Kann der „Islamische Staat“ (IS) in Nordsyrien erneut Fuß fassen? Es gibt vereinzelt Angriffe auf Militärobjekte. Sie führen zu der Annahme, die Organisation könnte nach dem endgültigen Zusammenbruch ihres syrischen Kalifats im März 2019 und neun Monate nach der Tötung ihres Anführers, Abu Bakr al Baghdadi, als Kampfeinheit zurückkehren. Die IS-Aktivitäten sind besonders beunruhigend, weil sich die Bedingungen, die sie ermöglichen, in den kommenden Monaten nicht groß verändern dürften. Auch wenn der IS seine Operationen – ebenso im Irak – seit dem Verlust seiner Territorien nie eingestellt hat, deuten jüngste Berichte daraufhin, dass der „Daesch“ seit Jahresbeginn sowohl in ostsyrischen Dörfern als auch in Vororten Bagdads in Erscheinung tritt. Dabei legt die Art und Weise, wie einige Angriffe unternommen werden, nahe, dass die IS-Rudimente Nachrichtenmaterial über Truppenbewegungen und potenzielle Anschlagsziele haben müssen. Anzeichen dafür, dass IS-Kombattanten lokal erneut Wurzeln schlagen, sich Raum erkämpfen und über militärische Infrastruktur verfügen?
Keine Rache für Bagdadis Tod
Gäbe es eine solche Erholung, würde die auf eine Zeit der akuten Schwäche folgen, die nach dem Verlust der IS-Zentren Mossul und Raqqa 2017 eingetreten ist. Sie erreichte ihren Höhepunkt mit dem Tod Bagdadis im Oktober 2019. Der „Daesch“ sah sich damals offenkundig außerstande, Rache für die Ermordung seines selbst ernannten Kalifen zu nehmen oder die Gelegenheiten zu nutzen, die sich aus der Ankündigung der US-Regierung ergaben, die Truppen aus Nordsyrien abzuziehen. Warnungen, vor allem dieses Ausscheren der USA würde die Rückkehr des IS befördern, hatten sich zunächst nicht bewahrheitet, was nicht so blieb. Die zwischen dem Nachlassen des Drucks und der Regeneration der Terrororganisation verstrichene Zeit erscheint wichtig. Sie weist darauf hin, wie der IS wieder zurückgedrängt werden könnte, sollte er sich tatsächlich dauerhaft regenerieren.
Im Irak hatten Ende vergangenen Jahres Massenproteste in der Hauptstadt und im Süden die Stimmung angeheizt. Sie zwangen die Regierung von Adil Abd al Mahdi zum Rücktritt und führten zu einer politischen Stagnation, die erst im Mai überwunden werden konnte, als sich die Parteien mit Mustafa al Kadhimi auf einen neuen Premierminister einigen konnten. Die Proteste, bei denen manchmal anti-iranische Töne zu hören waren, sorgten für wachsende Spannungen zwischen den im Irak stationierten US-Amerikanern und schiitischen Milizen. Das Ganze mündete schließlich in das Attentat auf den iranischen Generals Qassem Suleimani und den prominenten schiitischen Milizenführers Abu Mahdi al Muhandis am 3. Januar.
Zum ersten beachtenswerten Angriff des IS kam es Mitte April in Syrien, als Kombattanten nahe der Wüstenstadt Palmyra Regierungstruppen stundenlang in Feuergefechte verwickeln konnten. Im Mai dann holten irakische IS-Filialen zu Vorstößen in Diyala und Salah ad-Din aus. Es wurde versucht, die Antiterror-Zentrale in Kirkuk zu stürmen. Dies misslang zwar, doch kam es damit zu einer der raffiniertesten IS-Aktionen seit Jahren. Der „Daesch“ hat von einem Sicherheitsvakuum und dem nachlassenden militärischen Druck in beiden Ländern profitiert. Sollte er wieder handlungsfähig werden, dürfte es schwierig sein, ihn ohne multilaterales Engagement erneut zu schwächen. Den IS in den Untergrund zu zwingen, vor allem seine Netzwerke zu zerschlagen, würde jene Strategie der Geduld erfordern, wie sie nach seinem Vormarsch vom Sommer 2014 unausweichlich war. Ob es dazu kommt, erscheint fraglich, seit die Spannungen zwischen den im Irak stationierten US-Einheiten und den irakischen Streitkräften spürbar zugenommen haben. Eine Allianz wie bei der Schlacht um Mossul 2016/17 ist derzeit kaum denkbar. Überdies haben sich US-Militärs bereits von mehreren taktischen Basen im West- und Zentralirak zurückgezogen – wo sich der IS wieder zu regen beginnt. Dieses Muster – die einen gehen, die anderen kommen – macht die gegenwärtige Phase besonders gefährlich. Je länger sie andauert, umso mehr könnten die Dschihadisten zu der Bedrohung werden, die sie schon einmal waren.
Kommentare 6
Das Wiedererstarken des IS auf den Rückzug einiger hundert US-Truppen zurückführen zu wollen ist nicht nur gewagt, sondern ignorant.
»Der „Islamische Staat“ schien besiegt.«
»Warnungen, vor allem dieses Ausscheren der USA würde die Rückkehr des IS befördern, hatten sich zunächst nicht bewahrheitet, was nicht so blieb.«
Die Sache mit dem IS ist viel komplizierter:
Die Existenz von Al-Qaida im Irak und dem IS in Syrien ist wesentlich von der Definition aggressiver Eindringlinge abhängig.
Joby Warrick beschreibt in seinem Buch „The Black Flags – The Rise of ISIS“ auf sehr interessante Weise. Der eigentliche „Gründer“ des IS war Abu Musab al-Zarqawi, der 2006 im Irak getötet wurde. Die Wurzeln dieser Organisation gehen auf das Jahr der Irak-Invasion 2003 und auf die Zeit danach zurück. Warrick beschreibt, wie die US-amerikanische Invasion dazu geführt hat, dass al-Zarqawi der Kopf eines riesigen Aufstands im Irak wurde, der zunächst Al-Qaida im Irak genannt wurde und dann der IS wurde. Der Kern des IS bestand aus ehemaligen irakisch-sunnitischen Offizieren und ehemaligen Mitgliedern der Republikanischen Garde Saddam Husseins.
George W. Bush diente Al-Qaida als Vorwand, in Afghanistan und schließlich völkerrechtswidrig in den Irak einzufallen. Eine Farce: In Wahrheit hat es eine Reihe von Kollaborationen mit eben dieser Al-Qaida gegeben.
Waren die USA ursprünglich nicht angetreten, um sie zu zerstören? War das nicht ein Grund mit, in Afghanistan einzufallen: Umso erstaunter war ich, zu vernehmen, dass Präsident Trump im Zusammenhang mit dem Syrien-Desaster kurz nach Amtsantritt, also 16 Jahre nach dieser Ankündigung, die US-Unterstützung der kampfstärksten und entschlossensten Gegner der syrischen Regierung untersagt hat, nämlich die CIA-Unterstützung der Dschihadisten und Salafisten, allen voran die al-Qaida-Truppe al-Nusra (in unterschiedlichen Namens- und Allianzauftritten) und die salafistisch-dschihadistische Ahrar al-Sham sowie Dschihadistenformationen wie Jaysh al-Islam, die den militärischen Gegenblock zur syrischen Regierung dominierten.
Vorgeblich ging es den USA und ihren transatlantischen Vasallen später in Syrien zunächst darum, die gepeinigte syrische Bevölkerung vom "Schlächter Assad" zu befreien. Dem entsprechenden Narrativ zufolge wehte der "Arabische Frühling" auch durch Syrien und wurde von der syrischen Regierung brutal zusammengeschossen.
Als der Sturz des "Assad-Regimes" gründlich misslang, wurde ein neues Narrativ ausgegeben, nämlich die Bekämpfung des selbst ernannten "Islamischen Staates" (IS), der sich nach dem verheerenden US-Krieg mit seiner Coalition Of The Willing im Irak auch in Syrien ausgebreitet hatte. Zur angeblichen Bekämpfung des IS wurde u. a. die sogenannte "Freie Syrische Armee" aus dem Hut gezaubert: ein Magnet für Dschihadisten jeglicher Couleur*. In Wahrheit ging es um die Rekrutierung der Bodentruppen für die Drecksarbeit, während sie selbst mit Bombereinsätzen nach Maßgabe der von Deutschland gelieferten Zielkoordinaten Tod und Vertreibung brachten.
*Eine Auflistung der auch gegenwärtig von Recep Tayyip Erdoğan für seine syrische Annektion eingesetzten Milizen ist hier zu finden: 26.10.2019 - Die "Armee Mohammeds"
Und es war auch Recep Tayyip Erdoğan, der Al-Qaida poussierte, waren sie ihm doch behilflich, die lästigen Kurden zu bekämpfen.
Es ist also noch lange nicht ausgemacht, wie oder in welcher Form Al-Qaida/IS weiterexistiert. Gezeugt und geboren, auch instrumentalisiert hat sie jedenfalls in erster Linie das supranationale Angriffsbündnis der westlichen Wertegemeinschaft.
Wann wäre eine Zeit gekommen, in der solcher Hintergrund Teil von Nachrichten, Bildungswesen und Common sense geworden, und die Führung der USA von einem Weltgericht für Reanimation, Rekrutierung und Ausstattung archaischen Ungeheuers und dessen Instrumentalisierung zur Rechenschaft gezogen würde?
Wohl mit authentischer Demokratie.
… Dann würden wohl auch EU- und andere westliche Staaten auf Wiedergutmachung durch USA für in westlicher Hemisphäre erfolgte Bombenlegungen, Attentate und Morde durch Dschihadisten klagen.
… Und das Gericht wohl nur jenen Recht zusprechen, die der Nahost-Police der Amerikaner zuvor nicht zuarbeiteten.
Womit z.B. Deutschland dann wohl kaum Ansprüche geltend machen dürfte.
Das mit dem Weltgericht ist schon so eine Sache, da es über keine „eigenen Truppen“ verfügen würde, seine Rechtsprechung auch durchzusetzen.
Und mittlerweile sind es nicht nur die Amis, die sich einen Dreck um Regelwerke und Rechtsprechung scheren, das tun die Bundesregierungen des „Parteienkartell aus CDU/CSU, SPD, FDP und GRÜNEn“ seit 20 Jahren.
"Die USA sind fort, der IS kehrt zurück.“
Kann es vielleicht sein, rhetorisch gefragt, dass die USA durch die Rückkehr des IS nicht fort sind, sondern nur andere für die USA wieder ihren Kopf und den Rest ihres Körpers opfern müssen sowie es die Bodentruppen der USA in Syrien, die Kurden, die letzten Jahren getan haben, um anschließend von türkischen Truppen getötet zu werden?
Gerne gebe ich zu, denken, zumal meines, hilft dabei nicht weiter.