Deutschland ist ein Ort, wo ein bayerischer Wirtschaftsminister mit antisemitischen Schmierereien davonkommt, während eine palästinensische Autorin, die über die historisch verbürgte Geschichte einer Vergewaltigung durch israelische Täter schreibt, wegen Antisemitismus gecancelt wird, schrieb der in Israel geborene Autor Tomer Dotan-Dreyfuß am Wochenende sinngemäß auf Facebook.
Anlass dieser Zeilen ist eine umstrittene kulturpolitische Entscheidung. Am kommenden Freitag sollte Adania Shibli den LiBeraturpreis 2023 erhalten. Mit dem LiBeraturpreis, der seit 1987 vergeben wird und derzeit mit 3.000 Euro dotiert ist, zeichnet die Organisation für Übersetzungsförderung Litprom Autor:innen aus dem Globalen Süden aus. Eine Jury hatte Mit
Eine Jury hatte Mitte Juni entschieden, ihren Roman Eine Nebensache auszuzeichnen. Darin erzählt die in Ramallah und Berlin lebende Autorin zwei Geschichten. Zum einen greift sie einen Missbrauchs- und Mordfall an einem Beduinenmädchen durch israelische Soldaten im Jahr 1949 auf, den Journalisten der links-liberalen israelischen Tageszeitung Haaretz vor gut zwanzig Jahren aufgedeckt haben. Zum anderen spiegelt der Roman die Ich-Perspektive einer jungen Palästinenserin, die Jahrzehnte später dem Fall auf eigene Faust auf den Grund geht und dabei auf tragische Weise ums Leben kommt.Die Preisverleihung wurde nun kurzfristig abgesagt, man suche nach einem geeigneten Rahmen für eine Preisübergabe zu einem späteren Zeitpunkt, teilte der Litprom e.V., der den Preis seit 1987 jährlich vergibt, wortkarg auf seiner Website mit. Aus einem DLF-Interview mit Vorstandsmitglied Zoe Beck erfährt man, dass gerade „niemandem wirklich nach Feiern zumute“ sei. Hintergrund ist der Terrorangriff der Hamas auf Israel, aber auch eine Atmosphäre, in der wenig Raum für Differenzierung und sachliche Auseinandersetzung ist.Vorwürfe in den MedienDas war vor vier Monaten noch anders. Da lobte die Jury für den LiBeraturpreis den Roman als „formal wie sprachlich streng durchkomponiertes Kunstwerk, das von der Wirkmacht von Grenzen erzählt und davon, was gewalttätige Konflikte mit und aus Menschen machen.“ Aber angesichts der Maßlosigkeit des Terrors scheint eine solche Einordnung nicht mehr passend zu sein. Zumindest wärmten einige eifrige Journalist:innen eine bereits im Sommer geführte Diskussion wieder auf, um Buch und Autorin vor dem Hintergrund der Ereignisse im Nahen Osten zu kompromittieren.Welt-Literaturchefin Mara Delius bezeichnete die Verleihung des Preises an Adania Shibli als einen „Skandal, den die Buchmesse nicht braucht“ und in der taz fragte Carsten Otte, ob man auf der Frankfurter Buchmesse einen Roman auszeichnen könne, „der Israel als Mordmaschine darstellt“. In seinem wenig sachlichen Text (nebst herbeifantasiertem BDS-Vorwurf) unterstellte Otte dem Roman eine „ideologische und auch menschenverachtende Basis“, weil „alle Israelis anonyme Vergewaltiger und Killer“ seien, während die Palästinenser als „Opfer von vergifteten bzw. schießwütigen Besatzern“ dargestellt würden. Der Vorwurf, der Roman bediene „antiisraelische und möglicherweise auch (strukturell) antisemitische Muster“ kam ursprünglich von dem WDR-Journalisten Ulrich Noller, der sich aus Protest gegen die Auszeichnung durch Litprom aus dessen Weltempfänger-Jury zurückzog.Der Vorwurf des Antisemitismus wiegt zurecht schwer, in Deutschland sowieso. Entsprechend gründlich wurde der Roman nun noch einmal gelesen. Und Überraschung, die vorgebrachten Argumente konnten zahlreiche Kritiker:innen, darunter der Tagesspiegel, die Süddeutsche Zeitung und die FAZ, nicht nachvollziehen. Aufmerksame Leser:innen würden aber auch selbst feststellen, dass Israelis im Roman nicht nur als Vergewaltiger und Killer auftauchen. Eine israelische Kollegin überlässt der palästinensischen Erzählerin sogar selbstlos ihren Pass, damit diese Archive in Israel aufsuchen kann. Das Unbehagen, das die Erzählerin auf ihrer Reise begleitet, ist damit begründet, dass sie mit falschen Papieren unterwegs ist. Hier von einer einseitigen, gar dämonisierenden Darstellung Israels oder der Israelis zu sprechen, entbehrt jeder Tatsache.Folgen der ausgesetzten PreisverleihungIn Deutschland wurden vor allem Shiblis „hyperpräzise Erzählweise“ und „die unerwartete Kraft“ des Romans gelobt, der einen „mit voller Wucht“ umhaue. Auch international überzeugte Shiblis Werk, die englische Übersetzung war für den National Book Award und den International Booker Prize nominiert. Entsprechend verwundert rieb sich Iris Radisch in der vergangenen Woche die Augen, „wie bedenkenlos ein Roman einer palästinensischen Autorin plötzlich in die unmittelbare Nachbarschaft der aktuellen Massenmorde der Hamas gestellt wird.“ Mit seriöser Literaturkritik hätten die Angriffe auf Adania Shibli nichts zu tun, ergänzte die Feuilletonchefin der ZEIT auf Facebook. Selbst der PEN Berlin schaltete sich ein und forderte, den Preis an Shibli zu verleihen.Die kleinlaute Aufschiebung der Preisverleihung ist das vorläufige Ende einer Debatte, aus der alle beschädigt hervorgehen. Eine leise Autorin, die unverschuldet zur politischen Akteurin gemacht wird. Ein preiswürdiger Roman, dessen literarische Qualitätaus dem Blick gerät. Ein engagierter Verein, der dem medialen Druck nicht gewachsen ist. Und eine internationale Messe, die bereits die ersten Absagen arabischer Verlage erhalten hat. Dass sich am Ende dieser Causa, über die selbst die New York Times berichtete, ausgerechnet jene Feuilletonisten als Sieger fühlen können, die plump politisierend gegen Roman und Autorin vorgegangen sind und jede sachliche Betrachtungsweise haben vermissen lassen, ist ein Trauerspiel.Angesichts der Bilder, die uns aus Israel erreichen, ist dieser Vorgang nicht mehr als eine Nebensache. Aber eine, die belegt, dass der Terror auch hier seine Spuren hinterlässt. Differenzierung und Menschlichkeit geraten unter dem Eindruck der Ereignisse mehr und mehr ins Hintertreffen. Und das ist alles andere als eine Nebensache.Denn bei aller Sprachlosigkeit wird es irgendwann wieder Worte brauchen, damit die Waffen schweigen. Adania Shiblis psychologisch tiefgreifender Roman böte in seiner vorbehaltlosen Menschlichkeit eine mögliche Grundlage, mit dem Sprechen wieder zu beginnen.