Adania Shiblis Roman „Eine Nebensache“: Keine Indizien für Antisemitismus
Buchmesse Die palästinensische Autorin Adania Shibli sollte auf der Frankfurter Buchmesse den renommierten LiBeraturpreis erhalten. Die Verleihung wurde nun abegesagt. Das scheint vernünftig, trotzdem ist „Eine Nebensache“ nicht antisemitisch
Die Wüste in Negev, wo Teile von „Eine Nebensache“ spielen, war lange umkämpft
Foto: Keystone / Getty Images
An eine wahre Begebenheit im Jahr 1949 anknüpfend erzählt Shiblis Roman von den letzten beiden Tagen einer jungen Beduinin, die nach einer Gruppenvergewaltigung durch israelische Soldaten in der Wüste Negev ermordet wurde. In nur etwas mehr als einhundertzehn Seiten packt die Autorin nicht nur eine kaum zu ertragende, schmerzlich im Gedächtnis bleibende literarische Version des Geschehens, sondern auch einen absurden Roadtrip in das Gebiet der Wüste im Süden Israels viele Jahre später.
Der Text ist klar zweigeteilt: Im ersten Teil präsentiert die 1974 geborene Autorin ihre Version des Verbrechens an einer Oase in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Fast quälend minutiös beschreibt sie die Details, Handgriffe, Schritte, Entscheidungen des
ungen des Kommandanten einer kleinen israelischen Einheit, die in der Negev arabische Aktivitäten aufspüren soll. Die israelische Besiedlung des Gebiets steht noch bevor. Die Truppe tötet eine Gruppe Araber und nimmt ein Mädchen gefangen. Die schonungslose, detaillierte Langsamkeit des Erzählens erhöht dabei nicht nur die Spannung, sondern fast unerträglich das Gefühl der herrschenden Willkür, von Gewalt und Ausgeliefertsein.In einem Bericht für die Hessenschau wurde darauf hingewiesen, dass in dem realen Fall, die israelischen Soldaten vor Gericht kamen, was in Shiblis Roman nicht aufgenommen wird. Allerdings handelt es sich um eine literarische Verarbeitung, lediglich von dem Vorfall angestoßene Erzählung. Es wird eine brutale, gefühllose, auch von Langeweile getriebene Truppe beschrieben und ein von einem Insekt vergifteter Kommandant, der sich zunehmend zum eiskalten Vergewaltiger entwickelt, aber keine Stereotypen.Von der Religion oder körperlichen oder anderen Besonderheiten der Soldaten ist nie die Rede. Die fast anonyme Beschreibung, lässt sich argumentieren, zeugt eher von dem Bemühen, keine Klischees zu bedienen.Absurdität des Alltags in der israelischen BesatzungszoneDie Erzählhaltung, die nah am Anführer ist, steht dabei im krassen Kontrast zu dem, was konsequent „ausgespart“ wird: die Stimme, Perspektive, Geschichte des namenlos bleibenden Beduinenmädchens. Auf deren Spur begibt sich im zweiten Teil Jahre später eine Palästinenserin aus den israelisch besetzten Gebieten, die aufmerksam wird, weil sie 25 Jahre nach dem Ereignis geboren wurde. Eigentlich „eine Nebensache“, aber die Vergewaltigung an sich kann die Frau nicht aufrütteln. Ohnehin „gerät das Vergangene irgendwann in Vergessenheit, insbesondere wenn die Gegenwart ebenso entsetzlich ist“.Es ist der zweite Teil, in dem Shibli einen völlig anderen, teils sogar witzigen Ton anschlägt, der den Text erst wirklich lesenswert macht. Es mangele ihr an der Fähigkeit, Grenzen zu erkennen, „selbst die naheliegendsten“, erzählt die Ich-Erzählerin von einer Schwäche, die sie immer wieder in Schwierigkeiten bringt. Durch den naiv anmutenden Ton ihrer Protagonistin gelingt es Shibli, die Absurdität des Lebensalltags in der israelischen Besatzungszone noch deutlicher zu machen. Bombardements, Ausgangssperren, begrenzte Beweglichkeit, Checkpoints, Gewalt, Willkür und Mangel sind hier kein „Hintergrund zu Eilmeldungen“ in den Nachrichten, sondern alltägliche Realität.Shibli schickt ihre sympathische Antiheldin von Ramallah aus mit dem Auto auf eine Odyssee hin zum Tatort. Ganz nebenbei cruist man dabei mit der Protagonistin durch die israelische Besatzungs- und Siedlungsgeschichte. Auf der von Checkpoints unterbrochenen Fahrt nord-westlicher Negev wird auch der Wandel durch die israelische Siedlungspolitik konkret, die zahllose arabische Dörfer von der Landkarte hat verschwinden lassen.Bei ihrer Fahrt durch Israel trifft die Protagonistin auch auf freundliche, hilfreiche Israelis. Israelische Soldaten dagegen werden nicht als Individuen dargestellt. Die Handlung der beiden Romanteile spiegelt sich, und ist wie Ueli Bernays in der NZZ schreibt zwar, „tatsächlich etwas verfänglich: Zweimal erweisen sich israelische Soldaten hier als kalte, anonyme Täter. Als Indiz für Antisemitismus aber reicht das kaum.“Die beiden Romanteile sind nicht nur über den Inhalt verknüpft. Variierende Motive sind wie ein Echo oder Kommentar in den Text eingewoben: die Natur als Konstante, Sandhügel versus Betonbebauung, die den Tagesablauf bestimmende Sonne, immer wieder ein jaulender Hund. Der von alltäglichen Grenzen überforderte, von Angst geprägte psychische Zustand der Ich-Erzählerin, die „vor allem damit beschäftigt ist, zu überleben“, ist auch ein Porträt der Psyche einer Gesellschaft, deren Alltag durch die israelische Besatzung von Gewalt, Beschränkung der Freizügigkeit, Willkür und Unsicherheit geprägt ist.Erste Übersetzung ins DeutscheIn beiden Roman-Teilen legt die Autorin großen Wert auf die Umstände, in die Personen geworfen sind. Durchaus nachvollziehbar ist daher die Begründung der Preisjury, die den Roman als „ein formal wie sprachlich streng durchkomponiertes Kunstwerk, das von der Wirkmacht von Grenzen erzählt und davon, was gewalttätige Konflikte mit und aus Menschen machen“ bezeichnet.Eine Nebensache ist 2022 auf Deutsch erschienen und ist der erste Text von Adania Shibli, der ins Deutsche übersetzt wurde. Neben der Veröffentlichung von Kurzgeschichten, Essays und Theaterstücken, die teils mit Preisen ausgezeichnet wurden, arbeitet die Autorin auch im universitären Bereich. Sie lebt in Deutschland und Jerusalem. Mit dem LiBeraturpreis, der seit 1987 vergeben wird und derzeit mit 3.000 Euro dotiert ist, zeichnet die Organisation für Übersetzungsförderung Litprom Autor:innen aus dem globalen Süden aus.Auch die Ich-Erzählerin bleibt namenslos. Zunehmend ziellos wirkend zögert sie die Rückkehr nach Hause hinaus, während die Geschichte etwas von märchenhafter Suche bekommt, bei der ihr eine alte Frau den Weg weist. Bis zum Schluss begleitet sie die Überforderung, Grenzen zu erkennen. Aber auch der Wille, ihr Ziel zu erreichen. Und wie das im Roman zitierte unverwüstlich nachwachsende Gras, geht das Vergangene eben doch nicht immer ganz vergessen – etwa, wenn eine Autorin es ausgräbt und literarisch verarbeitet. Dabei steht die Palästinenserin Adania Shibli auf einer Seite, aber antisemitisch ist ihr Roman nicht. Nirgendwo im Text wird Gewalt propagiert.„Der Roman ist preiswürdig“, befindet Iris Radisch in der Zeit in einer sehr interessanten Lesart des Romans. Die Entscheidung, die Verleihung des Preises zu verschieben, ist vermutlich vernünftig und eröffnet die Möglichkeit, ihn unter weniger aufgeladenen Vorzeichen zu würdigen. Laut Guardian wäre die Autorin bereit gewesen, zur Verleihung zu kommen und über die Rolle von Literatur in Zeiten wie diesen zu sprechen. Vielleicht ist die Verschiebung daher tatsächlich eine verpasste Chance, das zu tun, was jetzt erforderlich wäre: Differenziert zu bleiben, Hamas von „alle Palästinenser:innen“ zu trennen ebenso wie Israelkritik von Antisemitismus (und Realität von Literatur). Und vor allem: allen betroffenen Stimmen Raum zu geben.
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