Jenseits des christlichen Weihnachtsfestes

Anden-Sonnenwende 4. Die "Suche nach der verlorenen Freiheit" ist nicht die Weihnachts-Geschichte von Maria und Josef sondern die Sonnenwend-Geschichte von Maria Suyana

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Foto: „Otavalo Spanish Institute“, Laguna de Cuicocha („Laguna de los Dioses“ – „Götter-Lagune“), Lagune von Cuicocha (ehemaliger Krater) am Fuße des dahinter aufragenden Vulkans Cotacachi

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Vorbemerkung: Eventuelle Ähnlichkeiten von lebenden Personen mit in dieser fiktiven Erzählung beschriebenen Menschen wären rein zufälliger Natur. Kulturgeschichtliche Erläuterungen sind von mir in Schrägschrift eingefügt.

Folge 4 und Schluss

Am Morgen des 21. Dezember 1996 bat Maria ihre Mutter und Großmutter, sie zur Laguna de Cuicocha, im Volksmund auch „Götter-Lagune“ genannt, zu fahren. Diese liegt etwa 600 Meter oberhalb der kleinen Stadt Cotacachi auf mehr als 3000 Meter Höhe und befindet sich am Fuße des sich auf über 4.900 Meter Höhe erhebenden Vulkans Cotacachi. Dieser Vulkan im Westen der Stadt Cotacachi ist in der Anden-Mythologie der warmi rasu, der Frauen-Berg, dessen männliches Pendant der kari rasu, der östlich von Cotacachi gelegene Männer-Berg („Imbabura-Vulkan“) ist. Hier wie überall in den Anden ist der Dualismus und die Komplementarität der Geschlechter Wesensmerkmal der Kosmovision der autochthonen Völker.

Maria Suyana wollte am Ufer der Laguna de Cuicocha noch vor der Geburt ihres Sohnes, die jederzeit einsetzen könnte, Zeit zu einer Meditation finden und Wasser aus der Lagune schöpfen, das sie nach der Rückkehr ins elterliche Wohnhaus zur Reinwaschung benötigen würde. Die übliche Zeremonie des Reinwaschens zur Sommer-Sonnenwende (inti raymi) in der Lagunewollte sie ganz nach den alten Regeln aus der Zeit des Tahuantinsuyo jetzt am Tag der Winter-Sonnenwende (cápac raymi) in der Intimität ihres Elternhauses feiern. Sie hoffte, dass dadurch die Geburt glücklich vonstattengehen möge. Das Lagunenwasser sollte auch zur Waschung des Neugeborenen dienen, so dass Mutter und Sohn durch das von der pachamama (Mutter-Erde) fruchtbarkeit-spendende Wasser gestärkt in ein neues Leben gehen würden.

Mutter (mamita) und Großmutter (abuelita) widersprachen vehement Marias Wunsch, denn die Wehen könnten während der Fahrt hinauf zur Lagune einsetzen. Aber auf Marias inständiges Bitten gaben sie schließlich nach, und so machten sich die drei Frauen auf den Weg zur Cuicocha-Lagune. Am Ufer des Bergsees angekommen wurden sie durch die sakrale Ausstrahlung der von der Morgensonne beschienenen Landschaft überwältigt und verfielen in wortlose Ehrfurcht vor der Schönheit dieser Götterwelt. Maria ahnte wie vor neun Monaten am Gestade der Isla del Sol im Titicacasee die Nähe des Herrschers des Universums und des Sonnengottes, viracocha und inti; sie fühlte sich beschützt von pachamama, und die Meditation beseelte sie mit Stärke und Freiheitswillen. Bevor die Frauen die Rückfahrt antraten, füllten sie noch zwei Wasserbehälter mit dem kalten Nass der Lagune.

Für Maria war das geräumige Elternschlafzimmer im ersten Stock des heimatlichen Hauses hergerichtet. Im Erdgeschoss befand sich das gutgehende Lederwarengeschäft der Eltern. So wie im benachbarten Otavalo seit der Prä-Inkazeit das Textilhandwerk blühte, war Cotacachi für die Lederverarbeitung im ganzen Land bekannt.

Maria bat die Familienmitglieder, sie in den letzten Stunden vor dem Einsetzen der Wehen allein zu lassen. Sie wollte sich in aller Ruhe der Reinigungszeremonie hingeben und sich innerlich auf den Geburtsakt einstellen. Noch einmal ließ sie in Gedanken die letzten neun Monate vorbeiziehen, beginnend mit dem Geschehen auf der Isla del Sol. Immer noch war sie felsenfest davon überzeugt, dass Francisco der rechte Vater ihres Sohnes sei. Sie hatte ihn ja so lieb. Doch mit ihm zusammen leben, auch wenn er Junggeselle wäre, käme für sie überhaupt nicht in Frage. Wie sie sich das von Beginn an vorgenommen hatte, ließ sie Francisco nichts von seiner Vaterschaft wissen. In der Zwischenzeit hatten beide gelegentliche Korrespondenz ausgetauscht, ansonsten folgten sie getrennten Wegen.

Das Jahr 1996 war für die ecuadorianischen indigenen Völker ein besonderes Jahr. Dessen war sich Maria bewusst und in diesem Sinne sah sie der Geburt ihres Sohnes mit Optimismus entgegen. Die 1995 von der Konföderation der indigenen Völker (CONAIE) gegründete politische Partei „Pachakutik“ gewann bei den Parlamentswahlen in 1996 auf Anhieb 20% der Wählerstimmen. In Cotacachi wurde einer der ersten indigenen Bürgermeister im Lande gewählt. Im Rahmen der von den UN erklärten Entwicklungsdekade für die indigenen Völker auf der Welt führte Maria Suyana zusammen mit anderen Kolleginnen und Kollegen eine nationale Enquête über die Lebensbedingungen dieser Völker im Lande durch. Dadurch sollten Grundlagen für eine Entwicklungsstrategie gegen Armut, Marginalisierung und Unterdrückung erstellt werden. Der kapitalistische Entwicklungsweg der nationalen Oligarchie trieb das Land immer weiter in den Ruin. Überlieferte soziale, ökonomische und politische Strukturen des Tahuantinsuyo könnten für eine nachhaltige Entwicklung aus dem Elend heraus wertvolle Anhaltspunkte geben, wie Alternativen zum natur- und menschenfeindlichen Kapitalismus entstehen könnten. Während des Tahuantinsuyo war die Ökonomie soweit fortgeschritten, dass sie allen Bewohnern ausreichende Nahrungsmittel sowie Kleidung und darüber hinaus Überschüsse für Not- und Katastrophenfälle garantierte:

Grundlage der sozialen Organisation im Tahuantinsuyo war der „ayllu“, (Gemeinde), dessen Chef ein jeweils auserwählter „curaca“ (Kazike) war, und in dem alle Familien gemeinsam Besitzer des zur Verfügung stehenden Landes waren. Jede Familie erhielt ein Nutzungsrecht auf ein Stück Land, das sich an der Zahl der Mitglieder pro Familie orientierte. Die Arbeit auf diesem Stück Land wurde nach dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe unter Nachbarn geregelt. Dazu gehörte auch die uneigennützige Arbeit für Alte und andere Bedürftige. Des Weiteren gab und gibt es bis heute das Gemeindeland, auf dem mit Hilfe der „minga“ (gemeinsame Arbeit aller Mitglieder des „ayllu“) Nahrungsmittel für die gesamte Gemeinde produziert werden (um bspw. Feste zu „finanzieren“ oder während der Inka-Epoche Nahrungsmittel für die Träger der weltlichen und religiösen Staatsverwaltung zu erzeugen). Dabei wurde die Nutzung der landwirtschaftlichen Flächen in nachhaltiger und ausgeklügelter Weise durch Terrassenbau und Bewässerungssysteme betrieben, um Erosion zu vermeiden.

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Foto: Asociación Andes, Cuzco, „Minga“ (kollektive Arbeit der Bewohner des „ayllu“ in den Hochanden)

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Am frühen Nachmittag hatte die abuelita alle Vorbereitungen zur bevorstehenden Geburt getroffen, vor allem auch einen lauwarmen Kräutertee angerichtet, der helfen sollte, die Wehen einzuleiten. Die befreundete Ärztin war benachrichtigt und könnte jederzeit von Otavalo herüberkommen. Maria Suyana befand sich nach Stunden inneren Rückzuges in einer heiteren, gefassten Seelenverfassung. Jetzt könnten ihre Wehen einsetzen und jetzt wünschte sie auch die Menschen um sich, die ihr am meisten bedeuteten: ihre Eltern, die Großmutter und ihr jüngerer Bruder, der ihr in den letzten Jahren so etwas wie ihr männlicher Beschützer geworden war.

Tatsächlich begannen ihre Wehen bei Einbruch der Dunkelheit. Die Gynäkologin wurde herbeigerufen und bestätigte nach ersten Untersuchungen, dass die Geburt wohl ohne jegliche Komplikationen verlaufen würde.

Wenige Minuten nach Mitternacht, der Nacht vom 21. auf den 22. Dezember, dem cápac raymi, der Winter-Sonnenwende, gebar Maria Suyana ihren lang erwarteten Sohn, der mit gehörigem Schrei seinen ersten Schritt ins Leben setzte. Sie hätte die ganze Welt umarmen können, so glücklich war sie trotz ihrer körperlichen Erschöpfung. Die Pachamama hatte es mit ihr und ihrem Sohn gut gemeint. Beide waren gesund und stark. Ihr Sohn wurde mit dem Wasser der Cuicocha-Lagune gewaschen und sogleich Maria an die Brust gelegt. Jetzt füllte sich das Schlafzimmer. Familie und nahe Freunde beglückwünschten Mutter und Sohn. Dieser bekam den Namen: Juan Auki (Auki war der Titel des Inkasohnes, gleichbedeutend mit „Prinz“. Erst mit seiner Heirat wurde Auki zum Inca).

Für Maria Suyana und Juan Auki bedeutete die Winter-Sonnenwende 1996 den Beginn eines gemeinsamen Lebens im Bestreben, aktiv für die Freiheit der andinen Völker einzutreten. In diesem Sinne hatte Maria schon lange vorher den Beschluss gefasst, als erste Betätigung nach der Geburt die Einrichtung einer Abteilung der Prä- sowie der Inkaepoche im Museum der Kulturen (Museo de las Culturas) in Cotacachi in Angriff zu nehmen.

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Foto: Kantonsverwaltung Cotacachi, Museo de las Culturas (Museum der Kulturen), beinhaltet Abteilungen aus der Prä-Inkazeit, Inkazeit, Kolonialzeit und neuere Zeit, letztere geprägt gleichzeitig durch Katholizismus und andiner Kosmovision

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Nachwort: In den letzten 18 Jahren bis zur jetzigen Winter-Sonnenwende 2014 hat sich im Andenraum sehr viel zum Besseren für die indigenen Völker entwickelt. Das ist insbesondere den Fortschritten auf den Gebieten der Erziehung und der Gesundheit zu verdanken sowie auch der Stärkung der Bewusstseinsbildung über die Gleichwertigkeit ihrer Kulturen mit anderen Weltkulturen. Ein besonderes Ergebnis ist in allen Andenstaaten der unbedingte Kampf für die Erhaltung der natürlichen Ressourcen und der überlieferten Kulturen. In Bolivien wurde erstmalig unter Evo Morales eine Staatsverwaltung eingerichtet, die von der 60%igen Mehrheit der indigenen Völker maßgeblich bestimmt wird.

Ende der Geschichte

Panamá, Costa Esmeralda, Winter-Sonnenwende 2014

PS: Geschrieben in Erinnerung an Y. T. , der ich viele Einsichten in die Kosmovision der Andenvölker zu verdanken habe.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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