„Remigration“ ist das Unwort des Jahres. Damit hat die extreme Rechte einen echten Diskurs-Coup gelandet. Seit der Berichterstattung von Correctiv ließ sich beobachten, wie sich rechtsextreme Akteure um einen Plottwist der Debatte bemühten, indem sie aus dem Malus der Berichterstattung einen Bonus dadurch zu erreichen versuchen, den Begriff mit ihrer Deutung zu versehen und diese im Diskurs zu setzen.
Nur zur Erinnerung: Remigration ist ein Fachbegriff aus der jahrzehntelangen, umfangreichen Forschung von Historikern, Politik- und Literaturwissenschaftlern zu den Umständen der Rückkehr deutscher Exilanten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach Deutschland. Forscher wie Jost Hermand oder Mario Kessler haben sich über diese Forschungen zurecht einen au
en nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach Deutschland. Forscher wie Jost Hermand oder Mario Kessler haben sich über diese Forschungen zurecht einen ausgezeichneten Ruf weit über die Fachwissenschaft hinaus erworben.Die extreme Rechte verwendet den Begriff jedoch in einem Kontext, in dem es um Ausbürgerung und den Entzug staatsbürgerlicher Rechte geht, und er mithin das glatte Gegenteil dessen bedeutet, wofür er in der wissenschaftlichen Forschung einmal stand.Dies ist das Muster der Diskurs-Piraterie, welches die extreme Rechte nicht erst seit gestern beherrscht: Man nehme sich einen Begriff, entkleide ihn seiner ursprünglichen Bedeutung, lade ihn mit den eigenen Inhalten auf und speise ihn sodann in die öffentliche Debatte ein. Diese Einspeisung funktioniert über die beständige Wiederholung des Begriffs und seiner neuen Bedeutung und die Erwartung, dass dieser Umstand eine mediale Resonanz findet. So geschah es im Fall der Correctiv-Recherchen.Sellners SelbstinszenierungMartin Sellner und sein Umfeld gingen umstandslos zu dem über, was sie am besten können: Selbstverharmlosung. Der Begriff, säuselten sie und ihre AfD-Adepten, beziehe sich auf die ausreisepflichtigen Migranten, nach deren Abschiebung auch Politiker anderer Parteien in den vergangenen Monaten gerufen hatten. Wirklich? Wer genau hinhört, kann wissen, dass die extreme Rechte sich mit „Remigration“ einen Container-Begriff aneignet, den sie – je nach politischem Sprechraum – füllt. Einer breiteren Öffentlichkeit ist eine Ausweisung aller Migranten, die nicht ins rassifizierte Bild der extremen Rechten passen, derzeit noch nicht vermittelbar. Der eigenen Szene jedoch sehr wohl.Sellner ist kein „Chefideologe der Identitären“, wie Patrick Bahners in der FAZ schrieb. Diese Zuschreibung geht der Selbstinszenierung des Österreichers ohne substanziellen Grund auf den Leim. Sellner ist ein politischer PR- und Kommunikationsstratege in eigener, rechtsextremer Sache, der die Mechanismen der medialen Aufmerksamkeitsökonomie und ihre Affekte seit Jahren studiert hat und sich ihrer auf allen verfügbaren Kanälen bedient. In seinen Videos verteilt er jene toxischen, ideologischen Brühwürfel, die hernach von allen möglichen rechten Akteursgruppen aufgegriffen, variiert und popularisiert werden. Sellners politisches Guerilla-Marketing verschafft rechtsextremen Inhalten eine Reichweite, bei der keine rechte Theoriezeitschrift mithalten kann oder muss. Die Arbeitsteilung zwischen den Sphären rechtsintellektueller Ideologie-Produktion und ihrer Popularisierung funktioniert schon seit Jahren. Nur wird sie selten öffentlich so sichtbar wie dieser Tage.Dabei gilt: diskursive Vorstöße im Sinne der extremen Rechten sind immer dort erfolgreich, wo es gelingt, Politik und Öffentlichkeit dazu zu bringen, ihrer thematischen Agenda zu folgen, sich an den von rechts gesetzten Begriffen abzuarbeiten und so zu deren Verbreitung beizutragen. Dieses Muster wendet die AfD mit beachtenswerten Unterbrechungen seit 2015 wiederkehrend erfolgreich an. Die Wahl von „Remigration“ zum Unwort des Jahres 2023 mag der Intention folgen, die rassistische Aufladung des Begriffs zu kritisieren. Doch die Debatte der vergangenen Tage zeigt, dass dies mit einem Verstärkereffekt für rechte Ideologie-Bausteine einhergeht.Um diesen Kreislauf der Aufwertung rechtsextremer Begriffe zu beenden, reicht es nicht mehr aus, die Diskursstrategien der extremen Rechten zu analysieren. Notwendig ist ein selbstbewusster und reflektierter Umgang mit den rechten Deutungsvorlagen der Gegenwart. Dazu gehört, einen rechten Tabubruch als solchen zu benennen und diskursiv zu bekämpfen. Aber nicht jede Provokation, nicht jede Äußerung ist es wert, mit jener Reichweite versehen zu werden, von der die AfD und ihr Vorfeld nun schon seit Langem ohne großes Zutun profitieren.Rassistische VerschwörungserzählungenZuvor war bereits der Begriff „großer Austausch“ in die mediale Debatte eingesickert. Dieser unter anderem von dem französischen Autor Renaud Camus entfaltete Begriff stieg binnen kurzem zu einer der zentralen Vokabeln einer rassistischen Verschwörungserzählung auf. Es steht zu erwarten, dass im Vorfeld der Wahlen von der extremen Rechten noch weitere Begriffe und Provokationen in die Manege der Politik geworfen werden – ganz in der Hoffnung auf möglichst große Knalleffekte.Viel wäre gewonnen, wenn sich die gegenwärtigen Debatten aus dem Griff rechter Diskursvorlagen befreien, und beginnen, eigene Begriffe, Themen und Deutungsangebote zu setzen, die den Horizont einer demokratischen Kultur aufreißen.