Can Dündar über Erdoğan und die Doppelmoral des Westens: „Ihr habt das Monster geschaffen“
Im Gespräch Can Dündar ist ein leidenschaftlicher Anhänger der republikanischen Türkei, die dieser Tage 100 Jahre alt wird, aber kaum gebührend feiert. Er sieht Fehler nicht nur bei Erdoğan, sondern auch in der Doppelmoral des Westens
Atatürk-Puppe in der Istanbuler Metro zur 100-Jahrfeier. Can Dündar: „Mit dem Erstarken des politischen Islams ist Atatürk eine noch stärkere Galionsfigur geworden“
Foto: Imago/Zuma Wire
der Freitag: Herr Dündar, die Türkei begeht in diesen Tagen ihr 100-jähriges Gründungsjubiläum. Ohne große Feierlichkeiten. Ist Ihnen nach Feiern zumute?
Can Dündar: Um ehrlich zu sein: Ich hatte mir früher ausgemalt, diesen Tag in einer freien, demokratischen und laizistischen Türkei zu feiern. Doch heute, leider, herrscht eine Trauerstimmung, die den 100. Jahrestag der Türkischen Republik begleitet.
Warum?
Weil ein Teil der Bevölkerung mit den Werten dieser Republik nicht versöhnt ist oder ihm diese nichts bedeuten. Und für uns, also für diejenigen, die noch an diese Werte glauben, ist es, als würden wir einen Verlust betrauern.
iese Werte glauben, ist es, als würden wir einen Verlust betrauern.Was sind das für Werte?Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches 1923 eine laizistische Republik auszurufen, war damals ein revolutionärer Ansatz und ein immens progressiver Schritt für die Bevölkerung, aber ein unzureichender. Für die damalige Zeit mag die Gründung der Republik in dieser Form richtig gewesen sein – der Demokratisierungsprozess hätte jedoch in den folgenden Jahren noch beharrlicher verfolgt werden müssen. Und wenn Sie sich heute Syrien oder den Iran anschauen, dann tragen sie auch „Republik“ im Namen. Aber allein der Begriff macht ja noch keinen modernen Staat.Zwei Prozent fehlten der Opposition bei den letzten Wahlen.Unter solch heftigen autokratischen Bedingungen eine Wahl zu gewinnen, wäre unvorstellbar gewesen.„Menschen in der Diaspora sind nationalistischer als die Menschen im Land selbst“Zu den Wahlen wurden auch Sie oft gefragt, warum die hiesigen Türkeistämmigen noch Recep Tayyip Erdoğan wählen. Sind Sie enttäuscht von den Menschen hier, die für ein autokratisches Regime stimmen, obwohl sie nicht dort leben?Nein, Enttäuschung kann man das nicht nennen. Als investigativer Journalist und Akademiker dürfen Sie nicht enttäuscht sein von gesellschaftlichen Gruppen. Sie versuchen, sie zu verstehen.Sie können es verstehen?Klar, wenn ich an ihrer Stelle wäre, wer weiß? Vielleicht hätte auch ich dort mein Kreuz gemacht. Das ist ja kein Verhalten, was exklusiv den Türkeistämmigen vorbehalten ist. Menschen in der Diaspora sind nationalistischer als die Menschen im Land selbst, das ist ein Fakt. Und natürlich kann man nicht verschweigen, dass diese Regierung anfänglich Neuerungen gebracht hat, die auch den Menschen hier zugutekamen. Angefangen beim Autobahnausbau im Land bis hin zum Umgang der Konsulatsmitarbeiter mit den Menschen hier, der sich gebessert haben soll.Atatürk war Modernisierer, aber er wies auch undemokratische bis diktatorische Züge auf. Bereits im Jahr 2008 drehten Sie das Biopic „Mustafa“ in der Türkei. Auch da wurde diese Komplexität stark kritisiert.Interessant ist ja, dass in der Türkei der 1960er-Jahre die Rolle Atatürks noch viel tiefer und breiter diskutiert wurde als heutzutage. Heute wäre das so nicht mehr möglich. Mit dem Erstarken des politischen Islams ist Atatürk eine noch stärkere Galionsfigur geworden …… weil der Gegenpart des politischen Islams starke Führungspersönlichkeiten brauchte?Genau. Wenn jemand Ihren Vater angreift, dann würden Sie ihn nolens volens verteidigen und würden seine Fehler eher nicht öffentlich ausbreiten. 90 Jahre später, dachte ich, wäre die Gesellschaft reif dafür. Um das erneut mit der Vater-Sohn-Beziehung zu zeigen: Solange Sie klein sind, ist der Vater Ihr Held, keiner kommt an ihn ran. Je älter Sie werden, vergleichen Sie Ihren Vater mit den anderen Vätern und sehen ihn viel kritischer. Nach dem Tod des Vaters wird man langmütiger. Sie sehen die Fehler, können aber auch sagen: Er war ein guter Mensch. Ich dachte, damals, als ich den Dokumentarfilm drehte, gesellschaftlich wären wir beim letzten Stadium angelangt.Sie wollten ihn als Mensch zeigen, mit Stärken und Schwächen?Ja, ich schätze ihn als Führungsperson und Staatsmann sehr. Atatürk war ein Reformist. Trotzdem ändert das nichts daran, dass ich sehe, dass er die Stadt Dersim bombardieren ließ.Sie meinen das Massaker an der alevitisch-kurdischen Bevölkerung 1937 im heute in Tuceli umbenannten Ort in Ostanatolien, bei dem 60.000 Menschen starben.Ja, und weitere politische Fehler. Warum soll es ein Vergehen sein, darüber sprechen zu wollen?„Erdoğan ist ein Pragmatiker“Kommen wir von Atatürk zu einem Politiker, der die Türkei in den letzten zwanzig Jahre prägte, zu Erdoğan. Können Sie anerkennen, dass er es geschafft hat, derart lange an der Macht zu bleiben?Erdoğan ist ein Phänomen. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts konnte Atatürk 15 Jahre lang die Türkei prägen, in diesem Jahrhundert hat Erdoğan dem Land seit mehr als zwanzig Jahren seinen Stempel aufgedrückt. Er hat ein gewisses Charisma, spricht die Sprache der einfachen Leute und ist politisch gewieft. Und natürlich gab es in seiner Amtszeit Momente, die man als progressiv bezeichnen kann, wie die Friedensverhandlungen mit der PKK 2013. Wir Linken haben ihn unterstützt.Sie nennen diese Phase der Annäherung im Buch „Politik mit Make-up“.Erdoğan ist Pragmatiker. Ich hätte mir gewünscht, dass dieser Friedensprozess erfolgreich ausgeht, das kann ich heute sagen. Aber er hat dieses Projekt sehr schnell für beendet erklärt. Er hat einen ausgereiften politischen Instinkt. Sobald er merkt, dass ein Vorhaben ihm nicht dient, lässt er es fallen.Sie erzählen, wie Sie Erdoğan früh getroffen haben, bereits 1999 auf der Istanbuler Buchmesse.Ja, schon zu dieser Zeit hat er sich klar für den islamischen Rechtsstaat, die Scharia, ausgesprochen. Er glaubte nicht an die Demokratie in einem islamisch geprägten Land, das erklärte er laut und deutlich. Später kam die Make-up-Phase, als er unter anderem die Annäherung an Griechenland, Armenien und die EU anvisierte.Ein Großteil der Bevölkerung hat diese Schritte unterstützt, unter anderem auch die Beschneidung der militärischen Wirkmacht, die sich in den Jahrzehnten zuvor als Garant der republikanischen Werte Atatürks sah.Ja, wir haben diese reformistischen Bestrebungen Erdoğans unterstützt, weil wir dachten, das ginge in die richtige Richtung. Ob das nun Taktik war oder politisches Kalkül, vermag ich nicht zu sagen. Das sind Auswirkungen einer übermächtigen Macht, die ihm schadet – Machtvergiftung.Ist es Überschätzung, wenn er, entgegen der einhelligen Meinung, die Hamas nicht als Terrororganisation einstuft, sondern als Freiheitskämpfer?Da war ich ebenfalls sehr überrascht. Hier hat der ursprüngliche Erdoğan gesprochen, back to the roots also. Jahrelang hat er antisemitischen Hass gegen Israel geschürt. Er glaubt das.Was nützt es Erdoğan international, wenn er die Hamas nicht als das benennen kann, was sie ist?In den ersten Tagen nach der Hamas-Terrorattacke in Israel hat er sehr kluge Statements abgegeben, die die Souveränität Israels anerkannten, aber auch das Leid der Palästinenser in Gaza nicht verschwiegen. Nun die Kehrtwende. Weil er genau weiß, dass die Weltöffentlichkeit sich dessen bewusst ist, dass er die Hamas im eigenen Land unterstützt. Zudem nutzt es ihm politisch. Für einen Tag vor dem 100-jährigen Jahrestag der Türkei, den 29. Oktober, hatte er eine riesige Palästina-Massenkundgebung in Istanbul anberaumt, die alle Feierlichkeiten am Folgetag in den Schatten stellen und dann niemand mehr über die Hundertjahrfeier der Republik sprechen lassen würde, sondern davon, wie grausam Israel in Gaza vorgeht. Das ist pures Kalkül.Die EU verhält sich doppelmoralischWird es denn eine erneute Annäherung an die EU und an Deutschland geben? Was für ein Verhältnis hat er zu Olaf Scholz?Mit Olaf Scholz ein sehr unterkühltes, wenn man es mit dessen Vorgängerin Angela Merkel vergleicht. Sie hatte sich persönlich für den EU-Türkei-Deal eingesetzt und hat es geschafft. Mit viel Geld und ja auch einer Lüge, nämlich dem Zusatz, dass es Visaerleichterungen für türkische Staatsbürger geben soll. Zudem hatte man in der EU Angst davor, dass sich Erdoğan an Putin annähert. Man war sehr daran interessiert, die Beziehungen zur Türkei warmzuhalten.Hat der Westen die Türkei im Stich gelassen?Europa bedeutet für mich Menschenrechte, Pressefreiheit, Gleichstellung von Mann und Frau, Laizismus und die Unabhängigkeit der Justiz. Ich wünschte, die gesamte europäische Führung würde sich auf die Seite der Demokratie stellen. Wenn aber EU-Staatshäupter diejenigen, die diese Werte in keinster Weise achten, hofieren, dann dürfen sie sich auch nicht wundern, wenn Länder wie Polen oder Ungarn EU-Vorhaben blockieren oder in der Türkei weiterhin Journalisten inhaftiert werden. Das fällt dann nämlich in die Kategorie Doppelmoral. Deshalb wollen ich und viele andere auch nicht mehr die leeren Statements hören, wie besorgt man sei angesichts der Entwicklungen, wenn erneut ein Journalist ins Gefängnis muss: Ihr habt dieses Monster erschaffen.In Ihrem neuen Buch sprechen Sie eine sehr deutliche Warnung aus: „Wir verlieren die Türkei“.Vielleicht zur Erläuterung nur das: Am 26. Mai 1960 hält der damalige Ministerpräsident Adnan Menderes eine Kundgebung ab, Tausende von Menschen jubeln ihm zu und rufen: Wir sterben für dich! Am Morgen des 27. Mai, als das Militär putscht und Menderes in Handschellen abgeführt wird, ist keine einzige Seele auf der Straße, um gegen die Verhaftung ihres geliebten Staatsoberhaupts zu protestieren. Heute kann sich jemand zwar als Sultan sehen und glauben, dass ihm die gesamte Türkei zu Füßen liegt. Aber das kann sich sehr schnell ändern.Sie sind also optimistisch.Die Türkei erinnert ein wenig an die Überraschungseier für Kinder. Man weiß nie, was rauskommt. Fast die Hälfte der türkischen Bevölkerung ist gegen Erdoğan, das haben wir bei den letzten Wahlen gesehen. Und auch in Polen haben sich die Verhältnisse geändert. Ich bleibe also hoffnungsvoll.
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