zu werden.
Roloff benannte das Ungeheuerliche: dass Grenzer nur zu dem Zweck an der Mauer standen, um auf Menschen zu schießen, die sie überwinden wollten. Lederer blieb gelassen, und er konnte es auch. Er hat den Termin als Kultursenator überhaupt erst möglich gemacht, weil er das Kunstprojekt förderte und durch seine Verwaltung boxte. Roloff nannte das mutig – was immer er damit meinte. Anders als der Besuch Angela Merkels im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen war die Eröffnung an der Gallery nicht monothematisch – hier geht es nicht bloß um die Mauer, die Berlin teilte, sondern um alle Mauern. Klaus Lederer nun hat noch einen Vorteil. Er kann als Kultursenator den Dank als Ermöglicher einheimsen. Und als Denkmalschutzsenator kann er die Installation zum temporären Ereignis machen. Am 9. November wird die Kunst wie die Erinnerung an Röllig und andere getilgt. Dann muss die Mauer wieder weiß sein – so verlangt es der Denkmalschutz. Wie praktisch.
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