Großes Wasser von A bis Z: Geheimnisse der Hot Pockets und Nachtigaller Untiefe

Lexikon 71 Prozent der Erdoberfläche sind von Meeren bedeckt, trotzdem oder genau deshalb wissen wir nur wenig über Strömungen und Stürme, Pflanzen und Tiere, Untiefen und ozeanische Abgründe. Unser Wochenlexikon
Ausgabe 38/2023
Aus dem Meer kommt alles Leben
Aus dem Meer kommt alles Leben

Foto: Sergio Pitamitz/VWPics/Redux/laif

A wie AMOC

Wir sind vom AMOC-Lauf abhängig, nicht zu verwechseln mit Amok (das ist Malaiisch und bedeutet „Wut“). AMOC ist das Akronym der Atlantischen Umwälzströmung, sie transportiert warmes Wasser aus den Tropen an der Meeresoberfläche nach Norden und kaltes Wasser am Meeresboden nach Süden. Das tut sie sehr langsam: Ein Wassertropfen braucht für die Reise rund 1.000 Jahre. Nun gibt es Anzeichen, dass die Strömung noch langsamer wird – bräche sie zusammen, würde der Meeresspiegel an der Ostküste der USA steigen, Nordwesteuropa würde kälter, Stürme würden verstärkt und die tropischen Niederschläge würden sich nach Süden verschieben. Forschende sind sich uneins, ob und wann das passiert: Ein dänisches Duo errechnete Mitte dieses Jahrhunderts, der Weltklimarat hält einen Kollaps noch in diesem Jahrhundert für „sehr unwahrscheinlich, aber physikalisch plausibel“. „Dies ist kein Alarmismus, sondern alarmierend“, sagt deswegen der Klimaforscher Stefan Rahmstorf. Svenja Beller

Zu diesem Projekt

Die Serie „Blue New Deal“ ist ein Projekt von drei freien ReporterInnen – Svenja Beller, Julia Lauter und Martin Theis – und einem Fotografen, Fabian Weiss. Im Freitag werden sie in den nächsten zwölf Monaten nach Lösungen suchen, die sowohl die Ozeane schützen als auch deren Potenzial nutzen, die Erderwärmung zu stoppen. Alle Artikel zur Serie finden Sie unter freitag.de/blue-new-deal

Das Projekt wird vom European Journalism Center (EJC) über den Solutions Journalism Accelerator finanziert. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt. Weitere Informationen zur Finanzierung finden Sie hier. Alle Reisen werden kompensiert.

F wie Fram-Expedition

Im Jahr 1893 stach der norwegische Ozeanograf Fridtjof Nansen mit dem Segelschiff Fram in See. Das Ziel war der bis dato unerreichte Nordpol. Die Fram war eigens mit einem runden Bug ausgestattet, sodass die Eisschollen im arktischen Gewässer das Schiff anhoben und eingefroren in Richtung Nordpol trugen – statt es zu zerquetschen wie viele Schiffe zuvor. Aufgrund der langsamen Driftgeschwindigkeit konnte die Crew den Nordpol nicht erreichen. Auch ein Versuch Nansens, mit Hundeschlitten dorthin zu gelangen, scheiterte. Doch stellten die Entdecker einen Nordrekord auf – und setzten trotz dreijähriger Monotonie und zunehmendem Wahnsinn an Bord wissenschaftliche Maßstäbe. 2019 brach der deutsche Forschungseisbrecher Polarstern zur größten Arktisexpedition aller Zeiten auf – und nutzte die Eisdrift nach Nansens Vorbild. Martin Theis

G wie Goldenes Etwas

Wenn man sagt, die Tiefsee sei weitestgehend unerforscht, bedeutet das ja: Es gibt dort Tausende und Abertausende Tier- und Pflanzenarten, von denen wir nichts wissen, die uns schlechterdings unbekannt sind. Auf eindrucksvolle Weise demonstrierte jüngst eine Mission der US-amerikanischen National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) diesen Fakt: Sie veröffentlichte ein Video, in dem ein ferngesteuerter Tauchroboter in mehr als 3.000 Metern Tiefe im Pazifik vor Alaska etwas findet, das erst mal wie eine goldene Kugel oder ein goldenes Ei aussieht. Das Ding ist etwa zehn Zentimeter im Durchmesser und gibt Rätsel auf: Pflanze oder Tier? Toter Schwamm, Eierschale oder Koralle? Jedenfalls „biologischen Ursprungs“, sagten die Forscher. Was sie dann taten, war allerdings unverzeihlich: In dem Video sieht man, wie der Arm des Tauchroboters das Goldene Ei erst zerdetscht und dann beim Einsaugen vollends zerfetzt. Wollen wir wirklich so mit den Geheimnissen der Tiefsee umgehen? Pepe Egger

H wie Hot Pockets

Bei Hot Pockets handelt es sich um warme Gebiete an der Wasseroberfläche, in denen die Wassertemperatur deutlich wärmer ist als im umgebenden Meer. Sie werden verursacht durch die Absorption des Sonnenlichts und andere lokale Faktoren wie die Form der Küsten, Riffe und Schwankungen des Salzgehalts durch klimatische Veränderungen oder Flüsse. Hot Pockets sind Magneten für eine Vielzahl von Arten, die Wärme und ein reichhaltiges Nahrungsangebot suchen. Aber sie haben durch die steigenden Temperaturen vor allem negative Auswirkungen: Sie dienen als Brutstätte für tropische Stürme und werden vielerorts zum Grab für Korallen. „In Florida sind es im Moment 38 Grad, das ist die empfohlene Temperatur für einen Whirlpool“, alarmiert der Meeresbiologe Austin Bowden-Kerby (Von ihm lesen Sie mehr in der Reportage ab Seite 14). Fabian Weiss

K wie Krabbenhabitus

Der Krabbenhabitus ist das Ergebnis der „Verkrabbung“ bei Krebstieren. Die Merkmale einer Krabbe – etwa der flache und runde Panzerkörper, der Seitwärtsgang und ein nach vorne hin eingeklappter Hinterleib – scheinen im Ozean von besonderem Vorteil zu sein. Sie haben sich evolutionär mindestens fünf Mal unabhängig voneinander herausgebildet, und das auch bei Tieren, die nicht zu den Echten Krabben zählen. Die Verkrabbung ist ein Beispiel für konvergente Evolution, während der unterschiedliche Tiergruppen einander ähnlicher werden. Noch rätseln Forschende über die Gründe. Fest steht: Die flache Form ermöglicht Echten und falschen Krabben, sich in kleinsten Ritzen zu verstecken. Das eingeklappte Hinterteil unter dem Panzer verringert die Angriffsfläche. Der Seitwärtsgang ermöglicht schnelleres Vorankommen. Die Vermutung, dass alle Arten dieser Erde verkrabben und die Krabbe somit die Krone der Evolution darstellt, konnte bisher nicht bestätigt werden. Warten wir ab. MT

M wie MJO

Die Madden-Julian-Oszillation (MJO) ist ein Wolkenband, das im Indischen Ozean entsteht und das Wetter bis nach Europa beeinflussen kann. Spezifische Wind- und Luftdruckmuster erzeugen bei der MJO dichte Wolkenwände über dem Indischen Ozean, die sich mit vier bis acht Metern pro Sekunde immer weiter Richtung Osten schieben. Die MJO umrundet regelmäßig in 30 bis 60 Tagen die Erde. Über wärmeren Gewässern sorgt sie für starken Regenfall und Stürme, über kühleren bringt sie sonniges Wetter. Die MJO beeinflusst außerdem den Start des Monsuns über Indien, die Intensität tropischer Zyklone und die Entwicklung von El-Niño-Ereignissen. Nach Europa bringt sie sonderbares Wetter, ungewöhnlich lange Regen- oder Trockenphasen. 2018 gab es den in England „Beast of the East“ getauften Kälteeinbruch, ausgelöst durch einen starken MJO-Zyklus. Julia Lauter

N wie Nachtigaller Untiefe

Die meisten Menschen stellen sich das Meer vor wie ein großes Becken: Oben blaue, unten schlammige Weiten. Dabei sieht es unter Wasser ebenso komplex aus wie an Land, es gibt Steilwände, Schluchten, Hochebenen und Berge. Bisher sind nur rund 24 Prozent des Meeresgrundes vermessen, die internationale Kampagne „Seabed 2030“ will, dass es bis in sieben Jahren 100 Prozent werden. Dazu tragen Bathymetriker wie Boris Dorschel-Herr vom Alfred-Wegener-Institut bei. Mit Sonargeräten im Rumpf von Forschungsschiffen machen sie Meter für Meter Schallaufnahmen vom Meeresboden – und kartieren, was zuvor noch nie ein Mensch gesehen hat. Etwa die Nachtigaller Untiefe. 2013 entdeckte Boris Dorschel-Herr sie bei einer Expedition mit der Polarstern im Südlichen Ozean. Die Messdaten erinnerten den Forscher an die Walter-Moers-Figur des Dr. Abdul Nachtigaller, seit 2014 heißt das rund 15 Quadratkilometer große Plateau offiziell „Nachtigaller Shoal“. Wer einen Blick in ozeanische Tiefe werfen will, findet sie unter diesen Koordinaten auf Google Maps: -63.9°, -55.616667°. JL

O wie Olivin

Das nach seiner olivgrünen Farbe benannte Mineral wird von einigen als potenzieller Weltretter gehandelt, denn es könnte den Ozeanen dabei helfen, mehr CO2 aufzunehmen. Ozeandüngung heißt das: Wenn Mineralien natürlich verwittern, binden sie CO2 und regen im Meer das Wachstum von Kieselalgen an. Der recht simple Gedanke: Mehr Mineralien gleich mehr gebundenes CO2. So einfach ist das aber natürlich nicht, denn damit sich das Olivin gut im Wasser verteilt, muss es sehr fein gemahlen werden, was viel Energie benötigt. Um die erforderlichen Mengen des Minerals abzubauen, wäre eine Bergbauindustrie in der Größenordnung der heutigen Kohleindustrie nötig. Trotzdem startete das Unternehmen Vesta vergangenes Jahr in Southamptom einen ersten Pilotversuch und kippte dort 500 Kubikmeter Olivin auf den Strand. SB

U wie Upwelling

Lange galt das Artificial Upwelling, also die Erzeugung eines künstlichen Auftriebs, als der heilige Gral zur Abschwächung des Klimawandels. Es beschreibt den Prozess, bei dem Rohre im Ozean verlegt werden, um Wasser aus der Tiefe an die Meeresoberfläche zu pumpen. Dies soll das Wachstum von Phytoplankton fördern, das Kohlendioxid aus der Atmosphäre absorbiert. Auch das Algenfarming auf der Hochsee baut auf das Artificial Upwelling. Mit Blick auf die Ernährungssicherheit scheint das auf den ersten Blick genial: Der künstliche Auftrieb kann ebenso das Wachstum von Fischpopulationen ankurbeln, indem er nährstoffreiches Wasser an die Oberfläche bringt. Heute wird die Maßnahme allerdings etwas kritischer betrachtet: Die Manipulation von Meeresströmungen kann die natürlichen Ökosysteme stören, was zu unvorhersehbaren Folgen und potenziellen Schäden für das Meeresleben führen kann. Außerdem wird für den Betrieb von Auftriebssystemen viel Energie benötigt, was die CO2-Bilanz und die Umweltauswirkungen sogar noch verschlimmern kann. FW

Z wie Zwanzigtausend

Im französischen Original heißt das Buch Vingt mille lieues sous les mers: Jules Vernes’ 1869 veröffentlichter Tiefsee-Abenteuerroman Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer. Darin will Professor Pierre Aronnax eigentlich die Ursache für eine mysteriöse Serie von Schiffsunfällen finden. Aronnax vermutet zunächst einen Narwal als Schuldigen, muss dann aber feststellen, dass es das Unterseeboot Nautilus ist, das unter dem Kommando von Käpitän Nemo allerhand Unheil anrichtet. Nicht nur das: Arronax wird gefangen und an Bord der Nautilus in die Tiefsee verschleppt. Das U-Boot fährt mit Elektroantrieb und erzeugt den Strom dafür aus einer Art Brennstoffzelle. Es nimmt also viel vorweg, was U-Boote erst Jahrzehnte später einlösen. Und manches, wie die überaus komfortable Ausstattung, was letztere bis heute nicht erreicht haben. pep

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