Der Wind hat sich gedreht. Noch vor ein paar Jahrzehnten wurden die „Almancıs“, wie sie in der Türkei genannt werden, also „die Deutschländer“ (nicht zu verwechseln mit der Würstchenmarke), noch mit großem Bohei empfangen. So wie meine Eltern, Arbeitsmigranten/Arbeitsmigrantinnen der ersten Stunde. Sie hatten sich in den 1960er Jahren nach dem Anwerbeabkommen zwischen den beiden Ländern, der aufstrebenden Wirtschaftsmacht Deutschland und dem Schwellenland Türkei, dazu entschlossen, sich in kurzer Zeit ein finanzielles Polster zusammenzusparen. Im Falle meiner Eltern sollte es die Grundlage für einen Familienbetrieb sein – der dann übrigens nie gegründet wurde. Bis zum Anwerbestopp ausländischer Arbeiter*in
„Almancıs“ in der Türkei: Geh, wo du wohnst, Deutschländer!
Krise Unsere türkeistämmige Autorin reiste in den Urlaub und machte eine erstaunliche Erfahrung: Noch nie waren die „Almancıs“ so unbeliebt. Das hat Gründe

„Wenn ihr es so toll findet, dann lebt doch hier“, hört man jetzt vor allem von Oppositionellen: Istanbul, August 2023
Foto: Imago/Zuma Wire
*innen 1973 kamen so 900.000 Menschen aus der Türkei nach Deutschland. Mittlerweile leben hierzulande mehr als drei Millionen Menschen, die ihre Wurzeln in der Türkei haben.Seit ein paar Jahren jedoch, vor allem seit dem Anstieg der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Krisensymptome, wächst in der Türkei der Unmut gegen die Almancıs, die in der Heimat ihrer Eltern und Großeltern vielleicht noch ein Zuhause haben oder einfach nur Urlaub an den schönen Stränden machen wollen. Und während in den Sommerferien die Urlaubswütigen ihre Koffer packen und in die Türkei reisen, greifen im Gegenzug die Menschen in der Türkei immer tiefer in die Klischeekiste. „Die konnten sich weder hier noch dort integrieren und sind deshalb so unbeliebt“, schreibt zum Beispiel ein Nutzer auf einer der beliebtesten Infoplattformen der Türkei mit dem Namen Ekşi Sözlük („Das saure Lexikon“) unter dem Stichwort „Almancı“. Auf weiteren 18 Seiten variieren die Bezeichnungen „geizig“, „ungehobelt“, „grobschlächtig“ und „zu dumm, um zwei Sätze auf Türkisch zu sprechen“. Es sind noch die harmloseren Einträge auf der Seite.Lecker Essen am StrandIn diesem Jahr ist die Abneigung nicht mehr nur im Internet zu spüren. Wenn ich mit meiner Familie in der Türkei unterwegs bin und wir gewohnheitsmäßig einen Mix aus beiden Sprachen sprechen – das machen multilinguale Menschen oft, weil das Gehirn energiesparend das treffendere Wort auswählt –, dann ziehen wir oft Blicke oder auch Sprüche auf uns, die auf unsere Herkunft zielen.Das Land hatte erst im Februar eine der größten Naturkatastrophen in seiner Geschichte erlebt, ein Erdbeben mit offiziell mehr als 50.000 Toten. Sechs Monate später sind die Auswirkungen des Bebens im Südosten immer noch überall zu spüren, ganze Dörfer und Städte liegen immer noch in Schutt und Asche. Die Infrastruktur ist nach wie vor stark beeinträchtigt. Bei Temperaturen von über 40 Grad bitten Menschen in der Erdbebenregion in den sozialen Medien um Trinkwasser, während wir urlaubenden Deutschländer es den anderen Touristen gleichtun und das Wetter, die Strände und das gute Essen genießen. Meine türkischen Freunde gehen trotz allem feiern, solange sie es sich leisten können. So wie sie auch weiterhin arbeiten gehen. Sie reden über ihre Depressionen und Medikamente wie über die neuesten Cocktails, schimpfen auf den Staat und dann auf die Deutschländer, die sich in die teuersten Beach Clubs an der Küste mit ihren Euro Eintritt verschaffen können, während für viele Einheimische der Eintritt (um die 20 bis 30 Euro pro Person) unbezahlbar ist. Verständlich, dass viele von ihnen auf die Almancıs nicht gut zu sprechen sind.Und dann ist da noch die Wirtschaftskrise. Die Inflation liegt derzeit bei rekordverdächtigen 50 Prozent. Das Vertrauen in die türkische Lira ist gering, die Preise werden fast täglich an den Dollarkurs angepasst. Mehrmals schon wurden seit der Präsidentschaftswahl im Mai die Benzinpreise erhöht. Die hohe Inflation beeinflusst naturgemäß auch das Einkaufsverhalten der Türkinnen und Türken. Die Regale in den Supermärkten sind zwar gut bestückt, doch die Waren des täglichen Bedarfs kosten fast so viel wie in Deutschland – bei einem durchschnittlichen Einkommen, das bei nur einem Viertel des deutschen Durchschnittslohns liegt. Viele der türkischen Staatsbürger leben auf Pump und halten sich notgedrungen mit Kreditkarten über Wasser. So hört man oft an den Kassen: „Bar oder auf Kreditkarte? Wie viele Raten?“ Es ist eine verlockende Möglichkeit, sich die teuren Angebote doch noch leisten zu können, nämlich mit sechs, zwölf oder 18 Monatsraten. Viele nutzen ihre Kreditkarten, um sich so über Wasser zu halten oder sich den Bikini einer angesagten Marke für diese Saison am Strand zu leisten. Ein Trost auf Pump. Die private Schuldenlast hat sich seit dem letzten Jahr mehr als verdoppelt und beträgt laut dem Statistischen Amt der Türkei inzwischen mehr als 70 Milliarden Euro.So lässt sich vielleicht erklären, dass vor allem junge Leute die neuesten Handys besitzen, denn zumindest diesen kleinen Luxus wollen sie sich gönnen. In einer Zeit, wo Konzerte von Popstars kurzerhand von den örtlichen Verwaltungen abgesagt und die Tickets sowieso kaum erschwinglich sind, sind Internet und soziale Medien ein kostengünstiger alternativer Zeitvertreib. Doch viele junge Menschen sind unzufrieden und wollen das Land verlassen. Laut der jüngsten „Jugendstudie Türkei“ der Konrad-Adenauer-Stiftung, sind nur 17,3 Prozent der Befragten glücklich. Etwas mehr als die Hälfte geben an, mäßig glücklich zu sein, und etwa ein Drittel der Antwortenden ist unglücklich. Kein Wunder also, dass diese Unzufriedenheit sich ihren Weg bahnt und sich über ältere Menschen ergießt, die vor 30 Jahren oder länger das Land verließen und nun im Urlaub die Türkei über den grünen Klee loben.Schuld am NiedergangErbitterte Wortgefechte toben in den Kommentarspalten von Accounts auf Instagram. „Hoffentlich baut ihr einen Unfall und sterbt“, ist unter den Instagram-Auftritten von deutschtürkischen Influencern und Influencerinnen zu lesen, die, wie ihre Eltern oder Großeltern, mit dem Auto in die Türkei in den Urlaub fahren. Autos mit deutschem Kennzeichen werden wütend im Verkehr beäugt, vor allem wenn es Sportwagen oder teurere Modelle sind. Auch mehren sich die Nachrichten, dass bei Autos mit deutschem Kennzeichen die Reifen zerstochen oder die Scheiben eingeschlagen werden. „Wenn ihr es so toll findet, dann lebt doch hier“, ist die Antwort der Unzufriedenen auf die Lobeshymnen der urlaubenden Almancıs auf die Türkei. Vor allem von den Oppositionellen hört man dies verstärkt.„Diese Almancıs haben Erdoğan gewinnen lassen“, sagt die Nachbarin meiner Eltern bei einem türkischen Mokka. Verständlich, dass sie nach dem Wahlerfolg der AKP im Mai dieses Jahres nicht glauben kann, dass ihre eigenen Landsleute noch immer, trotz der angespannten wirtschaftlichen Lage, die Regierungspartei wählen. Die Zahlen, etwa dass konkret nur ein Sechstel der Türkeistämmigen in Deutschland die AKP gewählt haben, treffen auf taube Ohren. „Nein, die sollen einfach nicht wählen, wenn sie nicht hier leben“, sagt sie. Dass die von ihr präferierte Partei, die CHP, also die größte Oppositionspartei des Landes, im Ausland kaum mobilisieren konnte und dass die Stimmen der Auslandstürkinnen und -türken vielleicht nur einen Bruchteil der Gesamtstimmen ausmachen, überzeugt sie nicht. Lieber glaubt sie daran, dass die Almancıs am Niedergang der Türkei mitschuldig sind.Ein anderer Bekannter meiner Eltern war selbst jahrelang in London als Ingenieur tätig und ist nun seit wenigen Jahren wieder in der Türkei ansässig. Er schimpft ebenfalls erbost über die „dummen“ Deutschtürken. Am Strand würden sie mit ihrem Muskeln protzen und sich brüllend und ungelenk unterhalten. „Dangul dungul“ nennt er den deutsch-türkischen Kommunikationsstil. „Ihr seid andere Almancıs, ihr seid nicht so wie sie“, meint er.Ein stereotypes BildGeprägt wurde dieses stereotype Bild der Almancıs über Jahrzehnte. In den 1970ern wurden sie in der türkischen Presse „Gurbetçi“ genannt, etwa „die, die in der Fremde weilen“. Ein melancholischer Begriff, der den Schmerz des Heimwehs eher einfängt als das abfällig gebrauchte „Almancı“. Das Bild der Fremdarbeiter war geprägt durch populäre Kinofilme, die die aufblühende Filmproduktionsszene in Istanbul auf den Markt warf. Sentimentale Filme wie Almanyalı Yarim („Mein Geliebter aus Deutschland“, aus dem Jahr 1974) oder Almanya Acı Vatan („Bittere Heimat Deutschland“ von 1979) zeigen hart arbeitende Türkinnen und Türken in Deutschland, die mit Schicksalssschlägen zu kämpfen haben. Diese Filme waren zwar für das Kinopublikum in der Türkei konzipiert (schließlich hatten viele Familien Angehörige in Deutschland), sollten aber auch auf die Tränendrüsen des türkeistämmigen Kinopublikums in Deutschland drücken, die diese in den Bahnhofskinos der größeren Städte an den arbeitsfreien Sonntagen guckten.Ab den 1980er Jahren, mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in der Türkei unter dem wirtschaftsliberalen Ministerpräsidenten Turgut Özal, veränderte sich die Darstellung der Almancıs allerdings. Komische Typen waren das plötzlich, wie in der Komödie Postacı („Der Briefträger“), in dem ein gewiefter Briefträger seinen Schwager in spe aus Deutschland in den Wahnsinn treibt, indem er dessen Schwester ehelicht und ihm gleichzeitig seine hart verdiente Deutschmark aus der Tasche zieht, um sich ein gutes Leben mit seiner Frau zu gönnen. Auch beliebte Serien wie Bizimkiler in den 1990ern spielten mit den Klischees der geizigen Almancıs, die in jeden türkischen Satz mindestens ein deutsches Wort mischen mussten.Auch ich bin mit diesen Bildern im Kopf aufgewachsen. Und pendele wie meine Eltern zwischen zwei Ländern. Als Kind fragten mich meine Cousinen oft, ob ich Deutschland mehr liebe oder die Türkei? Das Wort „Almancı“ gab es in meiner Welt damals noch nicht. Ich antwortete: „die Türkei“, um blöden Nachfragen auszuweichen. Eigentlich fand ich Deutschland besser, weil ich mein eigenes Zimmer mit den Duran-Duran-Postern an den Wänden hatte und es ein viel interessanteres Fernsehprogramm gab. Aber wollte ich „Alman“ sein? Das ging ja nicht. In der Türkei hatte ich Verwandte, die mich innig drückten und mir lustige Sachen wie Maulbeerpflücken mit einem Leintuch zeigten. Was war besser? Deutschland oder die Türkei? Beides hatte sein Für und Wider. Doch dass meine Herkunft hier wie dort politisch sein würde, das hätte ich als Kind nicht erwartet.Für mein Dilemma hat nun eine Freundin eine zugegeben banale Lösung parat. Als ich ihr erzähle, dass ich in einem Café an der ägäischen Küste, in dem ich auf Deutsch telefonierte, mir einen dummen Spruch vom Nebentisch über „Almancıs, die Erdogan wählen und dann herkommen und wie die Made im Speck leben“, anhören musste, rät sie mir trocken, dass ich mir das nächste Mal einfach ein Bier bestellen solle. Mit dem Bier könnte ich, ohne ein Wort zu verlieren, den Leuten am Nebentisch zeigen, dass ich keine streng religiöse AKP-Wählerin aus Almanya bin.Ob das allein ausreicht, sich kurzzeitig von dem Klischee zu befreien, sei dahingestellt. Aber die negative Grundstimmung in der Türkei sowie der Umstand, dass sich dort massenweise gerade der Unmut Bahn bricht, lässt sich wohl leider nicht schnell mal eben mit einem Schluck Bier runterspülen.