Regisseur Felipe Gálvez Haberle: „Hollywood hat den Völkermord verharmlost“
Interview Der chilenische Regisseur Felipe Gálvez Haberle sorgt mit seinem Erstlingsfilm „Colonos“ seit der Premiere in Cannes für Furore. Er greift darin das lange vernachlässigte Thema der Kolonialgeschichte Chiles auf
Beobachter der alten und der neuen kapitalistischen Welt in Chile: Segundo (Camilo Arancibia)
Foto: Quijotefilms
Im Jahr 1901 ist Feuerland ein riesiges, fruchtbares Gebiet an der Südspitze Südamerikas, das Begehrlichkeiten bei weißen Siedlern weckt. Im postkolonialistischen Western Colonos heuert ein Großgrundbesitzer einen britischen Soldaten an, zusammen mit einem texanischen Söldner und einem Mestizen die indigene Bevölkerung zu enteignen, um einen Handelsweg zum Atlantik zu schaffen. Mit den Mitteln des Genrefilms reflektiert der Chilene Felipe Gálvez Haberle in seinem Regiedebüt die verdrängte Geschichte seines Landes. Ein Gespräch über den schwierigen Umgang mit der kolonialen Vergangenheit und die Herausforderungen, in Chile Filme zu machen.
der Freitag: Herr Gálvez, was hat Sie dazu bewegt, einen Western über den Genozid an den
t, einen Western über den Genozid an den Ureinwohnern zu drehen?Felipe Gálvez Haberle: Ich stamme aus einer Familie, in der viele im Exil lebten, gefoltert wurden und während der Diktatur im Gefängnis saßen. Damit bin ich aufgewachsen, ich hatte oft schreckliche Albträume. Ich habe mich also schon immer für Chiles Vergangenheit interessiert. Ich wollte einen Film über die Diktatur machen, aber dazu fehlt mir die Distanz. In der Geschichte von Colonos finde ich Parallelen und kann zugleich eine Distanz einnehmen, die es mir erlaubt, den Konflikt zu reflektieren. Und wenn ich mich damit auseinandersetze, finde ich es interessanter, keine vorgefertigte Position einzunehmen. Nur so kann ich eine Diskussion auslösen.Warum ein Genrefilm?Ich habe viel recherchiert und einige der Figuren beruhen auf realen Vorbildern, so auch der Großgrundbesitzer José Menéndez, dessen Nachfahren noch immer in der Region leben. Aber mir ging es nicht um eine objektive Darstellung der Wahrheit, so etwas gibt es nicht. Colonos ist keine echte Rekonstruktion der Geschichte. Es ist eine Reflexion darüber, wie die Fiktion und insbesondere das Kino sie verändern, verzerren oder auch neu schreiben können.Placeholder authorbio-1Von dem Männertrio im Zentrum des Films ist Segundo als Mestize die interessanteste Figur, weil er so ambivalent ist …Im traditionellen Western stehen meist zwei Figuren im Zentrum, ein Mentor und sein Schüler. In meinem Film gibt es eine dritte Figur, die passiver ist, ein Beobachter. Dieser Segundo steht zwischen zwei Welten, der alten und der kapitalistischen neuen. Er versucht herauszufinden, wer er ist, woher er kommt, ob er sich weiß oder indigen fühlt. Als „mestizo“ und Sohn einer indigenen Mutter ist es ziemlich wahrscheinlich, dass er das Ergebnis einer Vergewaltigung ist. Also versucht er auch herauszufinden, woher sein Vater stammen könnte.Wie schwierig war es, diesen Film zu machen?Sehr mühsam und langwierig. Weil Chile seine Geschichte verachtet. Man sagte mir auch, dass das Projekt zu groß und zu teuer sei, dass ich es nicht stemmen könne. Ich musste mir also in Europa Partner suchen. Die deutsche Filmförderung war dabei eine große Hilfe.Dabei ist das chilenische Kino in den letzten Jahren international sehr erfolgreich, Kollegen wie Pablo Larraín und Sebastián Lelio gewinnen reihenweise Auszeichnungen.Aber das ist ein Verdienst der Regisseure, nicht des Landes, das uns kaum Geld gibt. In Chile erhalten sechs Filme pro Jahr 250.000 Dollar. Ich habe neun Jahre gebraucht, um diesen Film zu machen, und Chile war das letzte Land, das mich dabei finanziell unterstützt hat. Es ist ein Glücksspiel. Sebastián Lelio hat einen Oscar gewonnen und selbst er wird immer wieder abgelehnt. Nichts garantiert einem etwas. Und man konkurriert um das wenige Geld mit Freunden, mit Kollegen. Das ist nicht gesund.Der Film wurde als Chiles offizieller Oscarbeitrag ausgewählt. Wie waren die Reaktionen auf den Film allgemein?Ganz unterschiedlich. So habe ich den Film auch konzipiert, er sollte eine Diskussion auslösen. Ich arbeite mit verschiedenen Blickwinkeln, die Zuschauer müssen entscheiden, mit wem sie sich identifizieren. Als ich vor 15 Jahren anfing, mich mit dem Thema zu befassen, war es noch wenig bekannt. Heute ist es viel virulenter. Letztes Jahr hat sich der chilenische Staat erstmals bei den Selk’nam für den Völkermord entschuldigt. Und sie wurden als lebende Minderheit anerkannt, nicht als ausgestorbenes Volk. Mit Selk’nam-Kitsch wird Geld verdient, es werden Puppen, Schokolade und T-Shirts angeboten, es findet eine kulturelle Aneignung statt, aber keine Auseinandersetzung. Das ändert sich, auch durch den derzeitigen Präsidenten, Gabriel Boric, der selbst aus einer Migrantenfamilie in dieser Region stammt. Und ich hoffe, der Film wird noch viele Debatten und Diskussionen auslösen. Das wird kontrovers sein, denn vor allem das Ende des Films zeigt, dass die Gewalt nicht Vergangenheit ist, sondern noch immer existiert.Wie Ihr Film setzen sich in letzter Zeit auch andere kritisch mit der Kolonialvergangenheit in Nord- und Südamerika auseinander. Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“ ist nun sogar einer der Oscarfavoriten. Ändert sich da gerade etwas?Ich hoffe zumindest sehr, dass es mehr als ein Trend ist. Es ist nicht zu unterschätzen, wenn jemand wie Martin Scorsese das Thema aufgreift. Über Jahrzehnte hat Hollywood dazu beigetragen, den Völkermord an den Ureinwohnern in beiden Amerikas zu verharmlosen und weiße Cowboys als Helden zu inszenieren. Auch in Chile war dieser Teil der Geschichte lange tabu. Dass es nun langsam thematisiert und kritisch hinterfragt wird, ist überfällig.Placeholder infobox-1
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