Chile-Filme 1973: Heynowski und Scheumann dokumentieren das Vorspiel zum Putsch
Zeitgeschichte In ihrem Dokumentarfilm „Der weiße Putsch“ wollen Walter Heynowski und Gerhard Scheumann kein Hohelied auf die Unidad Popular singen, sondern zeigen, wie gefährlich und skrupellos ihre Feinde sind
Im Jahr 2003 werden die Chile-Filme von H&S ausgezeichnet: Sie hätten das „demokratische Filmerbe der chilenischen Nation“ bewahrt
Fotos: Fotos: Studio H&S, Horst Donth, Peter Hellmich, DEFA-Stiftung
Zur Macht des Schicksals ausersehen ist der chilenische Wähler. Er soll bei der Parlamentswahl vom 4. März 1973 den Gegnern der Unidad Popular (UP) aus Sozialisten und Kommunisten eine Zwei-Drittel-Mehrheit verschaffen. Die Legislative könnte dann das Oberste Gericht beauftragen, so das Kalkül der Reaktion, Salvador Allende des Amtes zu entheben. Erstmals in der Geschichte Chiles würde man einen Präsidenten absetzen. Nur dann ließe sich – und zwar mit legalen Mitteln – verhindern, dass der Sozialist Allende noch bis 1976 regiert, wie ihm das die Verfassung garantiert. „Alles sollte so unschuldig aussehen wie ein weißes Papier, wie ein Wahlzettel“, heißt es im Prolog des Dokumentarfilms Der weiße Putsch, gedreht von W
edreht von Walter Heynowski und Gerhard Scheumann vor und nach jenem 4. März 1973 in Chile.Die beiden Regisseure – sie arbeiten mit Chefkameramann Peter Hellmich seit 1969 für ihr Studio H&S in Ostberlin – sind nicht irgendwer. Sie haben Maßstäbe gesetzt für ein linkes, internationalistisches Kino, das Koryphäen des Metiers wie dem Niederländer Joris Ivens, dem Kubaner Santiago Alvarez oder Chilenen Patricio Guzmàn auf Augenhöhe begegnet. Der Chile-Zyklus entsteht unmittelbar nach dem Putsch vom 11. September 1973. In zwei Jahren legen H&S fünf Filme vor. Neben Der weiße Putsch sind das Mitbürger, die beklemmend unterschnittene letzte Radioansprache Allendes aus seinem brennenden Amtssitz, Psalm 18 über einen Dankgottesdienst für die Junta, schließlich Geldsorgen und Krieg der Mumien.Die Chile-Streifen von H&S folgen denen zu Vietnam, zum Krieg der USA in Indochina von 1965 bis 1973. Dabei gelingt den beiden Dokumentaristen ein spektakulärer Coup. Sie interviewen US-Kampfflieger, die über Nordvietnam abgeschossen worden sind und nun als Kriegsgefangene im „Hanoi-Hilton“ festsitzen, wie sie ihre Baracken getauft haben. Die Piloten im Pyjama, so der Filmtitel, beklagen, in Nordvietnam interniert zu sein – die freie Welt auf Bambusmatten und aus der Reisschale ernährt. Keiner bringt es fertig, das Bekenntnis des US-Generals Curtis Le May, man solle „Vietnam in die Steinzeit zurückbomben“, als verbrecherischen Auftrag zu verurteilen. Berühmt geworden sind H&S mit ihrem Kongo-Film Der lachende Mann. Ein westdeutscher Legionär rühmt sich vor der Kamera in Khaki-Uniform und Fallschirmjäger-Stiefeln seiner Abschüsse bei „Rebellen und Zivilisten“, die man leider schlecht auseinanderhalten könne. Unschwer zu entschlüsseln ist das Markenzeichen von H&S, den Dokumentarfilm als politische Waffe zu betrachten und den ideologischen Gegner zu entlarven, der das wie „Kongo-Müller“ am besten selbst besorgt.Bürgerkrieg im Zeichen des AntikommunismusBei Chile gilt das allemal. Dort sehen Unternehmer, Teile der Generalität, Rechtsparteien wie die Christdemokratische und Nationalpartei die Wahl Anfang März 1973 als letzte Chance, um Allende loszuwerden, ohne ihn gewaltsam zu stürzen. Die Rechtsparteien sind in der CODE, der Confederación de la Democracia, und dem Mantra vereint: „Chile steht vor der wichtigsten Parlamentswahl des Jahrhunderts.“ Es tobt ein Bürgerkrieg im Zeichen des Antikommunismus, aber vorerst ohne Waffen. In Der weiße Putsch lassen H&S einige der Kombattanten dieser Front auftreten. Über dem filmischen Exkurs liegt die Frage, inwieweit die Demokratie einen demokratisch legitimierten Staatschef zu schützen vermag, der Marxist ist.Walter Heynowski erinnerte sich später in einem Interview: „Wir wollten diese Wahlen reflektieren, aber nicht so blöde sein, wie man das teils auf unserer Seite war, und sagen, die Unidad Popular ist da und jetzt besingen wir sie, indem wir einen schönen Film machen. Wenn wir das Lied singen, Allende gibt jedem Kind jeden Tag einen halben Liter Milch, müssen wir doch fragen: Gibt es nicht Leute, die den halben Liter Milch umwerfen wollen? Wir gerieten damit in einen scharfen Dissens mit chilenischen Kommunisten, die sich darauf beriefen, dass Chiles Heer noch nie einen Präsidenten gestürzt habe. Es gab einfach eine große Demokratiegläubigkeit.“Zu denen mit der Hand am Milchglas zählt die Nationale Jugend mit ihrem Anführer Juan Luis Ossa. H&S filmen den Aufmarsch eines ihrer Rollkommandos. Skandiert wird: „Auge um Auge / Zahn um Zahn / Gehe auch du Kamerad dem neuen Tag entgegen / An jedem Ort des Landes sind alle Landsleute / Landsmann ist der Arbeiter, Landsmann ist der Chef!“ Dem Beschwören der Volksgemeinschaft schließen sich Sprechchöre des Kalibers an: „Das Einzige, was bleibt, ist Scheiße in der Moneda / Allende, du Säufer, in Kuba sitzt dein Galan.“ Filmkommentar: „Die CIA ließ sich den Wahlkampf von 1973 1,5 Millionen Dollar kosten. Einen davon pro Tag, nämlich 500 Escudos zum Schwarzmarktkurs, erhielt jeder dieser Schreier gegen die Unidad Popular.“ Den Allende-Hassern zuordnen lässt sich Sergio Diez, Chef des Verbandes der Fuhrunternehmer, die in Chile über gut 73.000 Lastwagen verfügen, von denen vier Fünftel aller Güter bewegt werden. Liegt diese Flotte still, und das geschieht Ende 1972/73 wochenlang, ist der ökonomische Notstand unvermeidlich. Wahlhilfe für die Opposition? Sergio Diez: „Ja, ohne Übertreibung, da bin ich mir sicher.“Aufstand der WohlsituiertenEin erprobtes Verfahren gegen linke Regierungen, erst ein Dilemma künstlich erschaffen und es dann politisch ausbeuten. Der Allianz CODA hilft das Phänomen COLA, zu Deutsch: Schlange. Das Anstehen nach Öl, Zucker, Brot, Mehl und Reis wird in Chile zur täglichen Plage. Wie CODA und COLA zueinanderfinden, zeigt eine Rede von Onofre Jarpa, dem Chef der Nationalpartei, den H&S zu Wort kommen lassen: „Wozu wollen wir eine neue Regierung? Damit es wieder Sicherheit gibt für die chilenischen Familien. Damit sich die Frauen ihrem Heim widmen können und nicht ganze Tage verlieren, wenn sie Schlange stehen und sich aufopfern.“Die Streiks der Fuhrunternehmer sorgen für verdorbene Lebensmittel in Größenordnungen, ein weiter verknapptes, weiter verteuertes Angebot, längere Schlangen. In dieser Lage wollen auch die reichen Viertel Santiagos nicht abseitsstehen. Wohlsituierte Eleganz marschiert, um auf leeren Kochtöpfen herumzutrommeln und herauszuschreien, was ihr unter Allende angetan wird. Erkennungszeichen: kleine Töpfe als kecker Anstecker in Gold. Dem gehobenen Mob antwortet die Demokratie von unten, als sich „Komitees ehrenamtlicher Inspektoren“ bilden, die versteckte Lebensmittel aufspüren und sich gegen Schwarzmarktgeschäfte stemmen.Die „Komitees“ sind nicht parlamentarisch gesalbt, aber Ausdruck von Volksmacht, vor allem nicht käuflich. „Señoras, am 4. März stehen Sie zum letzten Mal in einer demütigenden Schlange, um ein wenig Zucker und Öl zu ergattern“, tönt die Stimme aus dem Äther. „Damit diese Regierung verschwindet, wählen Sie die Parteien von CODA.“ Chiles Privatsender nehmen kein Blatt vor den Mund, schließlich haben sie eines vor Augen, das Allende unentwegt zum nationalen Unglück erklärt: die Zeitung El Mercurio, zu Deutsch Merkur, der Götterbote, Auflage 500.000. Eigentümer Agustín Edwards, der in den USA lebt, lässt vor der Abstimmung seitengroße Inserate mit den Spitzenleuten von CODA nach der Devise schalten: Keine Stimme darf uns verloren gehen.„Der Putsch mit dem Wahlzettel ist missglückt“Allerdings müssen am 4. März 1973 viele Stimmen verloren gegangen sein, denn das Ergebnis verblüfft. Kam Allende beim Präsidentenvotum 1970 auf 36,3 Prozent, sind es nun für die UP-Parteien 43,4. Wollte die Rechte einem Impeachment nähertreten, hätte die Linke unter dem Wert 33,3 liegen müssen. „Aber nun hat Allende nicht etwa Anhänger verloren, sondern dazugewonnen. Wie würde das 1976 aussehen, fragen sich die Feinde der Volksfront“, heißt es im Film. „Der Putsch mit dem Wahlzettel ist missglückt.“Am 4. September 1973 feiern in Santiago Hunderttausende den dritten Jahrestag der Wahl Allendes. Sieben Tage später, am 11. September, sind Heynowski und Scheumann noch in der Stadt. Kameramann Peter Hellmich dreht von seinem Hotel aus, wie die Moneda aus der Luft angegriffen und Allendes Leichnam aus dem Gebäude getragen wird. Der szenische Epilog für Der weiße Putsch,in Worte gefasst: „Ein Bündnis der Linkskräfte, entstanden im Rahmen der bürgerlichen Legalität, war gefährlich genug für die Rechten, die ganze bürgerliche Legalität über Bord zu werfen.“Im Jahr 2003 werden die Chile-Filme von H&S durch den damaligen chilenischen Präsidenten Ricardo Lagos ausgezeichnet. Mit ihnen sei das „demokratische Filmerbe der chilenischen Nation“ bewahrt worden. In Deutschland sehen sich die beiden Regisseure nach 1990 als „Propagandisten des SED-Regimes“ geschmäht. Ihre Werke stehen auf dem Index der Biedermänner.