Mythos und Realität Die türkische Autorin und Journalistin Aslı Erdoğan wurde im Sommer 2016 verhaftet und saß mehrere Monate im Bakırköy-Gefängnis in Istanbul. Seit 2017 lebt sie in Deutschland. Hier erzählt sie, was es bedeutet, im Exil zu leben
Exil. Ein uralter Mythos, der Anfang der Geschichte des Menschen, die Metapher für den Zustand der Menschheit … „Mythos“, einst gleichbedeutend mit „Wahrheit“, erzählte uns, warum wir „hier“ sind, zeigte uns, dass wir „wahrhaftig existieren“, lehrte uns, geboren zu werden, aufzuwachsen und zu sterben. Unsere bekannte tragische Geschichte begann mit einem Missgeschick, wir wurden für alle Zeiten von unserem Aufenthaltsort vertrieben. Wir verloren ein ewiges Leben, verloren die Unendlichkeit des Lebens, die Wahrheit, die Unschuld … Die Menschen des unwiederbringlich verlorenen „Goldenen Zeitalters“ lebten in einem unendlichen Dasein, einem permanenten Werden, einem großen Ganzen, wo alles begann und a
d alles endete, also genau in der Mitte der Welt. Sie erhoben keinen Anspruch auf den Boden, weil sie eins mit ihm waren; da auf jedes Ende ein Anfang folgte, herrschte überall und jederzeit Unendlichkeit. An einem Anfang, den manche als Sünde, andere als Bewusstsein werten, war es, als kippte ein gigantischer Handteller, wir wurden in eine erbarmungslose, bedrohliche Welt verstreut, zu einem aus Abschieden und Verlusten bestehenden Leben verdammt. Wir wurden zum Opfer wie zum Erzähler der von uns selbst ausgelösten Tragödie, zu Staub und Asche, zu Blut und Geschichte.Und noch einmal: Exil … Ein allmähliches, schmerzhaftes Untergehen, ein sich schier endlos hinziehendes Ertrinken in den Tiefen des Vergessens … Ein verschatteter, vager Zustand der Abwesenheit von Dasein … Schweben in einem nebelverhangenen Limbus, zwischen Vergangenheit und Zukunft, die eine so unerreichbar wie die andere … Festhängen in einem Dazwischen, auf der einen Seite eine verlorene, ausgehöhlte Vergangenheit, der man entkam, um den Preis, die Verletzten zurückzulassen, auf der anderen eine nicht einmal versprochene Zukunft, in einem von Fremden vermutlich in guter Absicht eingerichteten Limbus … Im Exil … Zwei Wörter schrieb ich, setzte drei Punkte, holte einmal tief Luft. Drei aufeinanderfolgende Punkte weisen eine Leerstelle aus. Als bestünden diese zwei Wörter aus Leere und Unsagbarem. Zwischen der Metapher Exil und der Realität des Sich-im-Exil-Befindens besteht eine unüberwindliche Distanz und genau in dieser Distanz bildet sich unsere persönliche, einzig wahre Geschichte heraus …Nackt, gehäutet, beinhartEs gibt Augenblicke, in denen die Realität wirklich ist. Augenblicke, die sich schließen wie ein Sargdeckel … Momente, durch die du hindurchmusst wie durch ein Nadelöhr, mitsamt deiner gewaltigen Vergangenheit, deinen Schatten, all deinen „Ichs“ … Nackt, gehäutet, beinhart erscheint die Realität; Bilder, Attribute, Begriffe tröpfeln von ihr herab … Koffer mit abgerissenen Griffen, Ausweispapiere in Plastiktüten, zu besorgende Dokumente, Genehmigungen, Visa; zu erteilende Dokumente, Unterschriften, Verträge, Fingerabdrücke … Bewilligungen, Ablehnungen, Erniedrigungen … Verschiedensprachige Anordnungen, Regeln, unerbittliche Gesetze … Ungebbare Antworten, aufgeschobene Beschlüsse, abgebrochene Sätze … Ein Gefühl wie ein zu langes, allzu gramvolles Ersticken … Zu spät für Reue, für ungeschriebene Bücher, für ungesagte Worte … Freunde heirateten, andere wurden verhaftet, einige legten Hand an sich. Vergebens kramst du in deiner Muttersprache nach dem Namen eines Baumes, den du auf Deutsch gelernt hast; das Buch, das seit dem Studium stets auf deinem Nachttisch lag, vergaßest du in einem Hotelzimmer; dein Glücksarmband riss in wer weiß welcher Stadt; und wieder verpasstest du eine Beerdigung. Du hast dich mitreißen lassen, bald von dieser Unterströmung, bald von der anderen, und triebst ab aus deiner eigenen Geschichte. Sogar deine Einsamkeit kehrte dir den Rücken, verließ dich und setzte ihren Weg in immer anderen Gesichtern fort. „Sei stark!“, ermahnst du dein Herz, in dieser fremden, runzlig runden Welt der Menschen … Sei stark! Du gehst, läufst Gänge entlang, die zu leeren Räumen führen, wirfst Schritt für Schritt ab, was einst „Du“ war, die alten Bilder, die Erinnerungen, die vernarbten Wunden … Du gehst, folgst einem Ruf, einer Stimme, einer erloschenen Spur … Auch wenn du keinen Ort hast, an den du gehen könntest …Und noch einmal: Exil. Neu anfangen, rückwärts von einem Anfang zum anderen gehen. Gleich einem zum Zerreißen gespannten Draht hinüberreichen, von einem Ende eines großen, weißen, leeren Blattes Papier zum anderen … Auf der Suche nach einem Ort, an dem du sein kannst, einem Bild, einer Stimme … Ein Wort erbetteln von der endlos sich dehnenden Stille, als Gegenleistung dein Blut bieten … Umherwandern zwischen Buchstaben und Schatten, zwischen ewigen, aber sterblichen Bildern, dabei auf die Schritte ferner Gespenster lauschen, taumeln, stochern im Gedächtnis gigantischer Trümmer … Geduldig die Bruchstücke zusammentragen … Stundenlang, nächtelang, jahrelang … Warten an den Grenzen jenes verlorenen „letzten Landes“, deiner eigenen Sprache … Warten auf jenes letzte Wort, das einen langen Abschied beendet …Das also ist meine Geschichte. Eine unter etlichen Geschichten, die wieder und wieder gegen die Stille prallen … Eine Seite unter etlichen Seiten, die, kaum übersetzt, vergessen werden. Vielleicht nur ein Komma, zwischen zwei langen Sätzen, zwischen gestern und heute … Es ist aber das Wunder von Wasser, von Jägern geschossene Vögel an die Oberfläche zu tragen, fliegen zu lassen zwischen den Spiegelbildern der Wolken, längst geschlossenen Flügeln einen neuen Himmel zu versprechen … Und das Wunder des Wortes, meiner Zersplitterung einen neuen Leib zu versprechen … Leben fließt in diesen Leib, will, dass er eine Stimme hat, zahllose Welten ruft diese Stimme.(Ich, eine Schriftstellerin im Exil … Ich, weder die erste noch die letzte Schriftstellerin im Exil, drei Punkte. Am Tag, da ich diese Rede schreibe, verabschiede ich meine Mutter zum vierten Mal aus Deutschland – meine drei Operationen und eine Hirnblutung – und weinte am Flugplatz Berlin-Brandenburg. Vom Suizid meiner engsten Freundin erfuhr ich bei einem Signiertermin in Genf. Das Armband, das meine Mithäftlinge mir flochten, verlor ich in der Charité, den Namen des Baumes, den ich auf Türkisch vergessen hatte, googelte ich voller Scham. An der Beerdigung meines Vaters konnte ich nicht teilnehmen.)Was wir verloren, lehrt uns, was wir noch haben. Doch alles, was wir heute haben, zeigt uns, was wir eines Tages verlieren werden. Wir Sterblichen sind die Gesamtheit dessen, was uns gegeben und nicht gegeben wurde, was wir verloren und was wir noch verlieren werden, aller Worte und allen Schweigens … Schließen will ich mit einem Abschiedssatz, einem Satz des Abschieds, den ich nach dem größten Verlust meines Lebens schrieb. Wenn ich alles verliere, bleibt mir das LEBEN. Wie aber soll ich in dem so großen Leben dich wiederfinden?Dass ich alle je verlorenen Stimmen stets „du“ angesprochen hatte, erkannte ich erst Jahre später im Exil.Placeholder authorbio-1
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