Antonio Negri: Kämpfen wir global gegen das Kriegsregime!
Post mortem Im August 2022 warnte der jüngst verstorbene Toni Negri vor einem aufziehenden Kriegsregime als Folge des Machtverlusts der USA. Er rief dazu auf, in Europa für den Frieden zu kämpfen – und eine neue Weltordnung von unten aufzubauen
Antonio Negri über die Vorboten eines permanenten Kriegszustandes auf globaler Ebene
Foto: Di Salvo/Fotogramma/Ropi/picture alliance
Diesen Text verfasste Toni Negri zusammen mit dem Politikwissenschaftler Sandro Mezzadra im August 2022. Er erschien zu Beginn des italienischen Präsidentschaftswahlkampfs, aus dem die Postfaschistin Giorgia Meloni als Ministerpräsidentin hervorgehen sollte, auf der Seite des Wissenschaftskollektivs euronomade. Der Krieg in der Ukraine dauerte zu der Zeit fünf Monate an, Nancy Pelosi, damals Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, besuchte Taiwan, und Israel führte in der sogenannten „Operation Breaking Dawn“ Luftangriffe gegen Gaza aus. In Madrid hat die Nato sich neu aufgestellt.
Während der italienische Wahlkampf im heißesten August aller Zeiten beginnt, wird nicht nur der Klimawandel in der politischen Debatte ignoriert. Schweigen scheint a
to sich neu aufgestellt.Während der italienische Wahlkampf im heißesten August aller Zeiten beginnt, wird nicht nur der Klimawandel in der politischen Debatte ignoriert. Schweigen scheint auch über das Thema Krieg zu herrschen. Es gibt einen unausgesprochenen Konsens für die als „europäisch und atlantisch“ definierte außenpolitische Linie (Teil der schon mythologischen „Draghi-Agenda“). Diese Linie wird als so selbstverständlich angesehen, dass man vergeblich nach tatsächlichen oder möglichen Abweichungen davon sucht – sowohl in der Rechten, als auch in der Linken, und auch bei den Fünf Sternen. Rechtsextrem und doch prowestlich: Giorgia Meloni nutzt die Zweideutigkeit der oben genannten Formel aus, indem sie die atlantische Zugehörigkeit ihrer Partei betont und ihr eine europäische Positionierung unterschiebt, die ihr Vorbild im polnischen Nationalismus findet. Das ist alles, was es heute braucht, um auf der „internationalen“ Bühne zu bestehen.Der russische Krieg in der Ukraine stellt die sozialen Bewegungen und die Linke, so vielfältig und widersprüchlich sie ist, auf die Probe. Der offenkundige Unterschied zu den Kriegen der jüngsten Vergangenheit – diesmal tritt Russland als Aggressor auf – hat die Anti-Kriegs-Mobilisierungen nach dem Februar 2022 schnell an ihre Grenzen gebracht. Mancherorts gab es groteske Positionen der Unterstützung für Russland aufgrund von antiimperialistischen Reflexen (ohne Berücksichtigung des offen reaktionären Charakters der von Putin verteidigten „Zivilisation“ innerhalb und außerhalb des Landes), andernorts waren in vielen Initiativen der Solidarität mit dem ukrainischen Volk und seiner Flüchtlinge ein moralischer Konflikt zu spüren – der es aber nicht schaffte, über einen allein humanitären Ansatz hinauszukommen.Wird Krieg der neue Normalzustand?Wir halten es für dringend nötig, diese festgefahrene Situation zu überwinden, die übrigens nicht nur Italien betrifft. Der Krieg, der seit mehr als fünf Monaten andauert und in der Ukraine ausgefochten wird, hat den Charakter eines europäischen Krieges. Aber es handelt sich nicht nur um einen europäischen Krieg: Der Krieg hat eine globale Dimension, der man sich kaum entziehen kann, wenn man sich die militärische Sonderoperation der israelischen Armee im Gazastreifen ansieht (die den Iran zum Ziel hat). Und man kann sich der globalen Dimension des Krieges auch nicht entziehen, angesichts dessen, was nach der Reise von Nancy Pelosi nach Taiwan passiert, die als Provokation aufgefasst werden muss. Natürlich gibt es keinen direkten Zusammenhang zwischen diesen Konflikten und dem Krieg in der Ukraine: aber die Verbindungen sind vielfältig und sie sind Vorboten eines permanenten Kriegszustandes auf globaler Ebene, der zum neuen Normalzustand zu werden droht (mit dem Wettrüsten sowohl als Voraussetzung als auch als Ergebnis dieser Entwicklung). Gegen den Krieg in der Ukraine zu kämpfen, bedeutet, gegen dieses aufkommende globale Kriegsregime zu kämpfen.Wir müssen verstehen, was die tiefgreifenden und langfristigen Entwicklungen sind, die zu der sehr gefährlichen Situation führen, in der wir uns befinden. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine findet im Rahmen dieser globalen Entwicklungen statt. Spätestens seit der Finanzkrise von 2007 bis 2008 leben wir in einer multipolaren Welt. Das bedeutet, dass, wie Immanuel Wallerstein und Giovanni Arrighi seit den 1990er Jahren warnen, die grundlegende Entwicklung unserer Gegenwart die Krise der globalen Hegemonie der Vereinigten Staaten ist, die Krise ihrer „soft power“. Wir sehen jedoch kein Szenario eines Zusammenbruchs der Vereinigten Staaten heraufziehen. Realistischer stellen wir fest, dass die Fähigkeit der USA abnimmt, ein Einvernehmen über die globale Markt- und Handelspolitik durchzusetzen (der so genannte Washingtoner Konsens). Sowohl in Asien als auch in Lateinamerika und Afrika sehen sich die Vereinigten Staaten mit widerstrebenden Gesprächspartnern konfrontiert, da neue Großmächte mit ihnen um Einflussbereiche konkurrieren.Lange vor Putins Krieg in der Ukraine entstand eine Situation, die Adam Tooze als „zentrifugale Multipolarität“ bezeichnet. Diese Situation übte nicht nur zunehmend Druck auf die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Weltinstitutionen aus (in erster Linie die Vereinten Nationen), sondern auch auf diejenigen, die – aus den Bretton-Woods-Abkommen hervorgegangen – nach dem Ende des Kalten Krieges neu aufgestellt worden waren und zur Keimzelle der wirtschaftlichen Steuerung der Globalisierung wurden: die Weltbank, der Internationale Währungsfonds, die Welthandelsorganisation.Die Globalisierung militarisiert sichUnter diesen Bedingungen kann sich die Multipolarität leicht von einer zentrifugalen in eine konflikthafte Situation wandeln, und das Terrain des Konflikts betrifft die Organisation der Räume der Globalisierung oder, wenn man so will, die politische Organisation des Weltmarkts. Wir sind überzeugt: Man kann nur dann von einem Ende der Globalisierung sprechen, wenn man sie auf die neoliberale Rhetorik reduziert, mit der sie in den 1990ern gefeiert wurde. Aber die wechselseitigen materiellen Abhängigkeiten (sichtbar sowohl in der Schwierigkeit, Russland zu sanktionieren als auch in der „Getreidekrise“) und die Verwurzeltheit von globalen Prozessen, die Volkswirtschaften und Gesellschaften über den ganzen Planeten hinweg miteinander verbinden, so radikal verschieden sie auch sind, erfordern neue politische Strukturen und Dispositive der Regierung.Diese turbulente Übergangssituation auf globaler Ebene, in der der Krieg in den Mittelpunkt der Globalisierungsprozesse zu rücken droht, zwingt uns, erneut über den Imperialismus als wiederkehrendes Konzept nachzudenken – wir kommen darauf zurück.Doch in der Zwischenzeit wollen wir das grundlegende Problem der Beendigung des Krieges aufwerfen, überall auf der Welt und insbesondere in der Ukraine, wo die kaum verhüllte Konfrontation zwischen Russland und der Nato täglich das Gespenst der Atomwaffen heraufbeschwört. Der Krieg in der Ukraine muss gestoppt werden, um das Massaker an der Zivilbevölkerung und die Zerstörung des Landes zu beenden. Aber er muss auch gestoppt werden, um vehement die Notwendigkeit zu bekräftigen, das, was wir als globales Kriegsregime bezeichnen, zu entschärfen und einen hegemonialen Übergang durchzusetzen, der sich nicht auf Krieg stützt. Seien wir uns darüber im Klaren: Der Krieg schließt den Raum für den Kampf um Gleichheit und Freiheit. Um es noch klarer auszudrücken: Krieg ist die Verweigerung aller Formen des zivilen und wirtschaftlichen Wachstums.Es ist aber durchaus möglich, weltweit gegen das Kriegsregime zu kämpfen: Wir haben keine Sympathie für irgendeine Regierung der heutigen Schwellenländer, und doch können wir nicht umhin, in der sich abzeichnenden multipolaren Welt das Echo antikolonialer Kämpfe zu spüren; wir lehnen Xi Jinpings Autoritarismus und Nationalismus ab, und doch können wir nicht umhin, in Chinas Wachstum die Impulse jahrzehntelanger proletarischer Klassenkämpfe zu sehen; wir sehen insbesondere in Lateinamerika das Fortdauern eines mächtigen Schubs sozialer Bewegungen, der in neuen „fortschrittliche“ Regierungen durchscheint und Prozesse regionaler Integration vorwegnimmt. Uns scheint, die Wiederherstellung einer internationalistischen Sichtweise, die in der Lage ist, diese Echos und Schübe mit den Kämpfen in den verschiedenen Regionen der Welt zu verbinden, ist eine essentielle Aufgabe, weitaus dringlicher als die Eile, sich in die Fronten eines angeblichen Clashes zwischen „Autokratien“ und „Demokratien“ einzureihen.Russland macht seinen imperialen Anspruch geltend – auch in AfrikaKehren wir zum Krieg in der Ukraine zurück. Putin glaubte, die Gelegenheit des globalen Machtschrumpfens der USA nutzen zu können, um die Frage der Neudefinition der Sicherheitsarchitekturen in Europa aufzuwerfen und gleichzeitig Russlands imperialen Anspruch geltend zu machen. Der Angriff gegen die Ukraine mit ihrer unerträglichen Wucht von Tod und Zerstörung findet hier seine „Gründe“. Hinter der „militärischen Sonderoperation“ steht ein „politischer Kapitalismus“, der in seinem Wesen auf Ausbeutung beruht und statisch ist. Aber es geht auch um den Aufbau autoritärer Regime, um Kriege in Tschetschenien und Syrien und um die Ausdehnung der russischen Macht nach Libyen und Mali. Es besteht kein Zweifel, dass Putin zu unseren Feinden gehört (und insbesondere zu den Feinden derjenigen, die in Russland für Gleichheit und Freiheit kämpfen). Doch je mehr Monate vergehen, desto deutlicher wird, dass die Reaktion des Westens auf den Krieg und insbesondere sein Beharren auf dem ukrainischen „Sieg“ das Putinsche Regime weit mehr zu festigen droht, als es zu schwächen hilft.Es stimmt zwar, dass Trump versucht hat, eine Art „Abspaltung“ von der multipolaren Welt zu betreiben, um Amerika „wieder groß zu machen“ – innerhalb einiger weniger Räume. Aber die Biden-Regierung sah den Krieg in der Ukraine dann als Gelegenheit, auf die Krise der globalen Hegemonie der USA zu reagieren, indem sie einen Westen um sich herum reorganisierte, dessen geografische Koordinaten vom Atlantik bis zum Indopazifik reichen. Der reaktive Charakter dieses Projekts sollte offensichtlich sein: Ein Westen, der in den letzten Monaten sein Comeback feierte, nachdem er seinen „universellen“ Charakter verloren hatte, präsentiert sich nun als ein Akteur, der gezwungen ist, die strukturelle Präsenz anderer Akteure auf dem globalen Terrain anzuerkennen. Dies ist einer der vielen Unterschiede zur Zeit des Kalten Krieges.Der kurze Frühling des Sozialstaates wird zum Sommer der NatoDie ausdrückliche Anerkennung des Indopazifik als Gebiet von strategischem Interesse für die Nato im neuen Strategischen Konzept, das auf dem Madrider Gipfel im Juni 2022 verabschiedet wurde, zeigt, dass der Krieg in der Ukraine zu einem fundamentalen Sprung für die Organisation führt. Die Nato ist zu einem vollwertigen Militärbündnis auf globaler Ebene geworden – in Europa verstärkt durch den Beitritt Schwedens und Finnlands, die sich bereit zeigen, dem türkischen Druck nachzugeben und Dutzende kurdischer Kämpfer auszuliefern. Was in diesen Tagen in Taiwan geschieht, deutet auf die Gefahren dieses Umbaus hin: Es droht ein Szenario, in dem sich die Vereinigten Staaten durchaus für militärischen Druck entscheiden könnten, um verbündete wie auch bündnisfreie Länder für sich zu überzeugen, die nur ungern eine Konfrontation mit China eingehen würden.Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass diese globale Nato den nicht-westlichen Völkern nur als eine weiße, imperialistische Nato erscheinen wird. Und das aus gutem Grund. Hier stellt sich eine grundlegende Frage für Europa, das es in den letzten Monaten nicht wirklich geschafft hat, eine eigenständige Position zu entwickeln. Dabei war die Europäische Union mit der Pandemie grundlegend anders umgegangen als mit der „Staatsschuldenkrise“. An der Politik der Europäischen Zentralbank und dem Plan „Next Generation EU“ gab es zwar viel zu kritisieren. Aber der Grundsatz der Vergemeinschaftung von Schulden wurde in gewisser Weise akzeptiert, es wurden beträchtliche Mittel für den Wiederaufbau von Gesellschaft und der Wirtschaft mobilisiert, die durch zwei Jahre Pandemie erschöpft waren. Die sozialen Bewegungen erlebten so etwas wie eine demokratische Virtualität. Mit dem Ausbruch des Krieges beobachteten wir jedoch einen brutalen Umbruch, der vom Vorrang der Wohlfahrtspolitik zum Vorrang der Wiederaufrüstung und der wachsenden Rolle der osteuropäischen Länder führte, für die die Nato-Mitgliedschaft immer wichtiger gewesen ist als die EU-Mitgliedschaft.Immer wieder, aber immer neu: Klassenkampf und InternationalismusWir müssen die europäische Frage in den Mittelpunkt der politischen Debatte und des politischen Handelns stellen. In dem Szenario der zentrifugalen und konflikthaften Multipolarität, das wir hier skizziert haben, ist die Öffnung einer Bruchlinie innerhalb des Westens von größter Bedeutung. Die Durchsetzung eines europäischen Interesses, das sich von der Nato-Position unterscheidet, ist eine Voraussetzung, um den Krieg wirksam zu bekämpfen und gleichzeitig die sozialen Auseinandersetzungen und Mobilisierungen aufrecht zu halten, die heute so notwendig sind. Wir wissen, dass die Auswirkungen des Kriegsregimes in der kommenden Zeit in Europa und insbesondere in Italien unmittelbar spürbar sein werden. Wir sind sicher, dass die kommenden Monate von Spannungen und sozialen Auseinandersetzungen geprägt sein werden; wir sind keineswegs sicher, dass sie die Form annehmen werden, die wir uns wünschen.Schon heute, in der italienischen Wahldebatte selbst, müssen wir die politischen Voraussetzungen dafür schaffen: Nein zum Krieg, Nein zu Militärausgaben, angemessene Einkommen und Löhne für alle und jeden, Intersektionalität der Kämpfe: Lasst uns zusammenkommen, um uns – einmal mehr mit diesen einfachen Forderungen, aber auf immer neue Weise – im Klassenkampf und Internationalismus zu verbinden.
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