Die von hier: Was Anwohner von Nachbarn unterscheidet

Nah dran In Paris dürfen sie zu Olympia nur mit QR-Code in ihr Viertel, ansonsten fällt diese Spezies oft durch Beschwerden auf: Über krähende Hähne oder spielende Kinder – und wird jetzt etwa auch noch der Parkausweis teurer? Unser Wochenlexikon
Ausgabe 17/2024
Wir kennen uns doch, machen Sie doch mal ne Ausnahme
Wir kennen uns doch, machen Sie doch mal ne Ausnahme

Foto: Andreas Herzau/Lai

A

wie Ausweiskontrolle

In Paris müssen Anwohner im kommenden Sommer einen QR-Code vorzeigen, wenn sie in ihre an der Seine gelegenen Viertel gelangen wollen. Als ich das las, musste ich an den 1. Mai denken, damals in den Neunzigern. Kein Großereignis wie die Olympischen Spiele, bien-sûr,aber es muss Terrorgefahr gegeben haben in Prenzlauer Berg, zumindest wenn es nach der Berliner Polizei ging. Sämtliche Straßen um den Kollwitzplatz waren abgesperrt. Nur wer sich wie ich als Anwohner:in ausweisen konnte, kam durch. Die Steine für die Demo hatte ich mit meiner Mitbewohnerin zuvor in der Walpurgisnacht gebunkert. Man musste für alles gewappnet sein. Tränengas und Wasserwerfer trafen mich, ich hätte nie gedacht, dass die so eine Kraft haben. Und warf einen Stein, der den Polizisten am Schutzschild traf. Wir flüchteten, der Inhaber eines Dönerimbisses versteckte uns im Lagerraum und brachte süßen Tee. Diesen Imbiss gibt’s hier nicht mehr (→ Möbelwagen), auch keine Demos am 1. Mai. Dafür Champagner. Maxi Leinkauf

F

wie Freiburg

Auf dem Augustinerplatz in Freiburg sammeln sich in lauen Sommernächten zahlreiche Menschen, um gesellig beisammenzusitzen. Die Anwohner des Platzes genießen zwar das Wohnen ineiner der teuersten Lagen Deutschlands, würden aber ungern vom Lachen und Singen der Geringverdiener und Studenten belästigt werden. Das grünbürgerliche Freiburg wollte den Konflikt zunächst ganz pädagogisch lösen und stellte 2009 eine leuchtende „Säule der Toleranz“ auf, die zum Beginn der Nachtruhe von Grün auf Rot wechselt. Das brachte rein gar nichts, zwei Anwohner klagten, und vergangenes Jahr entschied das Verwaltungsgericht Mannheim: Die Stadt Freiburg muss für Ruhe sorgen. Dabei hatte die lokale Punkband Scheissediebullen bereits 2016 per Album einen vernünftigen Gegenvorschlag gemacht: Anwohner raus! Leander F. Badura

K

wie Kulturgut

Tierische Geräusche sind auf dem Land nicht nur normal, sondern erwünscht. In Frankreich jedenfalls. Dort zählt ruraler Radau seit 2021 zum nationalen Kulturerbe. Die Verantwortung dafür tragen Anwohner, genauer: klagewütige Städter, die aufs Land zogen und das naiv mit Stille verwechselten. So ging ein Rentnerpaar vor Gericht, weil es sich von einem krähenden Hahn gestört fühlte. Die Klage scheiterte, der wütende Bürgermeister von Gajac, einem Dorf im Südwesten Frankreichs, startete die Kulturgut-Initiative und hatte Erfolg. Fortan sind Grillenzirpen, Miauen oder Kirchenglockenläuten juristisch unantastbar. Dazu gehören auch Schafsblöken und das Muhen von Kühen. Aufgenommen ins Kulturgut, oder in das sogenannte „Sinneserbe“, wurde zudem der Geruch von Dung, der ebenfalls den Unmut mancher neuer → Nachbarn erregte. Das kann man lächerlich finden. Der bayerische Bauernpräsident hingegen gratulierte den Franzosen, so ein Gesetz wünsche er sich auch. Tobias Prüwer

M

wie Möbelwagen

Die schwedische Flagge auf der Dachterrasse gegenüber, die mich so viele Jahre gegrüßt hat, ist schon lange eingezogen. Wieder einmal ist ein Anwohner unbemerkt verschwunden, ausgezogen. Das Parkverbotsschild in der engen Straße kündigt den Möbelwagen an, der einen Tag lang alles blockiert. Wer verschwindet nun gerade wieder?, frage ich mich dann. Man sieht sich auf der Straße, grüßt, aber die geografisch bedingte Bekanntschaft ist so flüchtig wie die nistenden Vögel im Haselnussbaum. Kürzlich lief ich dem Polstermeister an der Ecke über den Weg, unser zuverlässiger Paket-Betreuer. Nun gibt er sein Geschäft auf, „die Leute wollen für Qualität nicht mehr bezahlen“, sagte er. Man muss es haben, das Geld, und viele hier haben es nicht mehr. Was bleibt, sind die mietfreien Eichhörnchen. Manchmal eine nachbarliche Plage. Ulrike Baureithel

N

wie Nachbarn

In der Schweiz heißen sie Anstößer, in Österreich Anrainer, in Deutschland wohnen sie: die Anwohner. Sie sind nicht dasselbe wie Nachbarn, obwohl es sich um dieselben Menschen handelt. Kommt halt drauf an, wer sie verallgemeinert. Anwohner ist die geopolitisch korrekte Bezeichnung aus der deutschen Vogelperspektive, also von außen betrachtet: Alle Anwohner müssen evakuiert werden. Um Anwohner trauert man nicht, um Nachbarn schon. Manchmal streitet man auch mit ihnen oder erregt sich. So wie die Nachbarn über mir, die haben immer samstags Sex. Vormittags, 11 Uhr. Dann macht die Zimmerdecke Geräusche, man hört ein quietschendes Bett. Hier wäre wohl „Anlieger“ treffender. Wenn man andere Leute beim Sex hört, fühlt man sich ausgeschlossen und zugleich eingeschlossen. Dasselbe trifft mitunter auf die Anwohnerin zu. Ob sie dazugehört – und wozu überhaupt? – oder als anstößig gilt, entscheidet die tratschende Nachbarin, der Briefträger – oder die AfD. Katharina Körting

P

wie Parkausweis

Der korrekte Begriff, den meisten Anwohnern wahrscheinlich nicht geläufig, lautet „Bewohnerparkausweis“. Ein Papier, das in sogenannten „Ballungsräumen“ Gold wert sein kann. Deshalb wundert es wenig, dass die Stadt Münster kürzlich den jährlich zu entrichtenden Obolus für den begehrten Schein von läppischen 17 auf 260 Euro erhöhte. Zunächst waren sogar 380 Euro im Gespräch, doch heftige Proteste der autofahrenden Bevölkerung sorgten für eine Korrektur der Preisvorstellungen. An dem Ziel, Kraftfahrzeuge aus der Innenstadt zu vergraulen, ändert das aber nichts. Schließlich gilt es, bis 2030 klimaneutral zu werden (→ Windräder). Die westfälische Radfahrermetropole Münster darf sich hier als Vorbild sehen. Denn drastische Gebührenerhöhungen für Parkausweise sind mittlerweile in fast allen deutschen Großstädten geplant. Joachim Feldmann

S

wie Spielstraße

Unsere Straße soll auf Wunsch einiger Eltern seit Jahren in eine Spielstraße umgewandelt werden. Einmal im Jahr wird geübt: Die Straße wird vom Ordnungsamt abgeriegelt, die parkenden Autos müssen raus (→ Parkausweis), manche der Eltern spielen gewöhnungsbedürftig Gitarre, die Kinder malen den Asphalt mit Kreide zu und kreischen laut. Der ehemalige Hausmeister (87) und seine Frau (86) sind so nett wie oldschool und heilfroh, dass die Party nur einen Tag dauert. Mir geht es ähnlich: An diesem Tag ist für mich Freiberuflerin Wochenendarbeit am Schreibtisch nicht drin. Die Parallelstraße wäre schon eher spielstraßentauglich: Es ist keine Durchfahrtsstraße, sondern eine, die, mit Pflanzinseln versehen, von den Anwohnern quasi komplett zum Parkplatzumfunktioniert worden ist. Die wiederum wollen darauf ebenso wenig verzichten, wie Eltern in meiner Straße wollen, dass die Kinder eine Straße weiter spielen, was wiederum mir und den Alten lieber wäre. Anwohner in Frankfurt am Main sein bedeutet mitunter auch, dass die anderen nicht so wollen wie man selbst. Beate Tröger

U

wie Unglücksfälle

Solange Walter Benjamin in Berlin wohnte, war er Anwohner von Menschen, die sich zu seinen Todfeinden und denen aller anderen Juden und Jüdinnen entwickeln sollten. 1892 geboren, konnte er sich 1933 der Gefahr zunächst entziehen, indem er ins Pariser Exil ging. In den Jahren vor 1933 begann er seine Berliner Kindheit um neunzehnhundert als eine Sammlung von Skizzen auszuarbeiten, die in Buchform zuerst 1950 erschien. Das großbürgerliche Kind, dessen Weltwahrnehmung geschildert wird, wächst behütet auf, hat aber bereits ein Sensorium fürs Schwarze. Es sieht Rettungsringe am Kanal und denkt: „Für das Unglück war überall vorgesorgt; die Stadt und ich hätten es weich gebettet, aber nirgends ließ es sich sehn.“ Wenn das Kind zu Hause die Tür öffnet, soll es erst die Kette vormachen, haben die Eltern (→ Spielstraße) gesagt. Michael Jäger

W

wie Windräder

In Niedersachsen sollen Anwohner:innen, die im Umkreis von bis zu 2,5 Kilometern von neu gebauten Windrädern wohnen, von nun an finanziell an den Gewinnen beteiligt werden: Durchschnittlich 0,1 Cent pro eingespeister Kilowattstunde sollen dabei für sie rausspringen. Außerdem soll es bald die sogenannte „Akzeptanzabgabe“ für die Kommunen geben, die aber wiederum an Bedingungen geknüpft ist: Das Geld soll zum Beispiel in Hallenbäder, Solaranlagen auf Kitadächern oder in den Naturschutz fließen. Die Politiker vor Ort müssen laut dem Umweltministerium den Menschen einmal im Jahr sagen, wofür sie es ausgegeben haben. Die direkte Beteiligung der Bürger könne auch in Form von „Bürgerenergiegenossenschaften“ laufen, schlug der Grünen-Minister vor – konkreter wurde er nicht. All diese Maßnahmen sollen wohl besänftigen, zeugen aber eher von der Hilflosigkeit der Landespolitik, mit Argumenten zu überzeugen. Andererseits: Lieber Klimaschutz durch Bestechung als gar kein Klimaschutz. Denn davon hat wirklich niemand etwas. Joscha Frahm

Z

wie Zustände

Wir alle wohnen neben irgendwas, aber Anwohner sind wir nur manchmal. Dieses Sonderformat tritt stets in Kombination mit urbanen „Schandflecken“ und anderen Hotspots des Unguten auf, die von schwarzen oder grünen Konservativen ausgerufen werden. Gern anonym und fast immer im unbestimmten Plural fungieren die Anwohner als unhintergehbare Opfer, deren unfassbares Leiden an den jeweils unhaltbaren Zuständen zu sofortigem Handeln zwingt! Dass man sich als Nebenan-Lebender in dieser Vox Populi bisweilen nicht findet, liegt in der Natur einer pluralistischen Gesellschaft, darf aber nicht irritieren: Die Anrufung der Anwohner will typischerweise nicht Probleme lösen, sondern in Wirklichkeit Menschen im Sinne einer Ordnungs-Agenda mobilisieren, die ganz woanders leben. Herzliche Grüße vom Berliner „Görli“, Sie wissen schon! Velten Schäfer

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