Adania Shibli: „Die LiBeraturpreis-Affäre war nur eine Ablenkung, nichts weiter“
Palästina-Israel Zum ersten Mal seit der Absage der Verleihung des LiBeraturpreises auf der Frankfurter Buchmesse äußert sich die palästinensische Autorin. Seit dem 7. Oktober habe sie die Sprache verlassen, sagt sie und beklagt das Sterben eines Traums
Adania Shibli: „In den letzten Wochen hat mich die Sprache im Stich gelassen“
Foto: Wiktoria Bosc/Fondation Jan Michalski
Die palästinensische Schriftstellerin Adania Shibli hätte während der Frankfurter Buchmesse mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet werden sollen; nach dem Hamas-Anschlag am 7. Oktober wurde die Preisverleihung von der Leitung der Buchmesse aber abgesagt und verschoben. Shibli äußerte sich bislang nicht dazu, ein geplantes Interview in der Zeit kam nicht zustande. Dem Guardian aber, unserem Medienpartner, gab sie ein erstes Interview, das wir hier veröffentlichen.
Als sie ein Kind war, lernte Adania Shibli auf dem Bauernhof ihrer Familie in Palästina, zwischen Mandeln- und Olivenbäumen, eine erste Geschichtenerzählerin kennen. Es war ihre Mutter. „Wenn damals der Strom ausfiel, scharte meine Mutter uns um sich“, sagt Shibli, „denn
iew, das wir hier veröffentlichen.Als sie ein Kind war, lernte Adania Shibli auf dem Bauernhof ihrer Familie in Palästina, zwischen Mandeln- und Olivenbäumen, eine erste Geschichtenerzählerin kennen. Es war ihre Mutter. „Wenn damals der Strom ausfiel, scharte meine Mutter uns um sich“, sagt Shibli, „denn wir hatten Angst und konnten nicht lesen. Sie erzählte uns Geschichten, bis das Licht wieder anging.“Shiblis Mutter konnte selbst weder lesen noch schreiben, und so leben die Geschichten, die sie erzählte, nur noch in Shiblis Geschwistern weiter. An einem Morgen in Zürich, wo die Schriftstellerin gerade auf Schreibaufenthalt weilt, taucht eine dieser Geschichten aus der Erinnerung wieder auf. Als sie sie im Zoom-Gespräch erzählt, zeigt sie jenes Lächeln, das sich jedes Mal auf ihrem Gesicht ausbreitet, wenn sie von ihrer Familie spricht. Im Strudel der Erzählung verliert sich die Handlung, aber eines wird deutlich: In der Geschichte verliert ein Mann alles, weil er unachtsam mit Worten umgeht.Shibli erzählt diese Geschichte nicht ohne Grund. Im Oktober hätte sie auf der Frankfurter Buchmesse mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet werden sollen, einer Auszeichnung für Autoren aus dem globalen Süden, die von der deutschen Literaturorganisation LitProm vergeben wird. Mit Verweis auf den Krieg zwischen Israel und Gaza wurde sie „in einer kurzen E-Mail“, wie sie sagt, abrupt ausgeladen. Daraufhin unterzeichneten mehr als 1.500 Autoren einen Brief, der die Verschiebung ihres Preises kritisiert, darunter die Nobelpreisträger Annie Ernaux, Abdulrazak Gurnah und Olga Tokarczuk. Shibli selbst hat sich jedoch bisher nicht öffentlich zu der Affäre geäußert.Ihre Figuren leben in der Landschaft einer vernarbten SpracheTrotz der vielen Anfragen, die sich in ihrem E-Mail-Postfach stapelten, flog sie nach Korea, um an einem Literaturfestival teilzunehmen und eine Übersetzung ihres Buches vorzustellen. Sie hatte den Organisatoren in Seoul vorher zugesagt, dass sie kommen würde, und wollte ihr Wort nicht brechen. „Wenn man sagt, dass man etwas tun wird, muss man sich auch dran halten“, sagt sie.Diese Einstellung zu Sprache mag einer der Gründe sein, warum Shibli in 25 Jahren des Schreibens nur drei kurze Romane veröffentlicht hat: Misas (auf Englisch unter dem Titel Touch erschienen), Kulluna baid bi-dat al-miqdar an al-hubb (auf English als We Are all Equally Far from Love erschienen) und Eine Nebensache: Exquisite, bis zum hermetischen geschliffene Bücher, die das Innenleben von Figuren evozieren, gegen welche Sprache als Waffe, als Instrument oder als eine Art Käfig gerichtet wird. Ihre Romane formen geschmeidige, berückende Daseinszustände, die in ihren Figuren trotz dieser Systeme fortbestehen, in der Landschaft einer, wie sie es nennt, „vernarbten Sprache“.Dies gilt insbesondere für Eine Nebensache, ein Buch mit zwei ineinander verschlungenen Erzählungen. In der ersten, die sich im August 1949 abspielt, stößt ein Offizier, der ein Bataillon anführt, das die südliche Negevwüste von verbliebenen Arabern und Beduinen „säubert“, auf ein Beduinenmädchen, entführt es, vergewaltigt und tötet es schließlich. In der zweiten Hälfte des Buches liest eine Frau, die auf den Tag genau 25 Jahre nach diesem Verbrechen geboren wurde, einen Zeitungsartikel darüber. Sie macht sich auf den Weg, um mehr darüber zu erfahren, und überwindet dabei allerlei Hindernisse, wie man es von einer Palästinenserin erwarten würde, die versucht, durch Checkpoints zu Bibliotheken und Archiven zu gelangen, um Zugang zu ihrer Vergangenheit zu erhalten.„Es ist ein Wunder, dass die Literatur, die Adania aus einem so politischen Material macht, so karg existentiell ist“, schreibt mir der Romanautor Adam Thirlwell in einer E-Mail. „Das hat was mit einer Verbindung aus Absicht zu tun, mit physischer Präzision, von Körpern und Landschaften, kombiniert mit genauer kompositorischer Kontrolle und einer Perspektive voll von schwarzem Humor. Der Roman ist eine komplexe Studie über Empathie und grenzüberschreitende Erkundungen.“Ein 12 Jahre dauernder SchreibprozessShibli hat 12 lange Jahre gebraucht, um das Buch zu schreiben. Während dieser Zeit zog sie nach London, um in Medien- und Kulturwissenschaften zu promovieren (ihre Dissertation befasste sich mit der visuellen Repräsentation der Anschläge von 9/11). Es war die Zeit der zweiten Intifada, sie hatte Albträume. Doch dadurch, dass sie weit weg von dem Ort lebte, an dem ihre Sprache gesprochen wurde, konnte Shibli ihr noch näher kommen.Als das Buch im Frühjahr 2022 in Deutschland erschien, wurde Eine Nebensache von den Kritikern begeistert aufgenommen. Doch im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse schrieb der Journalist Carsten Otte eine Rezension, in der er sich darüber beschwerte, dass in dem Buch „alle Israelis anonyme Vergewaltiger und Killer“ seien, „die Palästinenser hingegen Opfer von vergifteten bzw. schießwütigen Besatzern“. Shibli ist überzeugt, dass diese Rezension für die Entscheidung, die ihr zugedachte Preisverleihung zu verschieben, den Ausschlag gab. Trotzdem sagt sie: „Ich habe die ganze Sache als Ablenkung von dem wirklichen Schmerz empfunden, nichts weiter“.Im Gespräch mit mir verweist Shibli darauf, dass auch alle palästinensischen Figuren in dem Buch namenlos sind. Nicht nur das: Als in dem Roman zum ersten Mal Araber auftauchen, treten sie nur als Schatten auf, denen der Soldat begegnet: „Ihre schlanken schwarzen Schatten fächerten manchmal vor ihm, zwischen den Hügeln zitternd, aber wann immer die Fahrzeuge auf sie zurasten, fanden sie niemanden, wenn sie ankamen.“Auch Shibli kommt aus einer Beduinenfamilie. Ihre Vorfahren zogen vor 1.000 Jahren als Krieger für Saladin, den ersten Sultan von Ägypten und Syrien, nach Palästina. Danach wurde ihrer Familie ein großes Gebiet übertragen, das jedoch im Laufe der Zeit immer weiter schrumpfte, zunächst durch die britische Herrschaft über das Mandatsgebiet Palästina und dann durch die Gründung des Staates Israel, der das nomadische Umherziehen der Beduinen stoppte, weil es „die Kontrolle über Land und Leute stört“, wie Shibli es ausdrückt. Schließlich beschlagnahmte die israelische Regierung die gesamten Ländereien und gab zugleich ihrem Vater die Möglichkeit, Land zurückzufordern, wenn er es einer anderen palästinensischen Familie wegnahm. Er weigerte sich.Sprache zeigt nicht nur, sie verbirgt auch und gibt dem Schweigen RaumShibli wuchs auf dem Bauernhof, der übrig geblieben war, auf und begann im Alter von vier Jahren bei der Arbeit mitzuhelfen. Bevor sie in die Schule kam, hatte sie von einer Schwester Arabisch und von einer anderen Englisch lesen und schreiben gelernt und schmuggelte Bücher mit aufs Feld. „Ich verbrachte mehr Zeit mit unseren Ziegen als mit meinen Eltern“, sagt sie lachend. Mit neun Jahren schenkte ihr eine Schwester ein Notizbuch, in das sie schreiben konnte, und seitdem hat sie damit nicht mehr aufgehört. Während ihres Studiums reichte sie ihre Texte bei den renommiertesten Literaturzeitschriften Palästinas ein. Mit Anfang 20 wurde der legendäre Dichter Mahmoud Darwish auf einen ihrer Artikel aufmerksam und bat sie, einen vierseitigen Text zu schreiben. Sie tat es, er ermutigte er sie zu mehr: So entstand ihr erster Roman Misas (Berührung).Fast 30 Jahre später fasst Shibli das Geflecht aus Macht, Sprache und Auslöschung, mit dem sich ihr Buch beschäftigt, wie folgt zusammen: „In Palästina-Israel wuchs ich, wie viele andere, mit der Erkenntnis auf, dass Sprache nicht nur ein Mittel zur Kommunikation ist. Oft verbirgt sie etwas eher, als dass sie es artikuliert, und birgt in ihrem Schweigen unendliche Möglichkeiten, fern vom sprachlichen Ausdruck. Sprache kann angegriffen und missbraucht werden. Zugleich kann sie die ultimative Freiheit des Seins und der Liebe bieten, zu der man in der Wirklichkeit keinen Zugang hat.“Als Palästinenserin kann die Vernarbung der Sprache schmerzhaft sein. Wie schreibt man, was man nicht hören kann? Es beginnt mit der Ausradierung „bestimmter Wörter“, sagt Shibli, „deren erstes gleich schon ’Palästina' ist, dann die Namen von Orten, die wir auf Arabisch aussprechen, die aber nie auf Straßenschildern oder Landkarten zu finden sind, dann das Schweigen aller um uns herum über die Vergangenheit, dann das Wort Araber und Arabisch, aber als Schimpfwort verwendet, oder dass man sagt ‚arabische Arbeit‘, wenn man Pfusch meint, und so weiter.“Wenn sie über Sprache spricht, klingt Shibli oft so, als würde sie von einem fühlenden Wesen mit einem eigenen Willen sprechen. Eines, das verletzt werden kann. Seit der Gewaltexplosion in Israel und Palästina sind ihr die Worte fast gänzlich abhandengekommen, und sie macht sich Sorgen über ihren Verbleib. „Ich habe immer Angst gehabt, dass ich eines Tages aufwachen könnte und keine Sprache mehr haben würde. In den letzten vier Wochen hat mich die Sprache wirklich verlassen, es war, als ob sie nicht da wäre. Wann immer ich es versuchte, bin ich gescheitert.“Der Verlust des Traums von einem Miteinander, in dem wir aus dem Schmerz lernen, anstatt ihn auf andere loszulassen„Inzwischen verstehe ich diesen Sprachverlust als Folge des Aushaltens des Schmerzes: des unfassbaren Leids derer in Palästina-Israel, gegen die ein neues Maß an Grausamkeit entfesselt wurde. Und des persönlichen Schmerzes über den Verlust eines Traums: Dass wir es wagen konnten, uns eine neue Form des Miteinanders vorzustellen, in der wir uns erlauben, aus dem Schmerz zu lernen, anstatt ihn auf andere loszulassen.“Die zahlreichen Medienanfragen der letzten Wochen und die Kritik an ihrer Nichtbeantwortung hätten ihr vor Augen geführt, dass wir dazu neigen, das Schweigen auf etwas zu reduzieren, das abgelehnt werden muss, anstatt „unsere Unfähigkeit zu Sprechen als Begleiterin des Schmerzes anzuerkennen“. „Die Literatur ist für mich der einzige Ort, der das Schweigen akzeptiert“, sagt sie.Shibli hatte bereits mit dem Schreiben eines Textes begonnen, den sie als Dankesrede halten wollte, bevor sie von der Buchmesse ausgeladen wurde. Er handelte von verbotenen Büchern.
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