Eingemauert in Schuld

Literatur „Hannahs Verlies“ erzählt von Kriegsende, Lagerhölle, Alkohol und Schweigen
Ausgabe 33/2020
Sowjetsoldaten stürmen eine polnische Stadt an der Ostfront, 1945
Sowjetsoldaten stürmen eine polnische Stadt an der Ostfront, 1945

Foto: United Archives International/Imago Images

Der Roman hat einen der längsten Cliffhanger, erst nach fast 500 Seiten wird das Geheimnis vom Anfang aufgeklärt: „Ich hätte sie nicht einmauern dürfen. Nein das hätte ich nicht. Hannah ist doch meine Schwester. – Diese drei kurzen Sätze standen auf der Rückseite eines zerknitterten Fotos. Das Foto gehörte zum Inhalt eines alten Schuhkartons. Der Schuhkarton stand unter dem Bett. Es war das Bett, in dem Vater gestorben ist.“

Der gerade verstorbene Vater ist Helmuth Harder, geboren 1929 in Charlottenhof in Schlesien. Als er zu Beginn des Jahres 1945 erlebt, wie Soldaten der Roten Armee als Befreier kommen, der Zivilbevölkerung aber mit hemmungsloser Gewalt begegnen, beschließt er, seine drei Jahre jüngere Schwester Hannah zu verstecken. Der Roman spart Szenen bestialischer Gewalt nicht aus. Viele begangen unter Alkohol. Eine erzählt davon, wie Helmuth so lange Klavier spielen muss, wie die Soldaten sich an seiner Mutter und Schwester vergehen. Um Hannah ein gleiches Schicksal zu ersparen, beschließt er, sie im Keller des Elternhauses einzumauern. Dann wird der 15-Jährige verraten, kommt unter dem Verdacht, ein „Werwolf“ zu sein, sofort in ein sowjetisches Speziallager und von dort in ein Arbeitslager in Sibirien.

Am Anfang zählt er immer noch die Tage und rechnet aus, wie lange Hannah mit ihren Vorräten überleben kann. Später holt er sich Trost aus der Hoffnung, dass ihr Vater das Verlies gefunden haben könnte. Als er im Lager Augenkontakt zu einer Frau findet, die er nur ein einziges Mal berühren kann, rettet er sich in eine Liebe. Dass Maria bald an Typhus stirbt, verheimlicht ihm der Lagerarzt, damit die Hoffnung weiterleben kann. Eine berührende Szene. Als er zum Bestattungskommando des Lagers gehört, entdeckt er unter den täglichen Leichen seinen eigenen Vater. Erst nach fünf Jahren gibt ihn die Hölle des Lagers frei .

Der Autor Andreas H. Apelt wurde 1958 im brandenburgischen Luckau geboren. Bereits in den 80er Jahren wollte er zur Literatur, hatte als Kritiker der DDR aber nur eingeschränkte Chancen. Erst nach der Friedlichen Revolution konnte er erstmals durchstarten. Apelt schreibt über Menschen unterm Rad der Diktaturen des 20. Jahrhunderts. In seinem bereits sechsten Roman Hannahs Verlies folgt er diesem Thema auf sehr besondere Weise. Erzählt wird der Roman auf zwei Ebenen. Die eine spielt in der Gegenwart, unmittelbar nach dem Tod von Helmuth Harder. Sein Sohn, ein Journalist, ist angereist, um die Beerdigung des Vaters und die Auflösung des Haushalts zu veranlassen. Dabei stößt er auf das Foto von Hannah und die geheimnisvolle Beschriftung und beschließt, die Geschichte des Vaters nach dessen Aufzeichnungen aufzuschreiben.

Der zweite Erzählstrang ist die vom Sohn rekonstruierte Geschichte des Vaters. Erst am Ende wird Hannahs Geschichte aufgelöst. In literarisch angemessener Mehrdeutigkeit. Manchmal kann die Spannung auf der Gegenwartsebene mit der von Krieg, Nachkrieg, Vertreibung und den Lagern nicht mithalten. Die Stärke von Hannahs Verlies liegt woanders: Für den nachgeborenen Leser bietet der Roman eine der letzten großen Gelegenheiten, diesen bald aus der Zeitzeugenschaft entlassenen Teil der Geschichte in sein Gedächtnis aufzunehmen. Aufnehmen als Übernehmen. Auch aus Verantwortung für die Geschichte vor uns. Freilich ergeben sich aus der Absicht, der Hölle der Lager nicht viele Schrecken schuldig zu bleiben, Redundanzen. Der Tod ist nicht steigerbar. Der dem Schweigen wie dem Alkohol verfallene Vater ebenfalls nicht. Intensive Wirkung mischt sich mit dem Eindruck überzogener Länge. Da hier die Schlusswendung von Hannahs Geschichte nicht preisgegeben werden darf, wenigstens dies: Der Sohn, der seinen Vater aus dessen Schweigen auszugraben sucht, findet am Ende sich selbst.

Info

Hannahs Verlies Andreas H. Apelt Mitteldeutscher Verlag 2020, 480 S., 20 €

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