Es ist eine Wahl, die keine Wahl lässt. Wenn die Chilenen den Verfassungsentwurf ablehnen, der ihnen am 17. Dezember bei einem Referendum vorgelegt wird, bleibt die bisher gültige Magna Charta der Pinochet-Diktatur in Kraft. Wird die Vorlage angenommen, besiegelt das eine neoliberale Wirtschaftsordnung, wie sie während der Militärdiktatur (1973 – 1990) Einzug hielt. Keine der beiden Optionen ermöglicht einen Wandel, wie ihn Hunderttausende vor nicht allzu langer Zeit auf der Straße verlangten. Im Oktober 2019 protestierten Millionen gegen das soziale Gefälle, dem die chilenische Gesellschaft ausgesetzt ist, gegen prekäre Arbeit, niedrige Renten und eine privatisierte Bildung.
Augusto Pinochet und die „Chicago Boys“
Ursprung allen
Ursprung allen Übels sind die 17 Jahre der Diktatur. Augusto Pinochet dekretierte unter Mitwirkung der „Chicago Boys“ – einer Gruppe von Ökonomen, die in den USA studiert und mithilfe der CIA ein Wirtschaftsprogramm entwickelt hatten – extrem marktliberale Reformen. Dazu gehörten ein entstaatlichtes Rentensystem, Bildungs- und Gesundheitswesen sowie der Abbau von Arbeitnehmerrechten. Diesem Modell verlieh die Macht der Obristen 1980 Verfassungsrang, was bis heute so blieb.Als Reaktion auf den Aufruhr von 2019 – dem kraftvollsten seit dem Abgang der Diktatur – wurde ein verfassunggebender Prozess eingeleitet. 2020 stimmten bei einem Plebiszit fast 80 Prozent für die konstitutionelle Erneuerung. Daraufhin legte eine demokratisch gewählte Versammlung – das erste Gremium dieser Art in der Geschichte Chiles, das zur Hälfte aus Frauen bestand und Indigene beteiligte – einen Verfassungsentwurf vor. Der garantierte soziale Grundrechte und eine staatlich verantwortete Bildung. Es handelte sich um eine der kühnsten Vorgaben zum Gesellschaftsumbau, die es je in Südamerika gegeben hatte. Darin waren das Bekenntnis zu einem „sozialen und demokratischen Rechtsstaat“ verankert, Rechte für die Ureinwohner, eine legalisierte Abtreibung und das Staatsziel Umweltschutz. Im September 2022 jedoch, als ein Referendum über die Annahme entscheiden sollte, sagten 62 Prozent „Nein“.Daraufhin wurde ein neuer Verfassungsrat gewählt, in dem die rechtsnationale Republikanische Partei über die meisten Mandate verfügte. Herausgekommen ist ein Entwurf, der das Streikrecht einschränkt, privatisierte Rentenkassen verfassungsrechtlich abstützt und die Grundlage für das Verbot von Schwangerschaftsunterbrechungen sein kann. José Piñera, Arbeitsminister unter Augusto Pinochet, schrieb im November für die Zeitschrift Economía y Sociedad, man halte nunmehr „eine modernisierte Version der Verfassung von 1980“ in der Hand, die deren Grundprinzipien beibehalte. Das Modell des freien Marktes stehe vor einem „Win-win-Szenario“.Für den linken Staatschef Gabriel Boric, der Chile seit März 2022 regiert, wäre die Akzeptanz dieses Dokuments eine erneute Niederlage. Er hat bisher nicht direkt dazu aufgerufen, dafür oder dagegen zu stimmen, warnte aber in einer Ansprache zumindest davor, „einen Rückschritt bei Frauenrechten“ zuzulassen. Die Anspielung auf ein Gesetz, das seit 2017 Abtreibungen in drei Fällen erlaubt: nach einer Vergewaltigung, bei Lebensgefahr für die Mutter und erkennbarer Lebensunfähigkeit des Fötus. Der neue Verfassungsentwurf garantiert den „Schutz des ungeborenen Lebens“, wodurch jenes Gesetz als verfassungswidrig eingestuft werden kann.Die Regierung Gabriel Boric abstrafenDie Frente Amplio, eine linke Parteienallianz, der Boric angehört, verwarf kategorisch, was der Verfassungsrat präsentierte. „Mit Enttäuschung haben wir gesehen, wie dieser zweite Prozess von einem politischen Sektor geprägt war, der die Erwartungen der Bürger ignoriert und einen Text vorlegt, der die Ungleichheit, die Spaltung und Ungerechtigkeit in unserem Land vertieft“, heißt es. Auch die KP, die zum Regierungslager zählt, sieht keine Alternative zum „Nein“, genauso wie linke und feministische Verbände, die den Entwurf als „Rückschritt und Gefahr“ bezeichnen.Wie den Umfragen zu entnehmen ist, könnte eine Mehrheit dieser Vorlage eine Absage erteilen, andererseits stehen viele Chilenen dem verfassunggebenden Prozess inzwischen gleichgültig gegenüber oder sind unentschlossen. Seit dem Votum von September 2022 herrscht Wahlpflicht, wodurch es schwieriger wird, Abstimmungsergebnisse vorherzusagen. Vor der obligatorischen Stimmabgabe lag die Wahlbeteiligung selten über 50 Prozent.Ohnehin beherrschen gegenwärtig nicht die Inhalte des Verfassungsentwurfs, sondern Themen wie Sicherheit und Migration die politische Agenda. Die Wahlempfehlungen der Rechtsparteien dramatisieren Drogenhandel, Raubüberfälle und kriminelle Banden, denen sie die Verfassung als Garantie für mehr innere Sicherheit gegenüberstellen. Es wird außerdem suggeriert, komme es am 17. Dezember zum positiven Statement einer Mehrheit, werde die Debatte über eine Verfassungsänderung endlich abgeschlossen und Stabilität der verdiente Lohn sein.Das wird seine Wirkung nicht verfehlen, zumal die Möglichkeit verlockend sein könnte, die Regierung von Präsident Boric abzustrafen. Das Misstrauen gegenüber der Politik, betrogene Hoffnungen und viel sozialer Frust tragen mutmaßlich dazu bei, dass viele das Kapitel Verfassung abhaken wollen und deshalb zustimmen. Ob sie sich dessen bewusst sind, dass so letztlich die Pinochet-Zeit fortgeschrieben wird, darf bezweifelt werden.