Deutsche trinken weniger Alkohol: Nüchtert das Land der Dichter und Trinker gerade aus?
Gesundheit Bier, Wein und Schnaps stehen hoch im Kurs in Deutschland. Doch zuletzt war der Alkoholkonsum hierzulande rückläufig, Null-Prozent-Biere und Virgin Cocktails sind im Kommen. Überwinden wir gerade eine gefährliche Sucht?
Auch das Schwimmen in diesen Gewässern ist erlaubt: Ihr Promillegehalt beträgt 0,0 Prozent.
Illustration: der Freitag
In einem Land, das ein eigenes Reinheitsgebot für Bier hat, für maßvolle Oktoberfeste und schwer behangene Weinberge bekannt ist, wo der Glühweinschwips zum Weihnachtsmarkt gehört wie das Lebkuchenherz um den Hals, wo Eierlikör im Seniorencafé ausgeschenkt wird und man sich sogar verteidigen muss, wenn man mal nicht zum Wein greift – da überrascht diese Nachricht doch sehr: In Deutschland wird seit Jahren immer weniger Alkohol getrunken. Ist das ein Rechenfehler oder gar der Beginn einer neuen Ära im Umgang mit Prozenthaltigem?
Verrechnet haben sich die Forschenden tatsächlich nicht, mehrere Quellen beziffern den Suffschwund in etwa wie folgt: Haben Männer und Frauen hierzulande im Jahr 1980 noch 15,1 Liter reinen Alkohol pro Jahr
l pro Jahr vertrunken, waren es 2019 nur noch 10,2 Liter, und zu Coronazeiten nochmals weniger. Das ergab zum Beispiel eine Erhebung der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. „Diesen Trend beobachten wir zeitgleich in zahlreichen Industrieländern: Die Menge des getrunkenen Alkohols geht weltweit in den wohlhabenderen Ländern zurück“, sagt der Psychologieprofessor Hans-Jürgen Rumpf, der an der Universität Lübeck zu Sucht lehrt und forscht.„Dry January“: Jahresanfang ohne AlkoholAuch jenseits von Statistiken werden Spuren sichtbar, die auf eine veränderte Trinkhaltung hindeuten. Der Dry January, also der Verzicht auf Alkohol im Januar, ist mittlerweile sehr beliebt und auch die Fastenmonate zwischen Karneval und Ostern werden häufig für Abstinenz nicht nur von Schokolade oder Fleisch genutzt, sondern auch für den Verzicht auf Alkohol. Derweil greifen mehr und mehr Menschen zu alkoholfreien Drinks wie Virgin Cocktails oder Mocktails (also „unechte“, weil alkoholfreie Cocktails), Bier oder Wein ohne Promille. Die Auswahl an Null-Prozent-Drinks füllt im Supermarkt beinahe so viel Regalfläche wie Obstsäfte. In der EU wird heute etwa doppelt so viel alkoholfreies Bier getrunken wie noch vor zehn Jahren. Deutschland zählt dabei zu den Top-5-Konsumenten. Sekt ohne Schwips gehört heute ebenfalls zu jeder Party, aber auch Weine ohne Promille finden vermehrt Abnehmer.Beobachten wir also einen Wandel in der Alkoholkultur dieses Landes? Kehren die Deutschen sich wirklich von Bier, Wein und Schnaps ab? Müssen sich Partygäste künftig nicht mehr rechtfertigen, wenn sie in illustrer Runde trocken trinken? Die Hoffnung ist vor allem unter Suchttherapeuten und Gesundheitsverbänden groß, die Realität hingegen nicht ganz so rosé.Gebildete trinken mehrZunächst ist Deutschland weiterhin ein Land der Dichten und Trinker. Durch alle Schichten hinweg konsumieren die Menschen Alkohol. Rund 85 Prozent aller Erwachsenen in Deutschland trinken zumindest ab und zu ein Gläschen – jeder fünfte in gefährlichem Ausmaß. Besonders viel nehmen einer deutschen Erhebung von 2022 zufolge junge Männer zu sich, aber vor allem auch Menschen mit hohem Bildungsgrad und großem Einkommen. Ein Befund, den auch schon frühere Studien hervorgebracht hatten.Schon immer unterliegt der Konsum von Alkohol Wellen. Im Mittelalter galt Bier als Nahrungsmittel und wurde selbst von Kindern und Hochbetagten in großen Mengen verzehrt. Während der Aufklärung sprach man bereits von Trunksucht, ohne diese aber zu verurteilen. Maßhalten wurde dennoch wichtiger. Im Zweiten Weltkrieg trank man in Deutschland wenig, im Anschluss erlebte der Alkoholkonsum einen ebenso rasanten Anstieg wie die Wirtschaft. Vor allem in den 1970er- und 1980er-Jahren waren die Bierkrüge stets randvoll. Das Aufschwungsgelage wirkt bis heute nach.Italien trinkt wenigerDeutschland zählt mit seinen zehn Litern pro Jahr und Kopf zu den Hochkonsumländern. In Italien, wo es reichlich Wein, Grappa und Sambuca gibt, trinken die Menschen im Jahr rund acht Liter reinen Alkohol, ergab eine Erhebung der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Deutschland reiht sich dieser Statistik zufolge zwischen Litauen, Tschechien, Rumänien und Irland ein.Rechnet man die Menge reinen Alkohols auf die Woche herunter, wird auch für Skeptiker deutlich, wie viel die Deutschen eigentlich trinken. Durchschnittlich zehn Liter pro Jahr entsprechen immerhin 200 Millilitern pro Woche, also einem Limoglas voll reinen Alkohols, ganz ohne Wasser, Fruchtsaft oder derlei Zusätze, die einen Drink sonst ausmachen. Das schlägt sich wiederum in der Gesundheit der Menschen nieder: 2019 mussten täglich rund 790 Männer und Frauen im Krankenhaus behandelt werden, weil sie im Übermaß getrunken haben. Immerhin: Auch hier gehen die Fallzahlen leicht zurück.Alkohol-Werbung ist weiter erlaubt„Tatsächlich erstaunt mich der Trend“, sagt Hans-Jürgen Rumpf, der auch im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie aktiv ist. „Die Menschen trinken etwas weniger, dabei hat sich an den äußeren Faktoren nichts verändert: Alkohol ist rund um die Uhr verfügbar, weiterhin billig und darf beworben werden.“ Er und seine Kolleginnen und Kollegen vermuten daher, dass der Zeitgeist die Veränderung hervorbringt. „Gerade in der jungen Generation, in der wir die Veränderung besonders deutlich sehen können, gelten neue Werte. Fitness und Wohlbefinden werden betont, es wird gesundheitsbewusster gelebt“, sagt Rumpf. In der Jugend werde heute eher Verzicht geübt und die jungen Leute würden verantwortungsbewusster mit den Getränken umgehen.In der Tat ist die Veränderung unter Jugendlichen besonders ausgeprägt. Ging es vor wenigen Jahren immer um Alkopops und Rettungswageneinsätze, wenn „Jugend“ und „Alkohol“ aufeinandertrafen, scheint nun eine Kehrtwende stattgefunden zu haben. Im Jahr 1979 hat noch jeder vierte Junge oder Mädchen zwischen zwölf und 17 Jahren wöchentlich Bier oder Schnaps getrunken. Im Jahr 2007 war es jeder fünfte junge Mensch, 2019 nur noch jeder elfte.Die Jugend nach den AlkopopsEine These, warum das so ist: Im gesellschaftlichen Gefüge verändern sich heute die Beziehungen, was sich auch auf den Konsum auswirken könne – bei jungen Menschen vielleicht besonders deutlich. „Frühere Rollenbilder verlieren sich, vor allem junge Männer haben nicht mehr das Bedürfnis, auf den Putz hauen zu müssen, um sich zu profilieren“, erklärt Rumpf. Das könne an zwei modernen Entwicklungen liegen. Zum einen verändere die Debatte um Gleichberechtigung von Männern und Frauen bisherige Rollenvorstellungen, zum anderen galt Alkohol früher als etwas Rebellisches. „Junge Menschen tranken, um sich gegen ihre Eltern aufzulehnen. Heute wachsen Kinder und Jugendliche meist ohne autoritäre Hierarchien heran“, sagt er. Die Auflehnung mit Hilfe von Hochprozentigem ist nicht mehr nötig.Gleichzeitig verändern die heutigen Kommunikationswege auch den Alkoholkonsum. Bier, Wein und auch Schnaps werden von den wenigsten allein getrunken, sondern vor allem in geselligen Runden. Doch die gibt es gar nicht mehr so oft. Das bezeugt eine Studie mit finnischen Teenagern. Die persönliche Befragung von 50 Jugendlichen untermauerte eine These der internationalen Forschung: Ein Großteil der gemeinsamen Treffen, des Kennenlernens und der ersten Annäherungsversuche unter jungen Menschen finden nicht mehr wie einst bei Feten im Elternhaus, in Kneipen oder Bars statt, sondern auf Snapchat, Whatsapp oder Instagram. „Es gibt daher weniger Bedarf an einem sozialen Schmierstoff wie alkoholische Getränke“, schreiben die Studienautoren. Wer Hemmungen hat, nähert sich heute mit einer Personal Message an und braucht kein Mut-Bier.Saufen zum Flirten„Es wäre schön, wenn wir eine Generation heranwachsen sehen würden, die künftig alkoholfrei leben wird. Aber so drastisch ist die Abkehr vom Alkohol dann leider doch nicht“, sagt Suchtforscher Rumpf. Auch jenseits des Teenie-Alters wirken noch immer altbackene Vorstellungen, die durchaus auch in die jungen Jahrgänge abfärben. Alkohol zu trinken, ist in Deutschland weiterhin die Norm. Ein Drink zumKlischeehafte Rollenbilder wirken dabei sehr stark auf die Bestellung im Gasthaus. Das zeigt eine Onlinestudie von Mai 2021 mit mehr als 500 Männern und Frauen aus Deutschland. Sie sollten Menschen bewerten, die alkoholfreie Getränke zu sich nehmen und angeben, ob sie selbst so etwas trinken. Personen, die ein Bier ohne Alkohol tranken, wurden als gesundheitsbewusst, rational, diszipliniert, modern, stark und tolerant beschrieben – aber auch als feminin.Frühere Erhebungen fanden heraus: Männer sind der Überzeugung, dass sie Frauen gegenüber im schlechten Licht ständen, wenn sie Brause statt Bier trinken würden – und dass sie mehr trinken, wenn sie auf eine Frau attraktiv wirken wollen. Bei Frauen verhält es sich beinahe entgegengesetzt. Die Devise bei ihnen lautet: Bloß nicht zu viel trinken, das wirkt unattraktiv.Kleines Tief im PromillesektorManche dieser Normen mögen nach und nach aufweichen, doch verschwunden sind sie noch lange nicht. Eine weitere Analyse der Onlinestudie unter den 500 Menschen aus Deutschland bekräftigt das Fortbestehen manch kruder Ansichten: Gingen die Männer davon aus, dass ihre Mitmenschen sie schief angucken, wenn sie ein alkoholfreies Bier zu sich nehmen, dann bestellten sie lieber eines mit Prozenten. Bei Frauen wiederum waren eher der Geschmack und das eigene Gesundheitsbewusstsein ausschlaggebend für die Wahl. Sie griffen also auch eher mal zum Null-Prozent-Bier. Alkohol zu trinken ist folglich auch heute noch männlich, Zurückhaltung weiblich. Alkoholfreies Bier ist daher bei Männern eher verpönt, für Frauen ein gesellschaftlich akzeptiertes Getränk.Einen wirklichen Wandel in dem Umgang mit Molle und Schnäpperken sowie der Haltung gegenüber den Getränken sehen wir also derzeit nicht. Eher ein kleines Tief im Promillesektor. Das Feierabendbier ploppt vielerorts mit Schichtende noch immer genauso häufig auf wie der Korken aus dem Rotwein zum Abendessen. Der Schnaps beim kleinen Gartenfest am Wochenende und der selbst angerührte Eierlikör zum Mädelsabend gehören weiterhin eher zum guten Ton denn zur Ausnahme. Seit rund 9.000 Jahren stellen Menschen alkoholische Getränke her. In vielen Regionen der Erde sind sie deshalb fest im Leben der Menschen verankert. Auch in Deutschland. Der Unterschied: Heute wissen wir um die verheerenden Folgen des Saufens.„Die Gefahr ist, dass Ereignisse wie die Pandemie oder ihre Nachwirkungen sowie die Angst vor einem Krieg den Konsum wieder ansteigen lassen könnten, wenn nicht von politischer Seite gegengelenkt wird“, betont Rumpf. Dass dies wirksam sei, habe sich beim Nichtraucherschutz gezeigt. Erhöhte Preise, drastische Warnungen auf den Zigarettenschachteln und der Ausschluss aus Gaststätten oder auch Vereinsräumen habe dem Rauchen ein negatives Image verpasst. „Es ist nicht mehr chic zu rauchen, also tun es auch sehr viel weniger Menschen“, sagt Rumpf. Solange es solche Maßnahmen nicht auch beim Alkohol gebe, werde künftig weiter in hohem Maße getrunken. Vielleicht auch bald wieder mehr.Placeholder infobox-1
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