Terroranschläge in Israel, Krieg in Gaza: Der Verrohung entgehen
Meinung Verschleppungen, Mord, Bomben, Hamas, Israel – die Informationen reichen nicht. Es sind zu viele. Und die verständliche Liebe für singuläre Ursachen hilft sicher nicht weiter. Das schließt nicht aus, über Schuld zu reden
Das israelische Raketenabwehrsystem fängt Raketen ab, die aus dem Gazastreifen abgefeuert werden
Foto: picture alliance/Reuters/Amir Cohen
Es ist ein fürchterliches Dilemma, über die Tragödie im Nahen Osten zu schreiben. Über ein Land, dessen Existenz bedroht ist, die Mordbrennerei, die mit dem Angriff einhergeht, und die Folgen, die dies nach sich zieht und ziehen wird. Wenn Schreckliches wie jetzt in Israel und im Gazastreifen passiert, wenn Raketen und Bomben fallen, ist es gegen die Angst tröstlich, klare Einordnung, sachliche Bewertung und mögliche Auswege aufschreiben zu können. Die Fülle der Reaktionen in der Politik ordnen und in vernünftig-unvernünftig, hilfreich-gefährlich einzuteilen. Aber wie soll das gehen?
Meinungen prasseln im Minutentakt auf uns ein, Nachrichten setzen schon nach einer Viertelstunde Patina an, jetzt Gesagtes ist in der zweiten Hälfte d
erliches Dilemma, über die Tragödie im Nahen Osten zu schreiben. Über ein Land, dessen Existenz bedroht ist, die Mordbrennerei, die mit dem Angriff einhergeht, und die Folgen, die dies nach sich zieht und ziehen wird. Wenn Schreckliches wie jetzt in Israel und im Gazastreifen passiert, wenn Raketen und Bomben fallen, ist es gegen die Angst tröstlich, klare Einordnung, sachliche Bewertung und mögliche Auswege aufschreiben zu können. Die Fülle der Reaktionen in der Politik ordnen und in vernünftig-unvernünftig, hilfreich-gefährlich einzuteilen. Aber wie soll das gehen?Meinungen prasseln im Minutentakt auf uns ein, Nachrichten setzen schon nach einer Viertelstunde Patina an, jetzt Gesagtes ist in der zweiten HXX-replace-me-XXX228;lfte des Tages wieder überholt, Bilder erklären nichts und sagen alles. Alle Statements auf Überholspur, keines verweist auf einen vernünftigen Ausweg.Auswärtiges Amt, Nancy Faeser, EU ...Niemand von denen, die in diesen Tagen ohne überschaubare Nachrichtenlage (in keinem Krieg ist die Nachrichtenlage überschaubar) etwas sagen müssen, ist zu beneiden. Keinem aus der Politik ist die Möglichkeit gegeben, zu erklären: Ich muss nachdenken, gebt mir Zeit. Ich bin überrascht, geschockt, ich kann es – ehrlich gesagt – gar nicht richtig fassen. Ich weiß noch nicht genug, um jetzt Wortmeldungen abgeben zu können, die den Tag unbeschadet überstehen werden. Die Informationen reichen nicht. Es sind zu viele.Immer sollte vor der Kamera und für den Vorspann der eine Satz rausspringen, der als Überschrift taugt: Auswärtiges Amt: Es geht kein deutsches Geld an Terroristen; Faeser: Keine Übertragung des Nahost-Konflikts auf Deutschland. Eilmeldung: EU will Hilfsgelder für Palästinenser aussetzen. Und die Ereignisse überschlagen sich, Nachrichten treten einander in die Hacken, jede übertrifft in ihrer Tragik die vorangegangene. Mehr als 1.000 Tote durch den Terrorangriff der Hamas, meist israelische Zivilisten. Israel mobilisiert 300.000 Reservisten. 700 Tote im Gazastreifen. Ölpreise steigen. Ein israelischer Mann weint vor laufender Kamera um Frau und zwei Kinder, die von den Terroristen der Hamas entführt worden sind. Ein Ehepaar in Deutschland muss durch wacklige Bilder aus Social-Media-Kanälen erfahren, dass sich die Tochter in der Gewalt der Hamas befindet.Rauch auf FlatscreensFlatscreens in Wohnzimmern füllen sich mit Rauch und Feuer, Sondersendungen schaffen nicht, dass sich der Rauch verzieht. Die Zahl der Toten steigt stetig. Können alle Opfer identifiziert und begraben werden? Sind bereits alle Familien in Trauer, weil ein Verwandter, ein Freund, eine Nachbarin zu den Kriegsopfern zählt? Der Kriegszustand wird ausgerufen. Was heißt das eigentlich? 1.000 Ziele im Gazastreifen getroffen – vorhin waren es noch 500.Was also schreiben, wenn alles Geschriebene sich dem nur hinzufügen oder hintanstellen würde? Eine Aneinanderreihung von Schrecklichkeiten, eine stetige Unterschlagung der Tatsache, dass wir in dieser lauten, brüllenden Gegenwart kaum die Möglichkeit haben, der Vergangenheit zuzuhören. Die so schwierig zu verstehen ist.Kinder sind Kinder, und wenn sie getötet werden, sollte die Trauer sie alle einschließenGeschweige denn, über die nächste und etwas fernere Zukunft nachzudenken. Und dann müssen wir auch noch gegen unsere verständliche Liebe für singuläre Ursachen, die alles klar und nachvollziehbar erklären, ankämpfen. Mit Singularität kommen wir gar nicht weiter. Es sei denn, man machte sich die Mühe, jede Opferzahl, die in schneller Abfolge vermeldet wird, in Singularitäten zu denken. Also jeden einzelnen Menschen, der getötet wird. Das könnte davor bewahren, ganz schnell zu jenen beruhigenden Gewissheiten zu gelangen, die kaum ein Haltbarkeitsdatum vorweisen können. Und davor, dass der Sprache das Mitgefühl ausgeht. Es könnte helfen, der Verrohung zu entgehen, die in jeder Abstraktion als Gefahr enthalten ist. In einem Krieg stirbt der Mensch nicht, er wird umgebracht. Kinder sind Kinder, und wenn sie getötet werden, sollte die Trauer sie alle einschließen, egal, ob ihre Väter Terroristen oder israelische Soldaten sind.Das im Kopf zu behalten, schließt nicht aus, über Schuld zu reden. Solidarisch mit den Angegriffenen zu sein, mit den Opfern, und den brutalen Angriff zu verurteilen. Und sich trotzdem nicht der Frage zu verweigern, wie es wohl für 2,3 Millionen Menschen im Gazastreifen sein wird, wenn die angekündigte „totale Blockade“ Lebensmittel, Treibstoff, Wasser und Strom umfasst. Nicht der Frage, wie es für die Menschen in Israel ist, wenn sie den Himmel über sich als feindliches Gebiet betrachten und stets gewahr sein müssen, dass eine Rakete einschlagen und ihr Leben oder das Leben ihrer Angehörigen beenden kann. Dass sie in ihrem Existenzrecht bedroht sind, ihr Existenzrecht im Kern betroffen ist.Wird ausgelacht, mit Häme bedacht oder beschimpft, wer jetzt schon dem Ende des Tötens das Wort redet und für diplomatische Lösungen für diesen unendlichen Konflikt wirbt? Wer sagt: Es muss möglich sein, gemeinsam Geschichte zu schreiben, weil sich voneinander getrennte Geschichte nur blutig und tödlich denken ließe? Wahrscheinlich. Die Gegenwart ist Krieg. Und es ist – zugegeben – auch nur eine mögliche Sicht auf die Gegenwart, die sich aus dem Echo einer im Übermaß schwierigen Vergangenheit nährt. Vielleicht hätten die ersten fünf Worte dieses Textes genügt: Es ist ein fürchterliches Dilemma.
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