„Bist du von dem Geschehen geschockt?“ Mit dieser Frage begrüßte mich am Montag ein Kollege mit Blick auf die aktuelle Krise in Israel und Gaza. „Ja und nein“, antwortete ich. Ja, wegen der schockierenden Berichte über brutale Gräueltaten der Hamas und die Szenen der Zerstörung in Gaza. Nein, denn die Krise ist keine Überraschung. Sie ist nicht überraschender als der Ausbruch eines nicht erloschenen Vulkans. Erstaunlich wäre, wenn nicht von Zeit zu Zeit Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern ausbrechen würde – was genau das ist, was seit Jahrzehnten passiert.
Es stimmt, dass die Hamas konkret an der aktuellen Krise beteiligt ist. Dahinter steckt jedoch ein seit 75 Jahren andauernder Konflikt, in dem die b
dem die beiden Parteien der Staat Israel und die staatenlosen Palästinenser sind. Solange dieser Konflikt nicht geregelt ist, und zwar in einer Weise, die die Würde und die Rechte beider Parteien respektiert, wird der Vulkan, der als Israel und Palästina bekannt ist, weiterhin regelmäßig ausbrechen, und Gaza wird der Hauptschauplatz dieses Ausbruchs sein. Das Ausmaß der Brutalität und Zerstörung mag nicht immer so groß sein wie jetzt, aber jeder einzelne Fall wird ohne jeden Zweifel schockierend sein.Was das Völkerrecht nicht legitimiertWas ist angesichts dessen die Rolle einer dritten Partei? Genauer gesagt, was ist Europas Rolle? Europa ist natürlich keine Einheit und die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sprechen nicht unbedingt mit einer Stimme. Aber es gibt mehr oder weniger eine Kernbotschaft, die Europa als Ganzes inmitten des Tumults dieses schrecklichen Krieges in Richtung Nahen Osten sendet. Die Position, die die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, am Tag nach dem Angriff der Hamas auf Israel äußerte, ist repräsentativ: „Israel hat das Recht, sich selbst zu verteidigen – heute und in den folgenden Tagen. Die Europäische Union steht an der Seite Israels.“Die erste Aussage ist im Wesentlichen richtig: Alle Staaten, auch Israel, haben das „Recht auf Selbstverteidigung“ gegen einen bewaffneten Angriff, das in Artikel 51 der UN-Charta verankert ist. Aber nicht jede Maßnahme, die ein Staat mit Berufung auf Selbstverteidigung ergreift, entspricht internationalem Recht. Deckt Israels Recht auf Selbstverteidigung massive Luftangriffe auf zivile Gebiete ab, die Wohnhäuser dem Erdboden gleichmachen, Hunderte von Menschen töten und Tausende von Menschen zwingen, ihre Häuser zu verlassen? Gehört zum Verteidigungsrecht, den Zugang zu Lebensmitteln, Wasser und Elektrizität abzuschneiden: Überlebensgrundlagen für alle Bewohner des Gazastreifens, nicht nur für die Mitglieder der Hamas? Legitimiert es die kollektive Bestrafung von Menschen für die Verbrechen einer terroristischen Organisation? Und wie genau ist es anzuwenden, wenn Israels Besetzung der Westbank und die 15-jährige Blockade des Gazastreifens illegal sind, ohne die Aussicht auf ein Ende?Die Rolle der dritten ParteiJosep Borrell, der dem diplomatischen Flügel der EU vorsteht, mahnte Israel diese Woche, sich an die Kriegsgesetze und die Menschenrechte zu halten. Aber die vorherrschende Botschaft, die die EU dem Nahen Osten vermittelt, ist in von der Leyens Worten: „Die Europäische Union steht an der Seite Israels.“ Diese Botschaft impliziert, wenn auch nur rhetorisch, dass die EU nicht „an der Seite“ der Palästinenser „steht“. Es ist, kurz gesagt, eine einseitige Botschaft.Dieser Eindruck wird verstärkt, wenn Berlin und Paris das Brandenburger Tor und den Eiffelturm mit den blau-weißen Farben der israelischen Fahne beleuchten. (Ähnlich wurde auch das Weiße Haus, der US-Präsidentensitz in Washington, angeleuchtet). Das ist genau das Gegenteil davon, was eine verantwortungsvolle dritte Partei in Richtung der beiden Parteien in einem Konflikt, um die es sich letztlich handelt, kommunizieren sollte. Das trifft besonders auf Europa zu, das historisch eine große Rolle dabei spielte, noch bevor der Staat Israel 1948 überhaupt gegründet wurde, den Konflikt zwischen Juden und Palästinensern in der Region zu fördern.Welche Rolle sollte Europa also spielen? Es sollte nicht die Fahne der einen oder anderen Seite schwenken. Es sollte über den Dingen stehen und Wege suchen, Israelis und Palästinenser dabei zu unterstützen, zusammenzukommen, um sich eine nachhaltige Zukunft aufzubauen. Das Streben nach auf Gerechtigkeit beruhendem Frieden ist die richtige Rolle für eine dritte Partei. Es ist auch die Rolle eines wahren Freundes. Bevor kein Frieden in Gerechtigkeit erreicht ist, gibt es für beide Seiten keine Sicherheit. Es wird weiter von Zeit zu Zeit Szenen geben, wie wir sie jetzt beobachten: schockierend, aber nicht überraschend.