#ichbinArmutsbetroffen auf Twitter: Wir trotzen Elon Musk und machen weiter
Soziales Kapital #ichbinArmutsbetroffen ist ein Hashtag auf Twitter, unter dem Menschen in Armut ihre Erfahrungen teilen. Mit den Kapriolen des Elon Musk stellt sich die Frage: Bleiben oder gehen?
Twittern gegen die soziale Kälte: Armutsbetroffene Menschen sind auf den Zusammenhalt im Netz angewiesen
Imago
Wir armutsbetroffenen Menschen sind nicht ökonomisch arm. Nur unser Zugang zu kulturellem Kapital ist schwach. Denn Bildung muss man sich leisten können. Gemäß der Ungleichheitstheorie des Soziologen Pierre Bourdieu gibt es auch anderes Kapital, als nur Geld. Bildung ist kulturelles Kapital, und soziale Kontakte sind soziales Kapital. Erst eine Kombination aus allen dreien schafft gesellschaftlichen Aufstieg. Darum sind wir armutsbetroffenen Menschen auch nicht nur ökonomisch arm. Auch unser Zugang zu kulturellem Kapital ist schwach, Bildung muss man sich leisten können. Aber vor allem haben wir kein soziales Kapital.
In unserem Umfeld beobachten wir, dass auch die Absteiger aus der Mittelschicht sich von ihren ehemaligen Freunden entfremden. Nicht etwa, weil s
ger aus der Mittelschicht sich von ihren ehemaligen Freunden entfremden. Nicht etwa, weil sie es wollen, sondern weil sie sich diese sozialen Kontakte nicht mehr leisten können. Restaurant, Kino, Geburtstagsgeschenke – alles ist zu teuer. Der Verlust des ökonomischen Kapitals führt zum Verlust des sozialen Kapitals. Ohne diesen Hashtag waren wir untereinander gefangen. Arme kennen halt nur andere Arme. Keine Reichweite, kein soziales Kapital.Und plötzlich verändert sich das. Medienschaffende fragen nach, wollen Interviews, wir sitzen in Talkshows. Wir erleben gerade etwas, das uns völlig fremd ist: die Macht des sozialen Kapitals. Das gilt natürlich besonders für diejenigen, die sich innerhalb der sozialen Bewegung, die sich aus dem Hashtag gebildet hat, besonders hervorgetan haben, die sich vernetzt und organisiert haben, die ein Plenum und Ortsgruppen gegründet haben. Denn nicht alle können und wollen in das mediale Rampenlicht. Armutsbetroffene Menschen sind oft krank oder pflegen Angehörige, und selbst wenn nicht: Armut bedeutet, dass man den ganzen Tag mit der Verwaltung seines Lebens beschäftigt ist. Dennoch haben viele von uns ein Netzwerk aufbauen können, das über die Armut in allen Kapitalsorten hinausgeht. Wir werden gehört. Mit uns wird gesprochen. Das Gefühl der Ohnmacht, es schwindet, dank dieses neuen sozialen Kapitals. Und wir sprechen nicht nur für uns selbst, sondern auch für die, die nicht vor der Kamera stehen können oder wollen.Es ist nicht das erste Mal, dass durch Twitter-Hashtags soziale Bewegungen erstarken. Wir erinnern uns an #metoo, oder #blacklivematters. Und auch bei #ichbinArmutsbetroffen entladen sich lange schwelende Gefühle wie Zorn, Verzweiflung und Trauer – ausgelöst durch ungerechte, unwürdige Strukturen. Es sind alleinerziehende Mütter, deren Ex-Partner keinen Unterhalt zahlen und die von den Jobcentern im Stich gelassen werden. Es sind EU-Rentner, die ihre Gesundheit im Job so ruiniert haben, dass sie nicht mehr arbeiten können. Es sind Frauen mit Gewalttraumata, oft Vergewaltigungsopfer, die unter Sozialphobien leiden. Und es sind Niedriglöhner, die in Vollzeit für ihren Arbeitskraftnehmer buckeln und sich trotzdem nur das reine Überleben leisten können.Der Hashtag #ichbinArmutsbetroffen bringt all diese Menschen zusammen. Denn er hat kein trennendes Element, wie zum Beispiel #armtrotzarbeit, der gezielt ausgebeutete Lohnarbeiter*innen wie mich ansprechen will. Hier wird niemand mit Armutserfahrung ausgeschlossen, es gibt kein Gatekeeping. Aber warum Twitter? Das Netzwerk ist in Deutschland nicht mal besonders groß. Laut Statista sind es gerade mal 7,75 Millionen Menschen, die die Plattform erreicht. Zum Vergleich: Facebook Deutschland zählt 47 Millionen Accounts. Was macht Twitter so wirksam?Es hat einen Vorteil, den andere Plattformen nicht haben: Man interagiert dort mit Menschen, die ihrerseits viel Reichweite haben. Dort sind Content Creator, Podcaster*innen, und vor allem Journalist*innen. Twitter sei ihr Rohmaterial, sagte Melanie Amann, Leiterin des Hauptstadtbüros des Spiegels bei Markus Lanz am 29. September dieses Jahres. Für den Journalismus ist Twitter unverzichtbar. Und für progressive Bewegungen, wie die derzeitige Revolution im Iran, besonders wertvoll.Elon Musk kaufte diese für politischen Austausch so wichtige Plattform im Handstreich, so wie sich Normalsterbliche einen Schokoriegel kaufen würden. Aber für ihn ist das nicht nur ein Snack. Es ist ein Werkzeug für eine Agenda, er nennt sie „Free Speech“. Damit ist nicht etwa Meinungsfreiheit gemeint. Denn diese hat Grenzen, endet an der Freiheit des Gegenübers. Nein, er versteht Free Speech wie das schnöde Äquivalent zum deutschen „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, also die simple Forderung, auch in Zukunft marginalisierte Menschen beleidigen zu dürfen.Laut einer jüngeren Studie von mehreren Kommunikationswissenschaftler*innen ist ein Großteil der gesperrten Accounts bei Twitter politisch rechts. Gesperrt wurden sie wegen rassistischer, antisemitischer und verschwörungsideologischer Inhalte. Und Elon Musk wandert mit einem klappernden Schlüssel durch die Kerkerzellen von Twitter und befreit genau diese Accounts im Namen von Free Speech. Dazu zählt auch und vor allem der Ex-Präsident der USA, Donald Trump. Seit Elon Musk Twitter übernahm, fühlen sich Rechte gestärkt. So wurde laut dem Center for Countering Digital Hate das N-Wort seither bis zu drei Mal häufiger genutzt als in den Monaten zuvor. Trolle gegen ArmeAuch bei #ichbinArmutsbetroffen wird es rauer. Rechte Trolle unterstellen uns Schmarotzertum, stigmatisieren uns als faul und unwillig. Sie geben vor zu helfen und verschicken dann Gutscheine, deren Guthaben bereits ausgegeben ist oder ermitteln Adressen von User*innen, um auf ihren Namen Taxen oder Pizzen zu bestellen. Es gibt aber auch Lichtblicke: Der baden-württembergische Antisemitismusbeauftragte Michael Blume hatte gegen Twitter International geklagt, da sie ehrverletzende Tweets gegen ihn vorerst nicht löschen wollte. Seit dem letzten Mittwoch ist klar: Die Plattform muss in Zukunft rechtswidrige Inhalte löschen. Sonst macht sie sich haftbar.Ein weiterer Lichtblick ist, dass das EU-Recht ebenfalls Musks Pläne durchkreuzt: Twitters Ankündigung, in Zukunft Accounts zu bannen, die auf andere soziale Netzwerke hinweisen, wurde innerhalb weniger Stunden wieder entfernt. Womöglich hatte Musk am Sonntag deshalb eine Umfrage auf Twitter gestartet: Er wollte wissen, ob er als CEO von Twitter weitermachen soll. Das Ergebnis: 57 Prozent der User stimmten dafür, dass er abtreten soll. Wenn er sich, wie bisher, mit dem Satz „Vox populi, vox dei“ daran hält, geht er. Allerdings twitterte Musk kürzlich, man solle doch vorsichtig bei seinen Wünschen sein. Denkbar, dass er schon einen Kandidaten für den Posten im Blick hat, der seine Agenda weiterträgt. Die rechtlichen Spielräume sind auch für Milliardäre nicht beliebig dehnbar. Das haben Musks Kapriolen auf Twitter eindrucksvoll bewiesen. Trotz dieser Musk-Eskapaden blieb die große Migration zu anderen Netzwerken wie Mastodon bisher aus. #ichbinArmutsbetroffen hat die Macht des sozialen Kapitals gekostet und möchte diese nicht mehr hergeben. Wir bleiben daher bei Twitter, wir vernetzen uns weiter und trotzen den Trollen und Elon Musk und ihrer Far Right Agenda. Wir Armutsbetroffenen, die häufig in der Monatsmitte nicht mehr wissen, wie wir am Monatsende das Essen bezahlen sollen, sind sehr resilient. Wie im realen Leben halten wir es auch im digitalen: Wir machen einfach weiter.