Essay Vor einem Jahr wurde Jina Mahsa Amini im Iran von Sicherheitskräften ermordet. Eine Welle des Protests, insbesondere der Frauen, brach sich bahn und wurde zur ernsthaften Bedrohung für das Regime. Wie geht es der Protestbewegung heute?
Die Freiheitsbewegung im Iran ist die erste feministische Revolution
Foto: Maja Hitij/Getty Images
Erinnert sich die Welt noch an die unglaublichen Bilder aus dem Iran von vor einem Jahr? Die 22-jährige Jina Mahsa Amini wurde im Gewahrsam der Sittenpolizei fast totgeschlagen und anschließend in ein Krankenhaus eingeliefert. Zwei Tage lag sie dort im Koma und verstarb. Schon bei ihrer Beerdigung in der kurdischen Stadt Saghez im Norden Irans nahmen die Frauen – übrigens zum ersten Mal nach den Protesten der Frauen am 8. März 1979, dem Jahr nach der Islamischen Revolution – ihre Kopftücher kollektiv ab. Parolen wie: „Ein Mord aufgrund des Verschleierungsgebots“ und „Wie lange dauert diese Erniedrigung noch?“, wurden skandiert.
Das ganze Land reagierte auf den Mord an Jina Mahsa Amini und die Proteste in Kurdistan. In kürzest
In kürzester Zeit sah man weitere Frauen auf der Straße, ältere und jüngere, die ihre Kopftücher verbrannten. Die Parole der kurdischen Freiheitsbewegung Jin, Jiyan, Azadî (kurdisch für ‚Frau, Leben, Freiheit‘, Anm. d. Red.) wurde zur Parole der Proteste. Von Beginn an waren und sind Frauen, queere Menschen sowie ethnisch marginalisierte Minderheiten und die jüngere Generation die treibenden Kräfte der Freiheitsbewegung.Die westlichen Länder zögerten lange mit effektiven Sanktionen gegen den Iran. Die iranischen Revolutionsgarden wurden noch nicht auf die EU-Terrorliste gesetzt. Und trotzdem berichten die Menschen im Iran von gesellschaftlichen Veränderungen, die davon zeugen, dass diese Protestbewegung, nicht so schnell enden werden. Doch die Proteste wurden immer brutaler unterdrückt und niedergeschlagen.Ein Jahr später nun die Bilanz: 20.000 Gefangene, Hunderte von Ermordeten, darunter viele Jugendliche und sogar Kinder. Dazu hat der Staat mit den Hinrichtungen angeblicher Straftäter begonnen. Laut Amnesty International wurden in diesem Jahr bisher mindestens 282 Menschen hingerichtet – das sind fast doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. Die Maschinerie der Gewalt des Staates funktioniert im Iran besonders gut, weil die politischen Kräfte, die die Inhalte der Proteste in eine politische Programmatik fließen lassen könnten, fehlen. So schafft es die iranische Regierung, die Erfolge der Protestbewegung als Missstände darzustellen. Dazu repräsentieren Teile der iranischen Opposition im Exil, wie der Sohn des letzten iranischen Shah, Reza Pahlavi, eher die konservativen und ultrarechten Stimmen.Dieses Jahr ist das iranische Regime auf die Proteste vorbereitetVor ein paar Wochen erhielt ich diese Zeilen: „Die ‚Jin, Jiyan, Azadî‘ -Bewegung hat auch die Lage im Gefängnis geändert. Wir waren begeistert und wurden mutiger. Ich selbst habe seitdem kein Kopftuch mehr getragen, sie können uns auch nicht mehr zwingen, Kopftücher zu tragen. Sie haben Angst vor Frauen. Sie haben Angst vor der Sache, nicht vor uns. Als sie die Gefangenen dieser Bewegung zu uns brachten, haben wir sie aufgenommen. Im Gefängnis sind wir vereint gegen den Staat und seinen Faschismus“.Die junge Frau, die das geschrieben hat, sitzt seit Jahren im berüchtigten Evin-Gefängnis in Haft. „So viel Mut hatten wir in den letzten Jahren nicht“, schreibt sie. „Diese Solidarität zwischen uns wird bleiben. Es gibt keinen Weg mehr zurück. Vor allem nicht, wenn es um den Hijab und die ‚Frau, Leben, Freiheit‘-Proteste geht“. Kurz vor dem Jahrestag des Mordes an der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini, dem 16. September, befindet sich die politische Lage im Iran auf einer anderen Stufe: Den Berichten aus dem Iran zufolge haben sich viele Dinge in der Gesellschaft dermaßen verändert, dass die Menschen sich kaum ein Zurück in die vermeintliche Normalität des Landes vor den Protesten vorstellen können.Und jetzt? Frauen wehren sich weiterhin tagtäglich gegen die Zwangsverschleierung. Künstler*innen werden weiterhin festgenommen, weil sie sich für die Proteste aussprechen. Und auch Aktivist*innen werden präventiv vor dem Jahrestag der Proteste rund um Jina Mahsa Aminis ersten Todestag festgenommen. Bereits sechs kurdische Parteien und Organisationen haben in einer Veröffentlichung dazu aufgerufen, die Streiks der Menschen im iranischen Kurdistan, der Heimat von Jina Mahsa Amini, und im gesamten Land zu unterstützen.Trotz der Repressionen – im Vorfeld wurde Jina Mahsa Aminis Onkel festgenommen und ihr Vater mehrmals verhört – ruft sogar die Familie von Jina Mahsa Amini dazu auf, den Protest am Jahrestag stattfinden zu lassen. Acht Gewerkschaften im gesamten Land schließen sich den Protesten am Jahrestag an und wollen, dass ihre Mitglieder auf die Straße gehen. Und das Regime? Anders als im Jahr zuvor sind sie auf die bereits angekündigten Proteste vorbereitet und versuchen mit allen Mitteln, die Proteste im Keim zu ersticken. Weitere Proteste, organisiert von Exil-Iraner*innen und Iranischstämmigen im Ausland werden am Tag der Ermordung von Jina Mahsa Amini auf die Straße gehen. Auch in Berlin ist ein Protest für den Samstag angekündigt.Der Hass auf die Frauen hat GeschichteEin Freund aus Teheran sagt: „Die Menschen im Iran sind sehr nervös, aber auch sehr willig, wieder auf die Straße zu gehen. In Teheran setzen sie Hubschrauber ein, um sich militärisch auf die wahrscheinlichen Proteste vorzubereiten. Wir gehen auch dieses Mal auf die Straße und werden auch dieses Mal vielleicht nicht zurückkommen.“ Die erste feministische Revolution der Welt, wie die Proteste im Iran auch genannt werden, wurde von Anfang an nicht nur vom Staat massiv angegriffen. Insbesondere die Konservativen in der Gesellschaft tragen diese Proteste nicht mit. Genau wie die Ultra-Rechten in der Opposition, die ihre Existenz in Gefahr sieht.Bereits seit seiner Gründung hat der Staat Frauen als Gefahr für seine Existenz identifiziert. Deshalb waren Frauen auch die erste Gruppe, die Ayatollah Khomeini angriff, als er auf dem Höhepunkt der Revolution 1979 in den Iran aus dem Exil zurückgekehrt ist. Als eine seiner ersten Amtshandlungen rief der Machthaber die Zwangsverschleierung der Frauen aus. „Freiheit ist weder östlich noch westlich, Freiheit ist universell“ und „Die Freiheit der Frau bedeutet die Freiheit der Gesellschaft“ waren Parolen bei den Protesten gegen die Zwangsverschleierungsaufrufe im Jahr 1979. Nicht nur die männlichen Anführer der Revolution, sondern auch die patriarchale Gesellschaft und die westlichen Staaten haben damals die Parolen der Frauen bei den Protesten gegen die Zwangsverschleierung nicht ernst genommen. Mehr noch, Khomeini wurde von den westlichen Staaten zu lange hofiert.Doch die Weltöffentlichkeit sollte wenigstens diese Proteste ernst nehmen. Trotz der verschiedenen politischen Ausrichtungen innerhalb der Bewegung, von Ultralinken zu Vertreter*innen der Arbeiterbewegung insbesondere bis hin zu ethnischen Minderheiten wie den Kurd*innen, bleibt es ein feministischer Protest. Weil darin und nur darin besteht die Emanzipationschance der iranischen Gesellschaft.Placeholder authorbio-1