Verónica Estay trägt den Nachnamen von Opfern wie auch eines Täters der Militärdiktatur. Ihr Vater Jaime Estay und ihre Mutter Isabel Stange wurden Mitte der 1970er Jahre in Chile interniert und gefoltert, bis sie ins Exil nach Mexiko fliehen konnten. Verónicas Onkel Miguel Estay hingegen blieb in Chile und kooperierte mit der Geheimpolizei DINA. Fünfzig Jahre sind vergangen, seit die chilenische Luftwaffe am 11. September 1973 den Amtssitz des Präsidenten bombardierte und ein Staatsstreich von Obristen um Augusto Pinochet den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende stürzte. Die folgenden 17 Jahre eines Militärregimes hinterließen über 40.000 Opfer, darunter mehr als dreitausend Tote und über tausend „Desaparecidos
Chile: Nachfahren der Täter wollen eine Mauer des Schweigens durchbrechen
Militärputsch 1973 Verónica Estay und der Filmregisseur Pepe Rovano erzählen die Geschichte von Angehörigen, die sich während der Pinochet-Diktatur monströser Verbrechen schuldig gemacht haben

Die Ehefrauen von José Parada und Manuel Guerrero erinnern in Santiago an die 1985 Ermordeten („Caso Degollados“)
Foto: Robert Nickelsberg/Getty Images
dos“ – Menschen, die verschwanden und nie wieder auftauchten. Bei den meisten Opfern handelte es sich um Mitglieder linker Parteien, um Gewerkschafter, Studenten und Lehrer. Augusto Pinochet, der das maßgeblich zu verantworten hatte, starb 2006, ohne für seine Verbrechen angeklagt, geschweige denn verurteilt worden zu sein.Die Angehörigen der Opfer kämpfen seit Jahrzehnten für Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Ihnen ist es zu verdanken, dass mittlerweile ein paar Hundert Täter im Gefängnis sitzen, selbst wenn es sich nur um einen Bruchteil derer handelt, die Menschen zerbrochen und zerstört haben. Dies zu sühnen, ist unmöglich, solange in der Armee ein Pakt des Schweigens herrscht. Zu denen, die das nicht hinnehmen wollen, gehört Verónica Estay, 43 Jahre alt, im mexikanischen Exil geboren und dort aufgewachsen. „Wie so viele, die mein Schicksal teilen, hatte ich immer den Wunsch, nach Chile heimzukehren.“Den Namen eines Täters tragen2018 ist es so weit. Danach muss sie erkennen, wie sehr ihr Nachname wegen des Onkels ein Stigma sein kann. Sie erfährt Ablehnung durch Angehörige von Opfern der Diktatur, durch einstige politische Gefangene und Verfolgte. „Obwohl ich auch die Tochter von Überlebenden dieser Schreckenszeit bin, wiegt es schwerer, den Namen eines Täters zu tragen. Das zeigt, wie sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf das Zusammenleben auswirken.“ Sie will das besser erklären können und beginnt, intensiv nachzuforschen, was ihr Onkel getan hatte.Miguel Estay, auch „El Fanta“ genannt, war zum Zeitpunkt des Putschs Mitglied der Kommunistischen Partei – er wurde 1975 festgenommen und gefoltert. Ein Parteigenosse hatte ihn verraten. Unter dem Druck der Verhöre wechselte Estay die Seiten und fand sich bereit, der Geheimpolizei DINA zuzuarbeiten. Er verriet den eigenen Bruder, dazu Freunde und Genossen. 1985 führte dies zu einem besonders grausamen Verbrechen: dem Mord an drei Kommunisten, dem „Caso Degollados“, als man Manuel Guerrero, José Parada und Santiago Nattino mit aufgeschnittenen Kehlen in der Nähe des Flughafens von Santiago fand.Miguel Estay bereute nie1994 wurden 16 Personen für diesen Dreifachmord verurteilt, fünf von ihnen zu lebenslanger Haft. Doch kamen fast alle früher oder später wieder auf freien Fuß – bis auf Miguel Estay, der 2021 im Gefängnis an den Folgen einer Covid-19-Infektion starb. „Er hat seine Taten nie bereut“, erzählt Verónica Estay, die ihren Verwandten nicht persönlich kannte, sich dennoch seinen Verbrechen ausgesetzt fühlt. Dies habe sie handeln lassen. „Die Täter schweigen, darum müssen wir als Angehörige sprechen.“Als 2003 die Valech-Kommission ihren Bericht veröffentlicht, um Verbrechen der Diktatur zu dokumentieren, beschließt die damalige Regierung, die Namen der Opfer und Täter für 50 Jahre geheim zu halten. Angeblich, um die Privatsphäre der Opfer zu schützen, tatsächlich wohl aus Sorge um den inneren Frieden des Landes. „Das Geheimnis des Valech-Berichts schützt nicht die Opfer, sondern die Täter“, findet Estay.Das Amnestiegesetz aus Zeit der DiktaturSie ist Mitglied des Kollektivs „Historias Desobedientes“ (Aufsässige Geschichten), das 2017 zunächst in Argentinien entstand, als Angehörige von Militärs zusammenfinden, die während der dortigen Rechtsdiktatur (1976 – 1983) Menschenrechtsverbrechen begangen hatten. Der erste Chilene, der dem Kollektiv beitrat, war Pepe Rovano, dessen Vater Rodrigo Retamal an der Ermordung von sechs Mitgliedern der KP Chiles am 11. Oktober 1973 beteiligt war. Retamal hatte zusammen mit sechs Polizisten zunächst auf die Männer geschossen, ihnen dann die Kehle durchschnitten und sie anschließend mit einem Polizeiwagen überfahren. Zwar wurde Retamal 2017 für diese barbarische Tat zu zwölf Jahren Haft verurteilt, musste aber dank eines Amnestiegesetzes nicht ins Gefängnis, das noch während der Diktatur verabschiedet wurde und lange die angemessene Sühne für begangene Verbrechen verhinderte.„Der Fall meines Vaters steht für die Straflosigkeit in Chile“, sagt der 47-jährige Dokumentarfilmer Pepe Rovano. Sein Werk Bastardo. La herencia de un genocida (Bastard, das Erbe eines Völkermords) hatte in diesem Jahr Premiere. Erzählt wird die Geschichte einer Suche. Der Regisseur will seinen Vater finden. Er wuchs allein mit seiner Mutter auf, die von ihrem Freund verlassen wurde, als der von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Im Alter von 33 Jahren reift Rovanos Entschluss, den Verbleib dieses Mannes ausfindig zu machen. Er muss erfahren, dass Rodrigo Retamal angeklagt war, elementare Menschenrechte verletzt zu haben. „Meine erste Reaktion war: Ich will nicht der Sohn eines Kriminellen sein“, so Pepe. Aber dann entscheidet er sich, den Vater trotzdem kennenzulernen. „Ich wollte wissen, wer er ist, auch wenn ich vielleicht auf ein Monster treffen würde.“ Rovano begann, eine Beziehung aufzubauen. „Ich wollte ihn retten. Ich wollte, dass er erklärt, zu seinen Taten gezwungen worden zu sein – dass er sie bereut.“ Aber dazu kam es nie.Das Sakrileg der Distanz zu den TäternRodrigo Retamal leugnete seine Verbrechen bis zu seinem Tod im Jahr 2017. Monate zuvor hatte ihm Rovano mitgeteilt, er sei homosexuell, woraufhin sich der Vater von seinem Sohn distanzierte. Danach bleibt Pepe Rovano die Gewissheit nicht erspart, wegen seiner Homosexualität enterbt worden zu sein. „Damit wurde ich ein zweites Mal abgelehnt – erst nach meiner Geburt, dann wegen meiner sexuellen Orientierung.“ Damit schließe sich ein Kreis der Gewalt, den sein Vater um sich gezogen habe, meint Rovano. „Er hat sechs Menschen oder mehr während der Diktatur ermordet, er hat Frauen ausgenutzt, Kinder zurückgelassen und war homophob.“ Umso mehr solle sein Film Nachfahren von Diktaturverbrechern ermutigen, „den Pakt des Schweigens in den Familien zu brechen“. Häufig gilt dort Distanz zu den Tätern als Sakrileg, man wird in Gedanken eher zum Komplizen. Es fehlt nicht an Chilenen, die bis heute leugnen oder verharmlosen, was unter Pinochet passiert ist. „Wir – die Kinder der Bösen – müssen uns dem Kampf der Opfer anschließen und dafür einsetzen, dass nie wieder Derartiges geschieht“, ist im Gegensatz dazu die Maxime des Dokumentarfilmers Pepe Rovano.Das Kollektiv „Historias Desobedientes“ vereint in Chile mittlerweile zwanzig Personen aus Familien von Tätern. Die Gruppe weiß um Mitglieder in Uruguay, Paraguay, Brasilien, El Salvador und Spanien. Pepe Rovano hat sich außerdem in Berlin mit den Nachfahren von NS-Tätern getroffen und um deren Beistand gebeten. „Wir müssen uns überall auf der Welt dafür einsetzen, dass Menschenrechtsverletzungen verurteilt und bestraft werden“, findet er. „Die nachfolgenden Generationen erleben in Chile, welche psychischen und sozialen Schäden Diktaturen hinterlassen.“ Deshalb sei es wichtig, die Erinnerung an das Geschehene wachzuhalten.Verónica Estay hat ein Buch geschriebenAls Pepe Rovano Verónica Estay kennenlernte, lud er sie ein, sich dem Kollektiv „Historias Desobedientes“ anzuschließen. Die zögerte zunächst, weil sie „nur“ die Nichte eines Verbrechers sei und ihren Onkel nie erlebt habe. Außerdem überkam sie Angst, ihre Eltern zu verletzen. „In meinem Fall gibt es keinen Schweigepakt, um den Täter zu beschützen, sondern ein Schweigen als Folge des Schmerzes.“In diesem Jahr nun hat Estay ein Buch über ihre Erfahrungen mit einem familiären Erbe wie dem ihren veröffentlicht. Es trägt den Titel La resaca de la memoria (Der Kater der Erinnerung). Darin wird u.a. die Begegnung mit Manuel Guerrero beschrieben, dem Sohn eines der Mordopfer ihres Onkels. „Wir haben uns mehrere Sekunden lang in die Augen gesehen. Und in diesem Blick steckte alles: seine Geschichte, meine Geschichte, die Geschichte Chiles“, erinnert Estay das Treffen. Dies habe ihr Kraft und Zuversicht gegeben, um sich weiterhin mit Pepe Rovano und anderen dafür einzusetzen, eine Mauer des Verschweigens innerhalb der staatlichen Institutionen wie der Armee zum Einsturz zu bringen. Nur so würden Verbrechen, wie sie nach dem Putsch begangen wurden, vor dem Vergessen bewahrt. Die Last der Erinnerung kann grausam, aber auch befreiend sein.Placeholder authorbio-1