Neulich tat ich das Unverzeihliche: Ich mischte mich in die Erziehung anderer ein. Es ist hierzulande ja so: Man kann sich zwar über die Erziehung oder Nicht-Erziehung der anderen beklagen, etwa durch passiv-aggressive Kommentare, Augenrollen oder Stöhnen. Aber man darf sich nicht offen einmischen. Kinder sind sowas wie Privateigentum, und solange Eltern nicht das Allerschlimmste tun, obliegt die Erziehung ihnen allein.
Trotzdem mischte ich mich ein. Ich fuhr von Leipzig nach Dresden, neben mir saß eine Familie mit einer Fünfjährigen. Gleich zu Beginn der Fahrt hatte die Mutter der Tochter eingeschärft, sich die AirPods in ihre Öhrchen zu stopfen und dem Programm auf dem Handy zu folgen. Ich knirschte innerlich mit den Zähnen. Das Mädchen beging
en beging dann mehrmals den offenbar unverzeihlichen Fehler, die Eltern anzusprechen, worauf diese mit konstantem Seufzen und Meckern reagierten. Dann rutsche einer der Kopfhörer in die Verkleidung zwischen Fenster und Sitz. Mutter und Vater schimpften. Mein Geduldsfaden riss.Als Mutter und Tochter kurze Zeit später auf der Toilette verschwanden, sprach ich also den Vater an, eher sanft als konfrontativ: Ob es nicht möglich wäre, etwas liebevoller und aufgeschlossener mit dem kleinen Mädchen zu kommunizieren? Ich hatte mir solche Mühe gegeben, wirklich nett zu sein, dass er entwaffnet nickte, sogar freundlich ja sagte. Ich sagte dem Mann, dass ich verstünde, wenn man gestresst oder müde sei. Zugleich hatte ich nicht das Gefühl, dass dieses Kommunikationsverhalten, das dem Kind mit jedem Wort und jeder Geste signalisiert, dass es stört, nur schlechte Tagesform war.Eine Umarmung – und es klicktIch weiß nicht, ob eine Intervention elterliches Verhalten verändert, doch halte ich es mit bell hooks und Erich Fromm: Die Formung einer gewaltlosen Gesellschaft beginnt mit der Erziehung. Die wird in Deutschland oft mit Dressur verwechselt; ich erlebe Eltern, die ihr Kind anblaffen, sie sollen gefälligst höflich sein! Dabei ist Erziehung doch Vorbild und Vertrauen.Ich glaube nicht, dass Gewalt mit körperlichen Handlungen beginnt. Wer würde nicht depressiv, wenn einem eine geliebte Person (noch dazu eine, von der man abhängig ist) jeden Tag signalisierte, wie wenig man erwünscht ist? Ich sah das kleine Mädchen im Zug und empfand jede Geste der Eltern als Kindeswohlgefährdung.Vielleicht geht es noch besser, vielleicht muss man ein Vorbild sein. Es ist etwa zwei Jahre her, da beobachtete ich eine junge Frau samt Tochter im Zug. Das kleine Mädchen hatte bereits eine Viertelstunde lang gequengelt und geweint, die Mutter aber ignorierte sie und starrte aufs Handy. Da stand eine ältere Frau auf, ging schnurstracks auf die beiden zu und hockte sich neben das Mädchen. Sanft legte sie einen Arm um das Kind und sprach es an.Da kam plötzlich eine Verwandlung über die Mutter. Sie war wieder im Hier und Jetzt, sah die fremde Frau, die ganz herzlich und warm anmutete und sie sah ihre Tochter. Da machte es klick, und alle drei begannen – obwohl sie nicht einmal dieselbe Sprache sprachen – eine freundliche, ja liebevolle Interaktion. Es war ein Moment, der Augen öffnete. Vielleicht zeigt er, wie Veränderung beginnt: mit offener, freundlicher Kommunikation – selbst ohne Worte.Placeholder authorbio-1