„Die Datenlage zum Wahlverhalten von Deutsch-Türken ist mittelalterlich“
Integration Alle für Erdoğan? Erneut wird in Deutschland über die 65 Prozent Zustimmung der Türkeistämmigen für den türkischen Präsidenten diskutiert. Ein Gespräch mit dem Politologen Özgür Özvatan über die Gründe für diese Wahl
Von 1,5 Millionen Wahlberechtigten – von 2,8 Millionen Türkeistämmigen – haben nur knapp die Hälfte (49 Prozent) an den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen teilgenommen. Davon haben aber fast zwei Drittel für den amtierenden Präsidenten gestimmt. Aber warum? Dr. Özgür Özvatan, Gesellschaftsforscher und Soziologe an der Humboldt-Universität Berlin, ist der Meinung, dass es vor allem an den gesellschaftlichen Ausgrenzungserfahrungen liegt. Zum Wahlverhalten der Türkeistämmigen bereitet er mit Zeynep Yanaşmayan, Leiterin des Deutschen Zentrums für Integration- und Migrationsforschung (DeZIM), derzeit eine Studie vor, die in der kommenden Woche vorgestellt werden soll.
der Freitag: Finden Sie die hohe Zustimmu
die in der kommenden Woche vorgestellt werden soll. der Freitag: Finden Sie die hohe Zustimmung für Recep Tayyip Erdoğan in Deutschland überraschend, Herr Özvatan?Özgür Özvatan: Angesichts der vergangenen Wahlen ist das keine Überraschung. Es wäre eine Überraschung gewesen, wenn sich das deutlich verändert hätte. Politische Transformationsprozesse sind sehr zäh, von daher wäre eine Diskontinuität spannend gewesen. Diese haben wir in der Form nicht beobachten können.In den USA oder Großbritannien ist das Bild genau umgekehrt: Eine große Mehrheit stimmte hier für den Oppositionskandidaten des Sechserbündnisses, Kemal Kılıçdaroğlu. Wie erklären Sie das?Das sind unterschiedliche Migrationswege. Wir haben hier eine eindeutige Gastarbeiter*innen-Einwanderung in Deutschland. Was wir allerdings beobachten, ist, dass sich regionale Verteilungen in der Türkei hier abbilden. Menschen, die aus den Provinzen stammen, wo mehrheitlich Erdoğan gewählt wird, wählen ihn hier weiterhin. Ein Faktor könnten die Kommunikationsnetzwerke, die die Menschen weiterhin in dieser Region haben, wie Familie und Freunde, sein.Also entscheidet der Herkunftsort über die politische Präferenz?Genau. Das wäre ein Faktor neben weiteren.Regional unterscheidet sich die Zustimmung für die Regierungspartei AKP und dem Oppositionsführer eklatant. In Berlin ist die Verteilung Regierungspartei und Opposition 50:50, der niedrigste Zustimmungswert in Deutschland, in Essen im Ruhrgebiet sind es dagegen fast 70 Prozent. Wie erklären Sie dieses Ost-West-Gefälle?Eine Erklärung wäre, dass Berlin sich vor allem in den letzten zehn Jahren zu einem Ort entwickelt hat, der für viele Oppositionelle aus der Türkei und dem Nahen Osten attraktiv ist. Hier sind Räume entstanden, wo sich Menschen über ihre Lebenserfahrung, ihre Exilerfahrung austauschen. Das könnte den Effekt haben, dass diese Diskurse immer mehr Einfluss haben. Berlin ist natürlich ein Zufluchtsort für ein alternatives Leben, und auch das kann ein Selektionsprozess sein, dass Menschen bewusst Berlin ausgewählt haben, wenn sie die Wahl hatten. Ein weiterer Aspekt wäre die höhere Anzahl von kurdischen und alevitischen Berliner*innen.Gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen den älteren und jüngeren türkeistämmigen Wähler*innen?Dazu gibt es leider keine Daten. Unsere Datensituation hierzu ist mittelalterlich.Warum?Weil es offensichtlich kein großes Interesse gibt, die transnationalen Wahlpräferenzen systematisiert zu verstehen. Wir reagieren nur dann, wenn eine Wahl ansteht. Und wenn die Wahl abgeschlossen ist, regen wir uns darüber auf oder freuen uns, dann wird es uns wieder egal. Das ist ein großes Problem. Als Gesellschaft sollten wir hier den nächsten Schritt wagen.Der wäre?Zum Beispiel könnten sich entsprechende Ministerien, die sich zuständig für eine solche Forschung fühlen, Ressourcen für die Forschung bereitstellen, damit wir kontinuierlich transnationale Wahlpräferenzen und auch diesbezügliche Veränderungen – nicht nur bei Türkeistämmigen – beobachten können.Deutsch-Türk*innen können erst seit 2014 wählen. Davor flog oder fuhr man dafür in die Türkei und wählte an den Grenzübergängen ...... jetzt ist es so, dass wir das Jahr 2023 haben und wir interessieren uns immer noch nur von Wahl zu Wahl für die Türkeistämmigen und ihre Wahlpräferenzen in Deutschland.Warum treffen die Türkei-Wahlen hierzulande auf ein so großes Interesse? Andere Länder (Polen, Italien, USA) wählen auch in Deutschland, relativ geräuschlos. Oder täuscht dieser Eindruck?Ja, wir haben hier eine große polnischstämmige Community, die bald wählen wird. Und auch da wäre es interessant, zu erfahren, wie diese Gruppe wählt und warum. Die Aufmerksamkeit für die Türkei-Wahlen erklärt das nicht.Als Gesellschaft haben wir oft die Tendenz, die Vergangenheit selektiv wahrzunehmen. Es gab seit Jahrzehnten eine Kontinuität in den antitürkischen Diskursen und besonders seit 2001 kam die antimuslimische Rhetorik dazu. Der Bundeskanzler Helmut Kohl forcierte 1983 zum Beispiel das Rückkehr-Programm für Gastarbeiter und ihre Familien. Er glaubte, die Türkeistämmigen wären inkompatibel mit der deutschen Kultur. Sein Vorgänger Helmut Schmidt sagte sogar, „mir kommt kein Türke mehr über die Grenze“. Beides entsprang der Mitte der Gesellschaft, inklusive Regierungsverantwortung. Und hier zeigt sich eine gewisse Kontinuität bis hin zu den NSU-Morden und Hanau. Und damit einhergehend stehen immer wieder diese Fragen im Raum: Ja, gehören die jetzt eigentlich zu uns oder nicht? Haben sie dann genug geleistet, um wirklich hier Teil der Gesellschaft zu sein? Haben Sie denn endlich Demokratie gelernt?Also als Integrationsfrage?Ja. Anstatt die Wahlentscheidung als eine türkeibezogene Entscheidung zu verstehen, wird sie als eine Entscheidung für oder gegen Deutschland goutiert. Und das ist problematisch. Wir dürfen die Frage nicht als Nullsummen-Spiel verstehen: Es sind Menschen, die können sich hundertprozentig türkisch fühlen und gleichzeitig hundertprozentig deutsch.Nicht zu vergessen sind die bisherigen umstrittenen Massen-Wahlveranstaltungen mit den Auftritten des türkischen Präsidenten in den letzten Jahren, die in diesem Jahr kaum stattfanden.Erdoğan betreibt seit etwas mehr als zehn Jahren eine ganz klare Programmatik. Er kam regelmäßig nach Deutschland und hat sich als Beschützer der Türkeistämmigen in Deutschland positioniert. Das heißt, er holt sie bei der Wahl mit der Frage ihrer Zugehörigkeit ab, bei der Nichtanerkennung und bei ihren Rassismus-Erfahrungen. Bleibt die große Frage, warum die Opposition keine eigene Programmatik für die Türkeistämmigen in der Diaspora entwickelt.Aber die AKP verfügt auch über weitaus mehr Ressourcen im Wahlkampf, zum Beispiel den Zugang zu den Moscheegemeinden. Politische Beobachter meinten, das war der intensivste Wahlkampf bisher, der weitgehend unter dem Radar der Öffentlichkeit lief.Absolut. Das Potenzial liegt in Deutschland vor, und das versucht die Partei maximal für sich zu nutzen. Die andere Frage ist, ob die Oppositionspartei CHP diese Ressourcen hätte. Natürlich hat sie keinen Zugriff auf die Ministerien und kann kaum Ressourcen in der Form kanalisieren, wie die Regierungspartei es tut. Dennoch glaube ich, dass es möglich gewesen wäre, ebenfalls in Moscheegemeinden zu gehen, um sich auch dort zu profilieren. So wurde das Feld der Moscheegemeinden tatsächlich komplett der AKP überlassen. Weil die Moscheegemeinden, das müssen wir wissen, nicht pauschal und eindeutig pro Erdoğan sind.Nicht? Die Annahme ist immer, diese Menschen besuchen eine Moscheegemeinde, werden dort sozialisiert und ihnen werden Positionen aufgedrückt, die sie behalten und nicht weiterentwickeln. Doch viele jungen Menschen bewegen sich in unterschiedlichen Moscheegemeinden und sind zudem in progressive, muslimische Organisationen eingebettet. Die Forschung des bekannten Ethnologen Werner Schiffauer zeigt, dass in etwa einem Drittel der IGMG-Gemeinden, vor allem unter den jüngeren Muslimen, die Nachfrage für progressive Politik hoch ist. Auch das ist eine Realität in Deutschland und ein Potential, das man abholen kann. Diese Pauschalkritik an Moscheegemeinden als Orte islamischer Parallelgesellschaft, die ist unpräzise und schafft mehr Probleme als Vorteile. Sicherlich gibt es auch verschlossene Moscheegemeinden. Wir laufen nur Gefahr, ihren Anteil in der Gesamtlandschaft weit zu überschätzen.Bisher werden die Moscheegemeinden vor allem als Wahlkampforte für die AKP gesehen.Viele Menschen sind praktizierend religiös und setzen sich eindeutig für progressive Politik ein, jenseits davon, was die deutsche Gesellschaft von ihnen erwartet. Wie das „Aktionsbündnis Muslimischer Frauen“, das aus einer muslimischen Motivation heraus soziale Dienste für diese Zivilgesellschaft leistet, in dem Fall natürlich gleichstellungspolitisch. Das ist etwas, was wir nicht vergessen dürfen. Die deutsche Gesellschaft ist auch die muslimische, deutsche Zivilgesellschaft. Denn sie leisten soziale Dienste, bieten Empowerment, Workshops und Bildungsangebote an und laufen damit noch unter dem Radar und der Anerkennung der deutschen Öffentlichkeit.Aber sollten Menschen, die nicht oder nicht mehr in einem Land wie der Türkei leben, über die politische und auch gesellschaftliche Zukunft des Landes mitentscheiden?„Wenn die Erdoğan wählen, dann sollen sie nicht mehr wahlberechtigt sein“, finde ich einen zu forschen Reflex. Ein fundamentales, demokratisches Recht entziehen? Das ist Wasser auf die Mühlen der AKP-Regierung, die den Westen dann als wahren Anti-Demokraten darstellt. Zudem leben wir in einer verwobenen Welt globaler Interdependenzen. Wir können nicht erwarten, dass die individuelle Wahlentscheidung national sein soll und alles andere bitteschön international. Das funktioniert nicht.Und die Menschen, die zur Türkei-Wahl gehen, beschäftigen sich dann auch mit deutscher Politik? Auch das wissen wir nicht eindeutig. Was wir beobachten, ist, dass sie hier durchaus politisch interessiert sind. Der Anteil der türkeistämmigen Abgeordneten nimmt seit etwa zehn Jahren intensiv zu. Ein gutes Zeichen. Oder?Was wir aber auch beobachten ist, dass wahlverwandte, politische Führungskräfte, also die Trumps, Orbans und Erdoğans dieser Welt, reaktionäre Identitätspolitik als Symbolpolitik betreiben. Erdoğan mobilisiert so gegenüber dem Westen. Die reaktionäre Mobilisierung generiert Vertrauen. Lösungsfindung durch politischen Streit braucht es nicht, der reaktionäre Held hält uns auf Kurs. Und ich muss mich als Wähler gar nicht mehr mit den Komplexitäten der Sachpolitik beschäftigen. Und das funktioniert eben auch mit Blick auf die AfD: auch sie versucht sich nicht an den Komplexitäten der Sachpolitik zu beteiligen und tut sich schwer damit, wenn sie mit Sach- statt Symbolpolitik konfrontiert wird.Also ist es gar nicht so sehr eine Auswirkung des politischen Islams, was Erdoğan betreibt, sondern eher reaktionäre Identitätspolitik?Genau. Der Islam wird natürlich instrumentalisiert in dieser reaktionären Identitätspolitik, genau wie bei Trump, der sich teilweise als Gesandter Gottes präsentiert. Der Islam ist eigentlich nur Mittel zum Zweck. Es geht ihm um eine reaktionäre und illiberale Identitätspolitik. In der Türkei ist dies das Versprechen einer Wiedergeburt neo-osmanischer Identität.Jetzt haben wir uns im Gespräch allein mit den Wähler*innen der AKP beschäftigt. Haben Sie denn Kenntnisse über die Motive der Nichtwähler*innen, immerhin die Hälfte der Wahlberechtigten oder den Wählern der Opposition, die den Oppositionskandidaten mit fast 33 Prozent wählten?Besessen von vermeintlichen Demokratiedefiziten hecheln wir der Frage hinterher, was die AKP-Wähler*innen wohl antreibt. Versuchen ihre Motivlagen zu verstehen, viel öfter aber zu verurteilen. Dabei manövrieren wir uns in eine Schieflage der Repräsentation. Die Oppositionellen sind größer als sie im Diskurs um vermeintliche „Erdoğan-Hochburgen“ gemacht werden, weil kaum über sie berichtet wird. Tatsächlich kennen wir bisher nur den Anteil der Oppositionellen unter denen, die an der Wahl teilgenommen haben: Ein Drittel von etwa 730.000 Menschen, die gewählt haben. Von den übrigen Türkeistämmigen wissen wir nicht, wie viele oppositionell eingestellt sind. Die mediale Berichterstattung müsste hier ausgewogener werden.