Von Göttern zu Monstern: Wie kam es dazu, dass wir den Hai fürchten?
Gefahr aus der Tiefe Während Hochseekulturen ihn als Gottheit anbeteten, denken wir heutzutage beim Hai nur noch an fletschende Zähne und abgetrennte Hände. Können wir unsere Beziehung zum letzten großen Raubtier ins Gleichgewicht bringen, bevor es zu spät ist?
Die furchterregendsten Monster, die wir uns ausmalen, bleiben uns verborgen. Sie schlagen immer erst dann zu, wenn wir es am wenigsten vermuten. In unserer Fantasie durchstreift der ausgestorbene Megalodon den Ozean, ungesehen und unsichtbar. Er taucht in unserem Bewusstsein auf, wenn wir uns ausruhen wollen oder gerade im Meer herumtoben. Doch was ist der Grund dafür, dass uns der große Hai so sehr in seinen Bann zieht? Dazu muss man sich die lange Geschichte von Begegnungen zwischen dem Tier und uns Menschen genauer ansehen. Denn gibt es etwas Schaurigeres als den Gedanken, unter Wasser gezogen und lebendig gefressen zu werden?
Es gibt eine umstrittene Theorie, wonach unsere Spezies während ihrer Evolution eine Aqua-Phase durchlief. Die langen Zeiträume, die unsere Vor
und lebendig gefressen zu werden?Es gibt eine umstrittene Theorie, wonach unsere Spezies während ihrer Evolution eine Aqua-Phase durchlief. Die langen Zeiträume, die unsere Vorfahren auf der Suche nach Meereslebewesen im Wasser verbrachten, sollen der Grund dafür sein, dass wir haarlos sind, eine dicke Schicht Unterhautfett haben, schwimmen und unter Wasser die Luft anhalten können. Wenn die Theorie stimmt, dann hat dieser urzeitliche Ausflug ins Wasser vielleicht etwas mit unserer tiefsitzenden Angst vor unter Wasser lebenden Raubtieren zu tun.Wahrscheinlicher ist diese Annahme: Die Menschen unternahmen vor rund 50.000 Jahren waghalsige Seereisen, um zum Beispiel Australien zu erreichen. Damals, lange vor der weitverbreiteten Ausplünderung der Ozeane, müssen diese ersten unerschrockenen Seefahrer Gewässer durchquert haben, in denen es vor Haien und ihren Beutetieren nur so wimmelte. Vielleicht haben sie sogar den einen oder anderen Kameraden durch einen knorpeligen Haikiefer verloren. Wie dem auch sei, sobald unsere Vorfahren begannen, sich ins Meer zu stürzen, um zu reisen oder es als Nahrungsquelle zu nutzen, setzten sie sich dem Risiko aus, Haien zu begegnen.3.000 Jahre altes OpferArchäologische Ausgrabungen haben überzeugende Beweise dafür geliefert, dass Haie seit vielen Jahrtausenden Jagd auf Menschen gemacht haben. Im Jahr 2021 gaben Forscher bekannt, dass auf einem japanischen Friedhof das Skelett eines fast 3.000 Jahre alten Haiangriffsopfers gefunden wurde. Bei dem Unglücklichen handelte es sich höchstwahrscheinlich um einen Fischer, dessen Knochen fast 800 Abdrücke von gezackten Zähnen trugen – höchstwahrscheinlich von einem Tigerhai oder dem „Großen Weißen“. Die Forscher konnten anhand eines dreidimensionalen Modells feststellen, dass das Opfer noch lebte, als es angegriffen wurde. Eine seiner Hände war sauber abgetrennt; möglicherweise das Ergebnis eines verzweifelten Versuchs, sich von dem Raubtier zu befreien. Auch waren bei dem Angriff beide Beine vom Oberkörper abgerissen worden. Eines davon wurde vor der Beerdigung sorgfältig auf den Leichnam gelegt.So grausam dieser Fund auch sein mag: Wir können uns glücklich schätzen, einen solchen Beweis für einen prähistorischen Haiangriff zu haben. Denn erstens sind vergrabene Haiangriffsopfer ganz sicher die Ausnahme, da die Körper vieler Opfer nie geborgen werden. Und zweitens ist es selten, dass ein vergrabener Körper 3.000 Jahre lang unversehrt bleibt.Eingebetteter MedieninhaltIm Laufe der Zeit haben viele menschliche Gemeinschaften ein Gleichgewicht zwischen Angst und Respekt vor Haien hergestellt, sodass in einigen der bedeutendsten Hochseekulturen sowohl Menschen als auch Haie gut gedeihen konnten. Da Haie eine wichtige Rolle in den marinen Ökosystemen spielen, ermöglicht dieses „Leben und leben lassen“ gesunde, stabile Nahrungsketten, die sowohl für die Menschen als auch für die Umwelt von großem Nutzen sind.Viele der Gemeinschaften, die eine achtungsvolle Beziehung zu Haien pflegen, haben die Tiere in ihre Schöpfungsmythen integriert und sie zu ihren Urahnen oder Göttern erklärt. In der Mythologie der Māori ist Parata der Haigott, der in den Tiefen des Ozeans lebt. Mit jedem Atemzug kontrolliert er die Schwankungen der Gezeiten. Auf den Fidschi-Inseln ist der Haigott Dakuwaqa der Beschützer der Fischer, er bewahrt sie vor den Klauen der Haie und sorgt so für ihre Sicherheit auf hoher See. Auf Hawaii glaubte man lange, dass sich die Urahnen in Gestalt von Haien zu erkennen geben, Haie die Kanus lenken und Fische in die Netze locken.Auf den Salomon-Inseln im Südpazifik steuern Haie angeblich den Übergang von der Welt der Lebenden in die sprituelle Welt. Dort werden die Körper der Toten bei Ebbe auf Riffe gelegt, um von Haien gefressen zu werden, damit die Geister der Verstorbenen zu den Ahnen übergehen. Auf der Insel Anaa, 250 Kilometer östlich von Tahiti, tragen die Krieger den Namen des Weißspitzen-Hochseehais. Generell gelten in weiten Teilen Polynesiens Haie, die im offenen Meer leben (von denen einige als Menschenfresser bekannt sind), als unantastbar und dürfen weder getötet noch gegessen werden. Nach der Einführung des Christentums in Ozeanien zu Beginn des 19. Jahrhunderts fielen viele dieser Glaubenssätze zum Schutz der Haie weg. Mit welchen Folgen? Ziegen als KöderEinige zuvor geschützte Arten wurden so überfischt, dass sie aus den ehemals viel belebten Gewässern verschwanden. Nur an den entlegensten und unbewohnten Orten wie der Caroline-Insel in Kiribati oder der in Privatbesitz befindlichen Clipperton-Insel kann man heute noch die ganze Vielfalt der Haie erleben, bevor sie durch die menschliche Jagd dezimiert wurden. Es ist ein Spektakel, das an den Pazifik vor der Ausbeutung durch den Menschen erinnert: In den flachen Lagunen können Hunderte von Schwarzspitzen-Riffhaien beobachtet werden, während vor der Küste zahlreiche größere Haie ihre Kreise ziehen. Die Tiere dort sind so angstfrei, dass sie in die Paddel von Ruderern beißen, die sich ans Ufer begeben, und sogar an ihren Füßen knabbern, wenn diese in Richtung Strand waten.Der Weißspitzen-Hochseehai zählt zu jenen Tiefseehaien, die durch den Zusammenbruch der vorchristlichen Schutzbestimmungen besonders stark beeinträchtigt wurden. Es handelt sich um eine sich träge fortbewegende, langsam wachsende Art mit einer niedrigen Fortpflanzungsrate, die von den christlichen Neuankömmlingen in immer größerer Zahl getötet wurde – wodurch ihr Bestand rapide zurückging. Eine beliebte Methode war es, weit aufs Meer hinauszufahren und eine Ziege als Köder zu benutzen. Sobald sich die Weißspitzen dem Köder näherten, zogen die Fischer die Tiere mit einem Lasso ins Boot.Placeholder image-1Als die Europäer in das Zeitalter der Seefahrt eintraten und zu immer weiter entfernten Teilen der Erde aufbrachen, begegneten sie, in vielen Fällen zum ersten Mal, raubtierartigen Haien. Frühe englische Seefahrer bezeichneten sie als „Sea-Dogs“, aber schließlich setzte sich der Begriff „Shark“ bei ihnen durch: abgeleitet vom niederländischen Wort für Schurke (schurk). Das Drama eines Haiangriffs und einer heldenhaften Rettung wird in einem Gemälde von John Singleton Copley aus dem Jahr 1778 schaurig-schön dargestellt: Das Bild „Watson und der Hai“ wird in der National Gallery of Art in Washington aufbewahrt. Es zeigt ein grausiges Ereignis aus den 1740er-Jahren, als der 14-jährige Waisenjunge Brook Watson unvorsichtigerweise von einem kleinen Boot sprang, auf dem er im Hafen der kubanischen Hauptstadt Havanna arbeitete.Vor den Augen mehrerer völlig entsetzter Augenzeugen wurde der in Panik geratene Watson von einem riesigen Hai, der sich an seinem Bein festgekrallt hatte, unter Wasser gezogen. Er tauchte zwar einmal auf, wurde dann aber gleich wieder von dem Hai unter Wasser gezogen. Ein Besatzungsmitglied verjagte schließlich das Tier mit einer Stange, die mit einem großen Haken versehen war. Die Kreatur ließ Watsons rechten Fuß los, sodass die Schaulustigen den Jungen retten konnten. Wie durch ein Wunder überlebte Watson, um die Geschichte weiterzuzählen.Müllfressende UngeheuerAustralien ist weltberühmt für seine vielen Haiangriffe. Aufzeichnungen über Begegnungen mit verschiedenen Haiarten reichen bis zu den ersten europäischen Entdeckungen des Kontinents zurück. Die Shark Bay in Westaustralien ist bekannt für ihre riesigen Tigerhaie. Ihre kräftigen Kiefer sind in der Lage, den Panzer einer Meeresschildkröte mit Leichtigkeit zu knacken. Die Tiere haben den furchterregenden Ruf, alles zu fressen, was sie in die Finger bekommen – auch den unverdaulichsten Müll. Die Grausamkeit dieser Tiere in der Shark Bay wurde von François Péron, dem Zoologen der Baudin-Expedition, 1801 eindrucksvoll beschrieben:Die Ostseite der Fauré-Insel ist von Haien bevölkert, die durch ihre Größe und Gefräßigkeit auffallen. Eines dieser Ungeheuer hat Lefevre fast verschlungen.Solch massive Angriffe sind heute äußerst selten. Aber in den historischen Aufzeichnungen der frühen australischen Entdeckungen sind sie zahlreich vertreten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass große Haie im Laufe der Jahre entweder seltener geworden sind – oder vorsichtiger.Eines steht fest: Haie vermehren sich deutlich langsamer als viele Knochenfische. Da sie nur wenige Jungtiere haben, können sie ihre Populationen nicht so schnell wieder aufstocken, wie der Mensch sie zerstört. Tragischerweise hätte der Höhepunkt der Trophäenjagd, der im 20. Jahrhundert folgte, zu keinem schlechteren Zeitpunkt kommen können, da er mit einem dramatischen Rückgang der Nahrungsquellen für den Weißen Hai zusammenfiel. Die Robben- und Walpopulationen waren durch die industrielle Bejagung durch den Menschen stark eingebrochen. In den 1970er-Jahren standen viele ehemals zahlreich vorkommende Robben- und Walarten am Rande der Ausrottung.Die Psychologie der Trophäenjäger spiegelt das Ethos einer Ära wider, die hoffentlich schnell vorübergeht. Einer Ära, in der der Mensch als Gegner der Natur betrachtet wird, anstatt Teil von ihr zu sein. Vielleicht suchte die westliche Gesellschaft fälschlicherweise nach einem Grund, um das furchterregende Tier zu bezwingen. Ging es uns darum, die Macht zurückzuerobern, die Haie über uns haben, sobald wir ihr Reich betreten? Jedenfalls ist es dringend notwendig, die letzten großen lebenden Raubtiere zu erhalten, anstatt ihre Kadaver in Formaldehyd zu konservieren. Nur so können Stabilität und Produktivität in den Ökosystemen wiederhergestellt werden.