Mit der Veröffentlichung der RKI-Protokolle hat die Debatte um eine angemessene Aufarbeitung der Corona-Pandemie Fahrt aufgenommen – von Aufarbeitung spricht mittlerweile sogar manch einer, der sich bislang konsequent dagegen gesperrt hat. Die Hoffnung besteht, dass es doch endlich zu einer umfangreichen parlamentarischen Überprüfung der Corona-Zeit kommt, bestenfalls im Rahmen einer Enquetekommission. Der Gesellschaft wäre es zu wünschen. Weshalb?
Sicher lässt eine Analyse des gesellschaftlichen Umgangs mit Corona Rückschlüsse zu, wie bei künftigen Pandemien verfahren werden sollte, soweit sich Erkenntnisse angesichts der Unterschiedlichkeit von Viren übertragen lassen. Doch der zentrale Nutzen einer parlamentarischen Aufarbeitung der
eitung der Corona-Zeit liegt nicht erst in einer – hoffentlich möglichst fernen – Zukunft, in der erneut eine Pandemie die Gesellschaft plagt. Vielmehr hätte sie einen unmittelbaren und entscheidenden Nutzen für die Gesellschaft: Einsichten darüber zu erlangen, was im gesellschaftlichen Miteinander schiefgelaufen ist.Wir wissen schon lange, dass der Nutzen von Schul- und Kitaschließungen außer Verhältnis stand zu dem Schaden, der den davon nachteilig betroffenen Kindern und Jugendlichen erwachsen ist. Wir wissen auch, dass Corona-Schutzimpfungen wie jedes andere Arzneimittel Nebenwirkungen haben können, sogar schwerwiegende. Schon als die Rede von einer „Pandemie der Ungeimpften“ war, ließ sich dieses Narrativ naturwissenschaftlich kaum halten, hat aber zu Diskriminierungen breiter Bevölkerungsteile beigetragen.Schaden für das demokratische MiteinanderWarum sind diese Einsichten und deren Feststellung durch eine Enquetekommission im Nachhinein so wichtig? All die genannten Fehleinschätzungen haben gesellschaftliche Ungerechtigkeiten erzeugt. Sie sind ein Meilenstein in einer Entwicklung, die sich bis heute fortsetzt und schädliche Folgen für das demokratische Miteinander hat – ich bezeichne dieses Phänomen als „Diskursvulnerabilität“. Gemeint ist damit eine besondere Empfindlichkeit in Gesprächen, die dazu führt, dass Argumente, ganze Themen oder Sprecher aus dem Diskurs ausgeschlossen werden. Dies geschieht in erster Linie deshalb, weil die Menschen zunehmend geneigt sind, ihren eigenen moralischen Standpunkt so stark aufzuladen, dass er zu einem Teil der eigenen Persönlichkeit aufgewertet wird. Konfrontiert mit Sachargumenten, verstehen sie diese oft nicht als Debattenbeitrag, sondern als persönlichen Angriff – mit dem Ergebnis, selbst auf einer emotionalen Ebene festzustecken und nicht zu einer sachlichen Diskussion imstande zu sein. Es handelt sich dabei um ein Phänomen, das entgegen landläufiger Annahme gerade nicht bloß „woke“ Minderheiten betrifft. Im Gegenteil ist Diskursvulnerabilität ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das Angehörige von Mehrheiten und Minderheiten gleichermaßen betrifft. Sei es die Frage, ob schwere Waffen in die Ukraine geliefert werden sollten, Atemschutzmasken in öffentlichen Verkehrsmitteln zu tragen sind oder Wärmepumpen eingebaut werden sollten – auf allen Rängen scheint ein offener gesellschaftlicher Diskurs weitestgehend ausgeschlossen. Stattdessen bilden sich mehr oder minder verfeindete Lager, die nicht länger miteinander, sondern allenfalls noch übereinander sprechen.Für eine freiheitliche Demokratie ist das alles Gift. Der offene Diskurs bildet das Herzstück eines Gemeinwesens, in dem durch gesellschaftliche Aushandlung Lösungen für die Herausforderungen gefunden werden, die sich der Gesellschaft stellen. Verengen sich Diskursräume, sprechen nicht mehr alle mit allen, werden Argumente aus dem Gespräch verbannt, leiden darunter unweigerlich die Ergebnisse, die die Gesellschaft im Diskurs finden kann. Gerade in einer Zeit, in der sich in Gestalt des Klimawandels und eines Kriegs in Europa fundamentale Herausforderungen an die Gesellschaft stellen, wiegen diskursive Defizite besonders schwer.Diese Entwicklung hat viel mit der Corona-Zeit und deren fehlender Aufarbeitung zu tun. Während der Pandemie haben sich freiheitseinschränkende Diskurspraktiken etabliert, von denen die Gesellschaft bis heute keinen Abstand genommen hat. Eine Aufarbeitung kann dazu beitragen, Brücken zu schlagen, die unbedingt notwendig sind, um wieder miteinander ins Gespräch zu kommen. Dabei geht es nicht darum, „nachzutreten“ oder im Nachhinein recht behalten zu wollen – egal aus welcher Perspektive man auf die Corona-Zeit zurückblickt. Nicht zu unterschätzen ist aber das Signal, das damit verbunden ist, begangene Fehler festzustellen und als solche gegenüber der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Hierin liegt ein Eingeständnis, auf das nach wie vor viele Menschen warten. Ein Eingeständnis, das dazu beitragen kann, auch in unseren gegenwärtigen und künftigen Debatten im Miteinander zu bleiben, um gemeinsam gute Lösungen zu finden.Placeholder authorbio-1