ADHS? Asperger? Irgendwas muss doch sein: Die überdiagnostizierten Kinder

Entwicklungsstörung Manche Kinder sind lebhaft, andere ruhig. Da muss man keine Wissenschaft draus machen, zumal als Laie
Ausgabe 35/2022
Fachpersonal, das sehr viel Zeit darin investiert, Kinder zu evaluieren, verängstigt Eltern mit Verdachtsfällen und einem „Gefühl“, dem es dann nachzugehen gilt
Fachpersonal, das sehr viel Zeit darin investiert, Kinder zu evaluieren, verängstigt Eltern mit Verdachtsfällen und einem „Gefühl“, dem es dann nachzugehen gilt

Foto: Cavan Images/IMAGO

Neulich führte ich ein Entwicklungsgespräch mit der Erzieherin meines Kleinkindes. Es gebe da Grund zur Besorgnis, sagte sie, sich sichtlich windend, denn sie wolle uns Eltern ja nicht zu nahetreten. Aber das Kind spiele nun einmal viel zu ruhig und am liebsten allein. Nun könnte man meinen, dass angesichts von dreißig quäkenden Kleinkindern unter drei jedes Kind, das seine Kita-Zeit nicht damit zubringt, Klein-Arthur einen Stock über den Kopf zu ziehen oder die Fensterscheiben mit Knete zu verschönern, nachgerade der Wunschtraum jeder Erzieherin sei. Aber weit gefehlt.

Natürlich soll das Kind nicht hyperaktiv sein, denn so ein Kind stört die anderen und den lieben Frieden. Aber zuuu ruhig ist auch nicht gut. Ich erklärte unserer Erzieherin, dass wir Eltern ja auch sehr ruhig seien, ich bin schließlich Autorin, brüte täglich stundenlang still über Texten, während der Mann technische Details in architektonischen Plänen überprüft. Wir sind, mit anderen Worten, sehr introvertierte Personen, die sich gerne in Details verlieren. Das Kind mag eben Lego und Autos und Bücher. Außerdem befindet sich mein großer Sohn im Autismusspektrum, die verschlossene, emotional-zurückgezogene Art sei eben auch genetisch bedingt.

Das war natürlich ein Fehler. Störungen jeglicher Art laden dazu ein, immer neue Evaluationsbögen mit immer neuen Beobachtungen zu füllen. Einige Tage später erklärte unsere Erzieherin auch prompt, sie habe sich einmal mit einigen Kollegen besprochen, vielleicht sei der Kleine ja auch ein Autist? Das könne man doch mal diagnostizieren? Sie habe allerdings auch gar keine Erfahrung damit. Ich explodierte kurz. Ich hatte genug Erfahrung damit, um zu wissen, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gab. Außerdem ärgere ich mich seit Jahren über den leichtfertigen Umgang mit „Diagnosen“ aller Formen von Störungen im Kindesalter, vor allem da, wo sie im Kontext schulischer Probleme erhoben werden.

Vielleicht haben wir es hier mit dem großen Problem des Erziehungs- und Bildungssystems in Deutschland zu tun: Fachpersonal, das sehr viel Zeit darin investiert, Kinder zu evaluieren, verängstigt Eltern mit Verdachtsfällen und einem „Gefühl“, dem es dann nachzugehen gilt. So füllen sich die Sozialpädiatrien und Kinderpsychiatrien mit Verdachtsfällen, die gründlich ausdiagnostiziert werden wollen. Die gefühlten AD(H)S- oder Asperger-Kinder-Kandidaten, denen bisweilen womöglich nur ein ruhiger Ort in Kita und Schule zum Ausruhen und Runterkommen fehlt, werden so in ein System verwiesen, das bisweilen auch gerne Medikamente aushändigt, um Verdachtsfälle zu überprüfen. Der Kinderpsychiater, der meinen älteren Sohn diagnostizierte, konnte sich nicht entscheiden, ob der eher ADS oder Aspergers habe, aber das könne man anhand der Reaktion auf Medikamente klären.

Weil ich mich weigerte, meinem Sohn „probehalber“ ein Medikament mit erheblichen Nebenwirkungen zu verabreichen, musste ich mir die Frage anhören, ob ich denn nicht das Beste für mein Kind wolle. Was für ein Tiefschlag. Ich denke, wir alle wünschen uns, dass Kinder mit kognitiven oder sozialen Defiziten Hilfe erhalten und durch Therapien in die Lage versetzt werden, ein gutes Leben zu führen. Wenn solche Therapien und Maßnahmen allerdings einen ungeheuer engen Rahmen von „Normalität“ abstecken und Menschen, die keinen Leidensdruck haben, in Hilfesysteme pressen, erreicht man nur das Gegenteil: Man suggeriert Menschen, dass sie nicht okay sind, weil sie die Norm nicht erfüllen. Und kreiert so den Leidensdruck, den die Therapie doch beheben soll.

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

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