Für ein Europa ohne Barrieren

Gastbeitrag Kein Zugang zu Supermärkten oder fehlende Toiletten: In der Privatwirtschaft stoßen Menschen mit Behinderung oftmals auf Hindernisse. Dabei könnte man etwas dagegen tun
Passt doch eigentlich ganz gut zur EU-Symbolik. Doch gerade in der Privatwirtschaft könnte die Union noch einiges für mehr Barrierefreiheit tun (Symbolbild)
Passt doch eigentlich ganz gut zur EU-Symbolik. Doch gerade in der Privatwirtschaft könnte die Union noch einiges für mehr Barrierefreiheit tun (Symbolbild)

Foto: Imago/Andreas Haas

Eine Europäische Union der Würde und Gerechtigkeit ist nicht ohne Barrierefreiheit denkbar. Alle EU-Bürgerinnen sollen die Chance haben, möglichst einfach und ohne Hindernisse am sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben teilzunehmen, sich auszutauschen und ihr Potenzial zu entfalten. Für rund ein Fünftel der Menschen in der EU ist dies nur unter erschwerten Bedingungen möglich, sie nämlich leben mit einer oder mehreren Behinderungen. Und die Zahl wächst. Mit der demografischen Entwicklung sind insbesondere immer mehr ältere Mitglieder der Gesellschaft auf Unterstützung und Barrierefreiheit angewiesen.

Die EU hat die Entwicklung im Blick und schon einige konkrete Verbesserungen erreicht. Ausgehend von der Grundrechtecharta und der UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities (UNCRPD) hat die Union bisher ein ganzes Bündel an Maßnahmen entwickelt, um das Leben mit einer Behinderung zu erleichtern. Dazu gehören unter anderem der barrierefreie Zugang zu den Services von Behörden (on- wie offline), die Entwicklung gemeinsamer Standards für Ausweisdokumente, die Schaffung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung im beruflichen Umfeld oder auch die Verbesserung des Reisens mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Mit dem 2019 verabschiedeten Rechtsakt zur Barrierefreiheit sollen darüber hinaus auch gemeinsame Standards für die einfache Zugänglichkeit und Bedienung von elektronischen Geräten, wie Smartphones, Computern oder Geldautomaten und E-Commerce-Plattformen, gelten. All das sind wichtige Schritte auf dem Weg zu einer inklusiven EU. Doch die Bemühungen gehen noch nicht weit genug.

In der Privatwirtschaft stößt die Barrierefreiheit an Grenzen

Gerade in der Privatwirtschaft stoßen Menschen mit Behinderung vielfach auf Hindernisse und werden von der Teilhabe ausgeschlossen. Hier gibt es noch keine EU-weiten verbindlichen Vorgaben zur Herstellung von Barrierefreiheit.Das Spektrum reicht von fehlenden Zugangsmöglichkeiten zu Supermärkten und Geschäften über nicht vorhandene behindertengerechte Toiletten bis hin zu unleserlichen Webauftritten. Ein EU-Mitgliedsstaat macht vor, wie es anders gehen kann: Österreich. Nach einer zehnjährigen Übergangsfrist trat dort am 1. Januar 2016 umfassend das österreichische Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG) in Kraft. Es verpflichtet auch private Unternehmen, die der Öffentlichkeit Waren oder Dienstleistungen anbieten, dazu, Barrierefreiheit herzustellen und dafür angemessene Maßnahmen zu treffen.

Der Mechanismus ist klug gewählt. Statt Tausender einzelner Vorgaben für jedes Geschäftsfeld definiert das Gesetz unmissverständlich, dass Menschen mit Behinderung das gleiche Recht auf öffentliche Angebote (auch die von Unternehmen) haben und ihnen ein diskriminierungsfreier Zugang möglich sein muss. Ist dies nicht gewährleistet, können sich Betroffene unkompliziert bei einer Servicestelle des Österreichischen Sozialministeriums melden. Dort wurde eine Schlichtungsstelle eingerichtet, es stehen Anwältinnen für Gleichbehandlungsfragen zur Verfügung, kostenfreie Mediationen werden angeboten und es wurde ein Monitoringausschuss geschaffen, der die Wahrung der Rechte für Menschen mit Behinderung gewährleistet. „Der österreichische Ansatz hat Vorbildcharakter für die gesamte EU“, sagt uns der Gerechtigkeitsaktivist Raul Krauthausen im Gespräch und erläutert weiter: „Es geht nicht darum, eine Rampe mehr oder weniger zu errichten, es geht darum, allen Menschen die gleichen Möglichkeiten und Zugänge zu geben und die Barrieren, die uns trennen, niederzureißen.“

Der Weg zu einer inklusiven EU

Wir schlagen vor, in der gesamten EU – in Anlehnung an das österreichische Gesetz – einen Rechtsrahmen zu schaffen, der auch die Akteurinnen der Privatwirtschaft verpflichtet, ihre öffentlich zugänglichen Produkte, Dienstleistungen und Angebote barrierefrei zu gestalten, und Diskriminierung effektiv abbaut. Hierfür soll den Unternehmen und Organisationen in der EU eine fünf- bis zehnjährige Übergangsfrist gewährleistet werden, um sich auf die veränderten Bedingungen einzustellen. National wie regional müssen Anlaufstellen entstehen, in denen Unterstützung, Mediation und Rechtsbeistand leicht zugänglich sind. Angedockt an die EU-Kommission und besetzt mit Repräsentantinnen aus Europäischen Parlament, Kommission, Senat/Rat sowie Vertreterinnen von Behinderten- und Wohlfahrtsverbänden, soll ein Monitorgremium eingerichtet werden, welches die EU-weiten Fortschritte überwacht und dokumentiert. Diese neuen Vorgaben können den Weg hin zu einem inklusiveren Europa ebnen. Sie senden ein kraftvolles Signal an alle EU-Bürgerinnen: Das ist ein Kontinent, der allen Menschen, egal ob mit oder ohne Einschränkungen, ein Leben in Würde, in Gerechtigkeit, mit den gleichen Chancen und Möglichkeiten eröffnet. Nichts anderes darf die EU wollen, wenn sie ihre Werte und ihren Anspruch einlösen will.

Der Beitrag ist ein Auszug aus ihrem Buch „Europe For Future – 95 Thesen, die Europa retten“ (Droemer)

Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer sind Autoren, Feministen und Berater aus Berlin. Gemeinsam machen sie sich als Team HERR & SPEER für eine geschlechtergerechte Gesellschaft und das vereinte Europa stark. Für ihr Engagement wurden sie u.a. mit dem Jean-Monnet-Preis für europäische Integration ausgezeichnet

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