Geburt: Die Verlegung in den Kreißsaal ist keine Schande
Schmerz Vor allem Akademikerinnen wünschen sich, nicht in der Klinik und ohne PDA, Kaiserschnitt oder Saugglocke zu gebähren. Dahinter steckt oft eine patriarchale Erwartungshaltung an werdende Mütter
Es ist da! Gesellschaftliches Ansehen erhalten (noch) die Frauen, die ohne medizinische Eingriffe entbunden haben
Foto: Vanessa Mendez
Die Vorstellung, dass Frauen durch ausreichende Vorbereitung selbstbestimmt gebären können, ist ein Trugschluss. Sowohl in der klinischen als auch außerklinischen Geburtshilfe sind nach wie vor patriarchale Strukturen präsent. Ratgeber sind voll von Tipps, wie Frauen ohne große Schmerzen gebären können, oder auch, wie sie es schaffen, den Schmerz akzeptieren zu lernen.
Die allgemeine Botschaft lautet: Wenn du dich ausreichend genug auf die Geburt vorbereitest, wird sie auch ein tolles, kraftvolles Erlebnis sein. Dein Körper ist für die „natürliche“ Geburt konzipiert und braucht im Normalfall kein medizinisches Intervenieren, also keine PDA und auch keinen Kaiserschnitt, der mittlerweile Kaisergeburt geannt wird. Die drei Buchstab
i Buchstaben PDA stehen für „Periduralanästhesie“. Die Spritze mit dem Anästhesiemittel wird in den unteren Rücken und somit ins Rückenmark verabreicht und schaltet zeitweilig das Schmerzempfinden der Frau unter der Geburt aus.Das sagt eine HebammeDie Überzeugung, dass Geburt frei von Schmerzmitteln sein sollte, ist vor allem unter gut situierten Akademikerinnen weitverbreitet, die oft eine außerklinische Geburt anstreben. Diese Einstellung ist jedoch gefährlich, da Frauen sich schuldig fühlen, wenn letztendlich doch medizinisch eingegriffen werden muss.Die freiberuflich arbeitende Hebamme Marie Neuhäuser betreut Frauen, die im Kölner Geburtshaus oder zu Hause gebären möchten. All das sind Frauen, die zunächst einmal den Wunsch haben, ihr Kind ohne PDA, Saugglocke oder Kaisergeburt zur Welt zu bringen. Wenn es dann doch zu einer Verlegung in den Kreißsaal eines Krankenhauses kommt, so Neuhäuser, hadern viele von ihnen im Wochenbett mit sich selbst: War ich zu schwach? Bin ich zu schmerzempfindlich?Der Körper wird erst sexualisiert, dann funktionalisiertWas den meisten Frauen nicht bewusst ist, ist, dass bei einer Geburt nicht nur die Mutter den Geburtsverlauf beeinflusst, sondern viele weitere Faktoren, nicht zuletzt das Kind. Doch seit Jahrhunderten ist gesellschaftlich tief verankert, dass Frauen in ihrem Leben eine große Aufgabe haben: Kinder kriegen und großziehen. Die Geburt markiert den Übergang zur Mutterschaft und ist somit die erste große Herausforderung für die frischgebackene Mutter.Marie Neuhäuser sieht das Problem in den patriarchalen Strukturen. Der Körper einer Frau würde bis zur Schwangerschaft sexualisiert, danach funktionalisiert. „Von der Gebärmutter wird nun erwartet, dass sie ein Kind austrägt, von den Brüsten, dass sie es ernähren. Kein Wunder also, dass Frauen sich schlecht fühlen, wenn es nicht einfach so klappt.“ Hinzu komme eine Art Konkurrenzkampf unter Frauen, wenn es um Geburten geht. „Was verständlich ist. Denn solange sich Frauen selbst bewerten, bewerten sie auch andere Schwangere und Gebärende“, sagt Neuhäuser.Hat eine Frau ohne medizinische Hilfe entbunden, erhält sie gesellschaftliches Ansehen dafür. Selbstbestimmt muss diese Geburt trotzdem nicht gewesen sein, sagt die Soziologin Isabelle Azoulay. In ihrem Buch Die Gewalt des Gebärens aus dem Jahr 1998 kritisiert sie, dass Frauen vermittelt würde, dass eine PDA erst zum Einsatz kommen sollte, wenn der Schmerz unerträglich ist und sich die Geburt hinzieht.Eine Geburt ist der extremste menschliche AusnahmezustandDie Kaisergeburt hingegen sollte erst bei medizinischer Notwendigkeit durchgeführt werden, was dazu führe, dass viele Frauen denken, sie müssten es ohne Hilfe schaffen. Und so stelle das Gebären am Ende des 20. Jahrhunderts – wie sonst nur noch der Tod – die letzte schier unzügelbare Instanz des Menschlichen dar: „Es scheint, als wolle das Mittelalter den weiblichen Körper in diesem Ritual um keinen Preis loslassen.“ Azoulay fordert, Frauen nicht länger zu erzählen, dass die Geburt ein glückliches Ereignis sei. Vielmehr sollte darauf hingewiesen werden, dass es sich dabei um „den extremsten Ausnahmezustand handelt, dem ein Mensch ausgesetzt sein kann“. Statt also immer wieder darauf hinzuweisen, dass die „normale“ Geburt das Beste für Mutter und Kind sei, sollte es akzeptiert sein, wenn Frauen sich bewusst für eine PDA oder eine Kaisergeburt entschieden. In vielen Köpfen werden Geburt und Schmerz nach wie vor miteinander in Verbindung gebracht. Das hat auch kulturhistorische Gründe. Schon in der Bibel heißt es: „Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Schmerzen schaffen, wenn du schwanger wirst; du sollst mit Schmerzen gebären; und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, und er soll dein Herr sein.“Laut Azoulay wurden Frauen, die im Wochenbett starben, in vielen Kulturen wie Kriegerinnen verehrt. Auch die „arische“ Kultur habe ihren Teil dazu beigetragen. Azoulay berichtet in ihrem Buch von einer Frau, die ihr stolz erzählt habe, dass sie während des Zweiten Weltkrieges bei Entbindungen „schreiende Frauen empört zurechtwies und sie daran erinnerte, was ihre Männer an der Front an Tapferkeit aufzubringen hätten. Da sei es doch geboten, sich zusammenzureißen“.Heutzutage sind PDA und Kaisergeburten alltäglich. Im Jahr 2020 kam ein Drittel aller Kinder per Kaisergeburt auf die Welt. Laut dem Statistischem Bundesamt hat sich die Anzahl in den vergangenen 30 Jahren fast verdoppelt. Die Rate der PDA-Anwendung liegt bei etwa 35 bis 40 Prozent. Allerdings haben Frauen oft nicht selbstständig über diese Maßnahmen entschieden. Die schlechten Arbeitsbedingungen und der Ressourcenmangel in einer Vielzahl von Krankenhäusern können dazu führen, dass Frauen zu solchen Schritten gedrängt werden. „Erst ein guter Betreuungsschlüssel ermöglicht, dass Gebärende selbstbestimmt sein können“, sagt Hebamme Marie Neuhäuser. Laut dem Verein Motherhood, der sich für sichere Geburten und eine bessere Geburtshilfe einsetzt, haben 20 bis 45 Prozent der Gebärenden Gewalt während der Geburt erlebt. Dazu zählen etwa verbale Beleidigungen, aufgezwungene oder ohne ausdrückliche Einwilligung vorgenommene medizinische Eingriffe, aber auch die Verweigerung der Schmerzbehandlung.Wer hat überhaupt Zugang zu einem kostenlosen Geburtsvorbereitungskurs?Die Politikwissenschaftlerin und Genderforscherin Tina Jung beschäftigt sich unter anderem mit dem Thema Gewalt in der Geburt. Sie kritisiert, dass Selbstbestimmtheit individualisiert wird. „Häufig ist sie aber nicht in der Weise vorhanden, wie es vermittelt wird“, so Jung. Es beginne bereits bei der Frage, wer sich die Kosten für die Rufbereitschaft einer Hebamme für die außerklinische Geburt leisten könne, die bis zu 500 Euro kosten kann. Zudem habe nicht jeder Zugang zu Geburtsvorbereitungskursen, in denen Frauen über Geburtsvarianten informiert werden. Die Krankenkassen übernehmen zwar die Gebühren für Schwangere, meist jedoch nicht die für Partner:innen. „Studien zeigen, dass diese Frauen dann häufig selbst auch nicht hingehen, da sie sich unwohl fühlen, wenn sie als Einzige ohne Begleitung sind“, sagt Jung. Dazu gebe es noch zu wenig Kurse für queere Menschen oder Menschen, die nicht fließend Deutsch sprechen.Um die Geburt aus feministischer Perspektive zu betrachten, ist es laut Jung wichtig, sich bewusst zu machen, dass Gebären mit Macht und Ungleichheit verbunden ist und dass dort Rassismus, Klassismus und Sexismus verankert sind. In patriarchal geprägten Gesellschaften gebe es eine strikte Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem. Schwangerschaft und Geburt werden demnach zum privaten Bereich gezählt. Das habe dazu geführt, dass es lange keine Debatte darüber gegeben hat, welche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssten, damit sich Gebärende wohlfühlen; ganz ohne Wertung. Stattdessen seien die Vorgänge rund um die Geburt noch nicht ausreichend erforscht. So greife die PDA immer noch in den Geburtsverlauf ein, weshalb viele Frauen auf die Schmerzlinderung verzichten. Für Genderforscherin Jung ist das nicht nachvollziehbar: „Die Frage ist, warum hier nicht mehr geforscht wird, damit es bessere Ansätze für Schmerzmanagement gibt.“Die Antwort tut weh: Der Schmerz der Frauen spielt einfach keine bedeutende Rolle.
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