Boulevards

A–Z Die Ostberliner Karl-Marx-Allee will Weltkulturerbe werden. In Kabuls Hühnerstraße flaniert niemand mehr, in Zürich zirkuliert Geld. Unser Lexikon
Ausgabe 34/2021

A

Atomium Mit 102 Metern Höhe scheint das 2.500 Tonnen schwere Gebäude, bestehend aus neun, durch 23 Meter lange Röhren verbundenen Kugeln, wie entmaterialisiert zu schweben, nahe des Grote Markt, zentraler Platz und Brüssels Flaniermeile. Die Idee, 1958 für die erste Weltausstellung nach dem Zweiten Weltkrieg in Brüssel eine begehbare Skulptur in Form eines 165-milliardenfach vergrößerten Eisenatoms zu gestalten, stammte vom belgischen Ingenieur André Waterkeyn, die Umsetzung von den Architekten André und Jean Polak. Wegen seiner zukunftsweisenden Architektursprache, der transparenten Konstruktion, Aushängeschild einst prosperierender Stahlindustrie, blieb der ursprünglich nur für die Ausstellung entworfene belgische Pavillon erhalten. Längst Nationalsymbol, zwischen 2004 und 2007 totalsaniert – Aluminium ist Edelstahl gewichen –, steht das Atomium für den ungebrochenen Fortschrittsoptimismus der frühen Nachkriegszeit. Helena Neumann

B

Bauman-Straße Abends ist es in der Fußgängerzone von Kasan am schönsten. Die restaurierten alten Gebäude sind angestrahlt. Überall Musik. Straßenrestaurants und ein Spiegellabyrinth locken, ein Wachsfigurenkabinett, ein Museum der Legenden und Märchen und eines namens „Glückliche Kindheit“, was eine Zeit ohne Smartphones meint. Das Café Twin Peaks erinnert an die Fernsehserie von David Lynch und eine Kutsche aus Bronze an Katharina II., die russische Zarin mit deutschen Wurzeln. Zwei Flugstunden östlich von Moskau, in der Autonomen Republik Tatarstan, findet man den nach Nikolai Bauman, einem russischen Revolutionär, benannten Prachtboulevard fast schöner als die älteste Moskauer Fußgängerzone Arbat. Flanierend gelangt man zum Kreml (➝ Zuckerbäckerstil), der jedem offen steht: fotogen wie der Spasski-Turm mit Sowjetstern. Irmtraud Gutschke

C

Chicken Street In jeder großen Stadt gibt es eine Straße, die jeder kennt. In Kabul ist es die Chicken Street. Eine nur zwei Häuserblocks lange, schäbige Gasse, gesäumt von Geschäften, die Lapislazuli, Antiquitäten, Nippes, Safran und Orientteppiche verkaufen. Der Ort weckte seit Generationen Sehnsüchte, war Magnet für ausländische Besucher, die während ihres Trips auf dem Hippietrail auf der Suche nach afghanischen Souvenirs waren. Der Tourismusboom trieb die Mieten in die Höhe und die Hühner in die Flucht. In der Chicken Street gibt es kaum noch jemanden, der sich daran erinnern kann, dass dort früher Hühner verkauft wurden.Ausländische Besucher sind mittlerweile so selten, dass sie eine Sensation darstellen. Botschaften, internationale Hilfsorganisationen und ausländische Auftragnehmer haben ihren Mitarbeitern verboten, dort einzukaufen, wodurch der Chicken Street ein wertvolles Gut entzogen wurde – Kunden, die schlecht verhandeln und teuer bezahlen. Ich war 2019 in der Chicken Street, wurde bestaunt, habe Safran und einen Ring mit einem Sternensaphir gekauft. Ich betrachte ihn mittlerweile traurig. Elke Allenstein

F

Franz Hessel Ohne den Boulevard hätte es den Flaneur nicht gegeben. Wo hätte Der Mann in der Menge (Edgar A. Poe) denn umherschweifen sollen? Proust, Benjamin, Woolf schufen den Dandys und Flaneusen literarische Denkmale. Der Autor Franz Hessel (1988 – 1941) ist selbst Inbegriff dieses Typs. „Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen“, mit diesen Zeilen begann er sein Buch Spazieren in Berlin. „Man wird überspült von der Eile der andern, es ist ein Bad in der Brandung.“ Vor den Nazis floh Hessel nach Paris, kam dennoch in Lagerhaft und starb an deren Folgen. Allmählich werden seine Erzählungen und Essays, urbane Streifzüge, wiederentdeckt. Tobias Prüwer

G

Gelbwesten „Aux Champs-Élysées, aux Champs-Élysées!“ Der Chansonnier Joe Dassin träumte, der Pariser Boulevard sei gemacht zum Tanzen, Singen und Flirten. Mehr als 50 Jahre nach Dassins Welthit hat sich das lebenslustig-elegante Image der Champs (Kino) verändert: Die schon im 17. Jahrhundert entstandene Avenue, die den Place de la Concorde mit dem Place Charles-de-Gaulle verbindet, war 2019 Schauplatz gewalttätiger Ausschreitungen und Plünderungen bei Gelbwesten-Demos. Bald soll der achtspurige Boulevard umgestaltet werden – Bürgermeisterin Anne Hidalgo schwebt ein „außerordentlicher Garten“ mit 1.000 neuen Bäumen vor. Marc Peschke

K

Kino Dafür, dass der Film Außer Atem heißt, flanieren Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo eigentlich recht entspannt über die Champs-Élysées (➝ Franz Hessel). Godards 1960 erschienener Debütfilm wurde zur Initialzündung für die französische Nouvelle Vague.Statt in sterilen Studios zu drehen, ging man mit minimalem Equipment raus auf die Straße, um das urbane Leben einzufangen. Verheißungsvoller als in den sprunghaften Schwarz-Weiß-Bildern sah Paris im Kino wahrscheinlich nie aus. Allerdings war der Boulevard in der Filmgeschichte nicht nur Schauplatz des Aufbruchs, sondern auch Symbol des Niedergangs, etwa in Billy Wilders Sunset Boulevard. Der für 2022 geplante „Boulevard des Films“ entsteht übrigens nicht in Paris oder Los Angeles, sondern in Potsdam. Von Metropolis bis The Grand Budapest Hotel sollen dort auf Granitplatten Filme gewürdigt werden, die im Studio Babelsberg gedreht wurden. Kevin Neuroth

L

Luxusmeile Während die Rückseite des Zürcher Bahnhofs als Drogenumschlagplatz weltweit bekannt wurde, mit dem damit verbundenen unübersehbaren Elend, perlt von der Vorderseite, von der schweizerisch nüchtern eine „Bahnhofstraße“ abgeht, jeder Unbill der Realität ab. Hier werden seit jeher Luxusartikel angeboten, sind die Quadratmeterpreise Anlass zu ehrfürchtigem Raunen, wandelt man betucht an Max Bills Marmorplastik vorbei, deren subversiver Impetus im konsumistischen Wohlgefallen aufgeht wie ein frisches Käsesoufflee. Eine seidene Schutzmaske kann man hier für 400 Franken bekommen, sie passt dann aber auch zum Einstecktuch. Die Straße führt schnurgerade zum Paradeplatz, Kulminationspunkt womöglich aller finanziellen Transaktionen des Planeten. Würde sich hier das weltweite Elend manifestieren, das aus all diesen Geschäften erwirtschaftet wird, türmte sich ein Berg voll Dreck auf, unter dem das ganze Land erdrückt werden würde. Marc Ottiker

M

Mokka-Milch-Eisbar Die Mokka-Milch-Eisbar in der Karl-Marx-Allee war Kult. 60er-Jahre-Architektur, postmodern, ungewöhnlich für den Rest der Republik. Wir saßen Anfang der 1970er-Jahre fast jeden Abend dort, gemischtes Eis garniert, drei Kugeln mit Mandarinen aus der Dose, 90 Pfennige, später an der langen, geschwungenen Bar einen Manhattan oder Gin Fizz für 1,75 Mark. Studenten, Schüler höherer Klassen im Gespräch, Aussteiger und junge Sozialisten voller Hoffnung, ein cooles Gemisch wie die Drinks. Eine Ostband, Thomas Natschinski und Gruppe, hat die Bar in einem Song verewigt. Gleich daneben eines der schönsten Kinos der Stadt, vis-à-vis Tanztee im Café Moskau. Großes Programm auf der Vorzeigemeile. Heute tote Hose. Toni Heinemann

P

Pariser Kommune Bald nach der Niederschlagung der Pariser Kommune 1871 beauftragte Napoleon III. den Pariser Präfekten mit der Umstrukturierung der Hauptstadt. Baron Georges-Eugène Haussmann wandelte die im Kern noch mittelalterliche Stadt in eine moderne Großstadt um, mit öffentlichen Parks, einer Kanalisation und weitläufigen Straßenzügen. Die vom deutschen „Bollwerk“ abgeleiteten „Boulevards“ schlagen geradlinige, die Blickpunkte miteinander verbindende Schneisen in die Stadt. Sie dienten auch zur Aufstandsbekämpfung: Die schiere Breite sollte das Errichten lästiger Straßenbarrikaden erschweren, welche das Vorrücken der kaiserlichen Truppen erheblich erschwert hatten. Die neuartigen Siebengeschosser dienten der Einhegung sozialer Ungleichheit. Marc Ottiker

R

Revolverblätter Die Boulevardpresse wird so genannt, jener weniger seriöse Teil der Medien. Der Revolver deutet einen inhaltlichen Schwerpunkt der Postillen an: kriminell ausgeschmückte Polizeiberichte. Der Boulevardjournalismus wiederum hat seinen Namen vom größten Verbreitungsweg der Zeitungen. Sie wurden auf den Straßen verkauft, nicht im Abonnement. Aus diesem Grund machten sie oft mit reißerischen Titeln auf, um möglichst hohen Absatz zu erzielen. Mit der B. Z. kam 1904 in Berlin die erste Straßenzeitung auf den deutschen Markt. Die Auflagenstärke der Revolverblätter macht sie zu einflussreichen Medien. Doch schwindet diese seit Jahren, weil Sensationsnews ins Internet gewandert sind. Tobias Prüwer

V

Verwaltungsriese Wir blicken vom Balkon des Parlamentspalastes der rumänischen Hauptstadt Bukarest. Früher euphemistisch „Haus des Volkes“ genannt, ist der größenwahnsinnige Traum des Diktators Nicolae Ceaușescu nach dem Pentagon das flächenmäßig zweitgrößte Verwaltungsgebäude der Welt. Es befindet sich am Ende des etwa drei Kilometer langen „Boulevards der Einheit“. Von jenem Balkon aus – auf dem bei einer Konzertreise in den 90ern Michael Jackson die Rumänen mit „Hallo Budapest“ grüßte – hat man den besten Blick auf die Prachtstraße des früheren „Boulevards des Sieges des Sozialismus“. Sie ist auf Ceaușescus Geheiß ein paar Meter länger und breiter als die Pariser Champs-Élysées (➝ Gelbwesten). Die Bauarbeiten erforderten die Zerstörung des historischen Uranus-Viertels mit eleganten Villen. Auch ein Art-Déco-Stadion von 1926 und mehrere Synagogen wurden abgerissen. Die Kirche von Mihai Vodă wurde um 100 Meter verschoben. Der megalomane Abriss traf etwa 25 Prozent der Altstadt. Elke Allenstein

Z

Zuckerbäckerstil Prominente Beispiele sind nicht nur die Gebäude des Außenministeriums, der Lomonossow-Universität und des Hotels Ukraina in Moskau, sondern auch die Karl-Marx-Allee in Berlin ( Mokka-Milch-Eisbar) mit den Turmbauten am Strausberger Platz und am Frankfurter Tor. 1949 bis 1961 hieß sie bekanntlich Stalinallee. Da wurde im Volksmund auch gern vom „Stalin-Stil“ gesprochen. Der hatte etwas Monumentales, prunkte mit Verzierungen und Dekorationen, was irgendwie anachronistisch wirkte – im Gegensatz zur Bauhaus-Tradition, seiner Funktionalität, an die das Wohnungsbauprogramm der DDR später anknüpfte. Auch aus Kostengründen. Im abgewerteten „Zuckerbäckerstil“ aber steckte die Utopie, dass Arbeiter in Palästen wohnen sollten. Jetzt hat sich Berlin mit Karl-Marx-Allee und Hansa-Viertel um den Welterbe-Status beworben. Irmtraud Gutschke

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