„Venceremos!“ Was sagt uns diese Parole 50 Jahre nach dem Putsch gegen Salvador Allende?

Kolumne „Wir werden siegen!“ – Venceremos –, diese Worte machen heute traurig, nicht nur weil in Chile 1973 Salvador Allende in den Tod getrieben wurde. Unser „Lexikon der Leistungsgesellschaft“
Ausgabe 29/2023
Der Kollaps droht überall: Waldbrand in der Nähe von Athen
Der Kollaps droht überall: Waldbrand in der Nähe von Athen

Foto: Spyros Bakalis/AFP via Getty Images

Eine gute Parole muss eines können: verbinden. Sie kann eine Analyse des Bestehenden mit Hoffnungen auf das Erwartete verknüpfen, oder sie schafft Gemeinsames zwischen Unbekannten, stiftet also Identität. „Venceremos“, spanisch für „Wir werden siegen“, erfüllt beide Anforderungen. Es war die Hymne der sozialistischen Bewegung in Chile, mit der Salvador Allende in den frühen 1970er Jahren unterstützt wurde. Die Parole formuliert im Zwischenraum Sehnsüchte nach einem besseren Morgen.

Die Siegesgewissheit von „Venceremos“ mag heute ein wenig absurd erscheinen. Nicht aber die in der Parole steckende verborgene Wahrheit: „Wir werden siegen“ drückt nicht nur Hoffnung und Optimismus aus, sondern spitzt eine deprimierende, heute stark verbreitete Perspektive zu: dass alles den Bach runtergeht, wenn wir nicht Grundsätzliches ändern.

„Bleibefreiheit“ gibt es nicht mit Ausbeutung und Profitdruck

Bekanntlich droht an allen Ecken und Enden der Kollaps. Die Ungleichheit zwischen Superreichen und Prekären und die zwischen Zentrum und Peripherie gibt vielen Menschen wenig Aussicht auf ein Leben, das lebenswert ist. Die neue Blockkonfrontation, das Blutvergießen aktuell in der Ukraine und ein immer möglicher großer Krieg zwischen den USA und China lassen atomare Horrorszenarien aus der Vergangenheit wieder aufleben.

Die meisten wissen, was die allermeisten von ihnen verdrängen: Wenn weiter die Existenzgrundlage menschlichen Lebens zerstört wird, werden sich bald nur noch die retten können, die die höchsten Dämme bauen können, während die große Mehrheit im Kampf um Ressourcen und gegen Naturkatastrophen das Nachsehen haben wird. Die „Bleibefreiheit“, wie es die Philosophin Eva von Redecker nennt, auch in Zukunft bleiben oder überhaupt sein zu können, lässt sich nicht unter Bedingungen des Profitdrucks und der Ausbeutung von Mensch und Natur herstellen. Bleibefreiheit braucht das Gegenteil des Kapitalismus.

Angesichts der vielen Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind längst nicht mehr Sozialismus oder Barbarei die Alternativen, denn selbst alle möglichen Schreckensherrschaften dürften das Ende der Menschheit letztlich nur hinauszögern. Die Alternative lautet auf lange Sicht also: Sozialismus oder Untergang. Wir werden siegen – oder wir werden nichts werden, also auch nicht sein. Es braucht keine Neuauflage einer deterministischen, quasi religiösen Siegesgewissheit. Was aber sehr wohl nötig ist: die Gewissheit, dass es den Sieg brauchen wird. „Wir werden siegen“ – die Losung von vor 50 Jahren kann heute erweitert werden. Wir werden siegen müssen.

Sebastian Friedrich ist Autor und Journalist aus Hamburg. In der Kolumne „Lexikon der Leistungsgesellschaft“ beschäftigt er sich seit 2013 mit den Ideologien des Alltags.

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