Kein bisschen Volkspartei: Sechs Gründe für die Misere der Grünen
Krise Gramsci richtig lesen – das wäre ein Anfang, reicht aber nicht. Noch 2021 wähnten sich die Grünen auf dem Weg zur stärksten Partei der Republik. Heute stehen Robert Habeck, Annalena Baerbock & Co. bei etwa 13 Prozent. Warum?
Material: Nataly Studio + Root Stocks + Xamtiw/iStock
Knietief in der Gramsci-Falle
Die Altvorderen der Partei haben ihn gelesen. Er diente manchen als ideologischer Wegweiser aus den Abstrusitäten des bundesrepublikanischen Maoismus der Siebzigerjahre. Ob die Jüngeren ihn auch gelesen haben, ist zweitrangig. Ideologische Versatzstücke des italienischen Reformmarxisten Antonio Gramsci (1891 – 1937) lassen sich auch in ihrem Denken erkennen.
Haben die Grünen ein substanzielles Programmdefizit, das falsche Personal oder doch nur ein „Kommunikationsproblem“, eine Sprechblase, mit der sich die etablierten Parteien stets einer tieferen Selbstreflexion entziehen? Nein, die Grünen plagt kein Programmproblem. Sie haben auf fast allen relevanten Politikfeldern klare Vorstellungen und Lösungsvorschläge
ungsvorschläge. Aber ihre gegenwärtige Misere ist nicht kleinzureden, indem ihre Urheber schlicht auf ein „Kommunikationsproblem“ verweisen.Die Wahrheit liegt wie so oft dazwischen: Was die Grünen haben, ist ein Strategieproblem. Dieses geht tiefer, als es sich zunächst anhört. Und hier kommt Antonio Gramsci ins Spiel. Gramsci hat in seinen Gefängnisheften eine anti-leninistische Strategie der Machtergreifung entwickelt. In komplexen Gesellschaften genüge nicht die bolschewistische Erstürmung des Winterpalastes durch eine revolutionäre Avantgarde. Es bedarf vielmehr der Abstimmung einer Zweistufenstrategie. Zunächst müsse eine diskursive, ja kulturelle Hegemonie der progressiven Ideen in der Zivilgesellschaft hergestellt werden, erst dann könne die diskursive in politische Macht umgesetzt werden (potere politica). Die kulturelle Hegemonie, fügte Gramsci hinzu, zeige sich als intellektuelle und moralische Dominanz der gesellschaftlichen Diskurse.Als folgten sie den Regieanweisungen Antonio Gramscis, machten sich die Grünen ans Werk. Ihre Kernthemen von Umwelt, Nachhaltigkeit und der bedrohliche Klimawandel rückten Schritt für Schritt in das Zentrum unserer politischen Debatten. Dies war vor allem das Verdienst der Grünen, der ökologischen Bewegungen und einer sich rasch ausdehnenden Klimaforschung. Bei zunächst randständigen Themen wie dem Gendern, dem Diskriminierungsschutz multipler Geschlechter, der grünen Identitätspolitik und postkolonialen Ideen erreichten die Grünen allerdings nur die eigene akademische Mittelschichtsklientel der Städte.Die Grünen überschätzten jedoch die Stabilität ihrer diskursiven Dominanz. Zum einen verwechselten sie das laute urbane Echo mit der Stimmung in der Gesellschaft insgesamt. Zum anderen nahmen sie Gramscis Ermahnung nicht ernst, die kulturelle Hegemonie gesellschaftlicher Debatten müsse über Kompromisse und Allianzen führen. Kompromisse sind aber die Sache der Grünen nicht. Zu sehr glauben sie sich im Besitz der einen wissenschaftlichen Wahrheit und der alternativlosen kosmopolitischen Moral. Ein spezifisch grüner Avantgardismus des Besserwissens schlich sich ein. Die Diskursdominanz wurde überdehnt und verspielt. Verbale Gesslerhüte und der belehrende Zeigefinger werden aber jenseits der grünen Überzeugungsgemeinschaft nicht goutiert.Das Fremdeln mit einer kritischen Selbstreflexion ließ die Grünen den diskursiven Hegemonieverlust nicht erkennen. Einmal in der Regierung missdeuteten sie die verbreitete Furcht vor der Klimakrise als die gesellschaftliche Aufforderung zur Durchsetzung einer radikalen Klimapolitik. Das Gebäudeenergiegesetz (GEG) wurde top-down in Robert Habecks Ministerium und den anverwandten Klimaforschungsinstituten entworfen. Von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung wurde es prompt abgelehnt. Nichts dürfte einer vernünftigen Klimapolitik der nächsten Jahre mehr geschadet haben als die grüne Top-down-Technokratie des GEG. Erst wenn die Grünen ihren belehrenden Avantgardismus ablegen, werden sie in der Wahlarena reüssieren. Noch einmal Gramsci richtig lesen schadet nicht, genügen wird es nicht, um der 13-Prozent-Falle zu entkommen.Wolfgang MerkelZwanglos abgehobenMan meint es doch nur gut und setzt sich dafür ein, dass die Welt eine bessere wird – die Partei, die von Umfragehoch zu Umfragehoch eilte, versteht nicht, warum sie heute mit Liebesentzug bestraft wird. Wie könnte jemand etwas dagegen haben? Ein Blick zurück in die späten 1970er: Kanzler Helmut Schmidt versuchte diverse Brände (Terrorismus, sowjetische Aufrüstung, Ölkrise) zu löschen. Für große Politentwürfe war kein Platz. „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, so Schmidts bekanntes Credo. Die Anfang 1980 gegründeten Grünen waren eine Reaktion auf diese von Sachzwängen bestimmte Politik.Man wollte eine andere Welt. Mit diesem Wunsch hatten die Grünen nicht nur junge Idealisten auf ihrer Seite, sondern auch manch ältere Pragmatiker, die sich wenigstens in der Wahlkabine beweisen wollten, dass sie nicht zum Sklaven der Verhältnisse geworden waren. Man gab der Partei schon damals seine Stimme, weil man sich danach als besserer Mensch fühlte.Das unterscheidet noch heute den Grünen- vom SPD-Wähler. Wer bei den Sozialdemokraten sein Kreuz macht, tut dies mit Bauchschmerzen und hofft, sich fürs kleinere Übel zu entscheiden. Die SPD hat gelernt, mit dieser Ablehnung zu leben. Eine Partei, der seit Bewilligung der Kriegskredite 1914 das Verräter-Image anhaftet, verliert die Angst vor unpopulären Entscheidungen, siehe aktuell Olaf Scholz.Die Grünen hingegen fühlen sich – selbst 38 Jahre nach der ersten Koalition auf Landesebene (Hessen) – noch immer als coole Oppositionspartei. Vom Beifall verwöhnt, erwartet sie, dass ihre Entscheidungen als Regierungspartei nicht nur toleriert, sondern auch goutiert werden. So nimmt das Kommunikationsdesaster seinen Lauf. Anstatt das Bittere, als notwendig Erachtete auch so zu vermitteln – Churchill machte mit seiner „Blut, Schweiß und Tränen“-Rede vor, wie man schlechte Nachrichten verkauft –, erwartet man ernsthaft Beifall für Restriktionen und finanzielle Einschnitte und wundert sich, wenn dieser ausbleibt.Nein, es ist mehr als Verwunderung; man ist stinksauer und reagiert dünnhäutig. Da beschimpft die taz – seit ihren Gründungstagen medialer Begleiter der grünen Bewegung – die protestierenden Bauern als „Mähdrescher-Mob“ und merkt nicht, dass sie sich damit auf Bild-Niveau begibt. Quasi dasselbe in Grün. Der Versuch, unliebsame Demonstranten als Mob oder Rechtsextreme abzustempeln, weckt schlimme Erinnerungen an die späten 60er Jahre. Damals war es die Springer-Presse, die protestierende Studenten pauschal als „rote Agitatoren“, „Polit-Gammler“ und „Krawall-Brüder“ denunzierte und von „Terror“ sprach.Und die Studenten? Sie reagierten damals so, wie Menschen eben reagieren, die sich verleumdet fühlen – sie wurden wütender, radikaler. Die Gewaltschwelle sank, Krawalle nahmen zu. All das müsste den Grünen bekannt vorkommen – es ist ihre Geschichte. Dass daraus eine Erfolgsgeschichte werden konnte, ist das Ergebnis einer Ent-Radikalisierung. Dazu trugen auch die Gegner bei. Der hessische Ministerpräsident Holger Börner (SPD) packte die Dachlatte ein und den Koalitionsvertrag aus. Vielleicht sollten sich die Grünen an den Karikaturisten F.W. Bernstein erinnern, bevor sie beim nächsten Protest wieder Galle spucken: „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche.“ Frank JörickeJargon und RealitätNicht das geringste Problem der Grünen sind Slogans und Schlagworte, die sich nicht mit der realen Politik der Partei decken. Sinnfällig wird das an der „feministischen Außenpolitik“, die Annalena Baerbock propagiert. Entwickelt in grünen Denkfabriken, ist sie seit März 2023 offiziell verankert in den Leitlinien des Auswärtigen Amtes. „Gesellschaften sind friedlicher und wohlhabender, wenn alle Menschen gleichermaßen am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben teilhaben können“, heißt es dort. Frauenrechte seien dafür ein „Gradmesser“, betonte Baerbock bei der Vorstellung des Konzeptes. Die Neue Zürcher Zeitung spottete über „Altbekanntes mit feministischem Stempel“.Die Gleichstellung der Geschlechter und der Schutz vor Diskriminierung marginalisierter Gruppen sind Ziele, die viele teilen. Doch wie heißt es so treffend in den Leitlinien: „Feministische Außenpolitik verbindet Prinzipien mit pragmatischem Vorgehen.“ Dass dieses pragmatische Vorgehen nichts mehr mit den Prinzipien zu tun haben muss, zeigte sich in Afghanistan: Weder Bomben auf Kabul noch die Militärpräsenz der Bundeswehr haben erreicht, dass Mädchen dort heute selbstverständlich und ohne Burka zur Schule gehen können.Ist die Lieferung von Mardern und Geparden an die Ukraine, auf den Smartphones grüner Politikerinnen liebevoll verhätschelt, feministisch? Wo sind all die friedfertigen Frauen geblieben, die einst gewaltbereite Männer mäßigen wollten? Die „feministische Außenpolitik“ kollidiert mit der Tatsache, dass Deutschland einer der größten Waffenproduzenten der Welt ist; immer mehr Kriegsgerät landet dabei in Krisenregionen. Aktuelles Beispiel: Baerbock will Kampfhubschrauber an Saudi-Arabien liefern. Die Menschenrechtslage ist feministisch betrachtet desaströs, bis vor Kurzem durften Frauen in Riad nicht einmal Auto fahren ...Offenkundige Widersprüche kontert die Außenministerin mit dem Hinweis, man sei „kein missionarisches Projekt, mit dem wir naiv die Welt verbessern wollen“. Ihr Amt empfiehlt weiterhin unverdrossen „gendersensible Ansätze in der Rüstungsexportkontrolle“. Zusammen mit Begriffen wie „inklusiv“, „intersektional“ oder „transformativ“ suggeriert das ein progressives Gedankengut zum Wohlfühlen. Das sehen viele anders: Grüne Realpolitik folgt den geopolitischen Interessen des Westens: Es wird nicht ab-, sondern aufgerüstet.Kontroversen über die euphemistisch als „Sondervermögen“ der Bundeswehr deklarierten Kriegskredite gibt es im grünen Milieu kaum noch. Weil angeblich überall gespart werden muss, außer beim Militär, gehen auch letzte sozialpolitische Ambitionen baden. Die Kindergrundsicherung, Lieblingsprojekt von Baerbocks Parteifreundin Lisa Paus, schrumpfte zu einer miserabel finanzierten und nur noch symbolischen Hilfe. Das gestrichene Geld wird für Wichtigeres gebraucht: für die mit umgedeuteten Argumenten legitimierte Politik einer „Kriegsertüchtigung“. Widerstand gegen diese neue Formel der Bundesregierung aus dem grünen Licht der Ampel ist nicht überliefert. Thomas GesterkampErnüchterung war immer schonEnttäuschung war es nie. Eher Skepsis, die sich schon beim Gründungsparteitag der Grünen in Karlsruhe 1980, wo ich damals gelebt habe, einstellte. Denn dieser bunte Mix, der sich damals zusammenfand, war zu einem Gutteil selbst desillusioniert. Darüber, dass „die Massen“ keine Revolution machen wollten. Dass das Marx’sche Geschichtspendel nicht „wissenschaftlich“ ausschlug. Und dass es schwer war, sich „nur“ als soziale Bewegung, aus deren Vielzahl wir kamen, politisch durchzusetzen. Es gab Erfolge, ja, aber keinen parlamentarischen Arm wie bei Sinn Féin in Irland oder der ETA-Kreation Herri Batasuna im Baskenland. Die Haltung zum Parlamentarismus war die Gretchenfrage, an der sich auch die Grünen frühzeitig rieben.Insofern kann schon die Gründung der Öko-Partei als eine Geschichte nachgetragener Enttäuschung gelesen werden. In gewisser Weise war sie aber auch ein Aufbruch und vom Glauben begleitet, dass ein solides Fundament, das den „Gang durch die Institutionen“ grundiert, den Verlockungen der Macht entgegensteuern könnte: Rotation, Trennung von Amt und Mandat, Geschlechterparität. Aus der Erfahrung der SPD hätte man es zwar besser wissen können, aber wir wähnten uns viel cleverer und geschulter in solchen Dingen bis hin zur gewaltfreien Kommunikation.Die Geschichte der Ernüchterung, die sich mit der grünen Partei verbindet, ist lang und wäre mit dem Begriff „Ausscheidungskämpfe“, wie es der kluge Soziologe Norbert Elias genannt hat, am besten umschrieben. Zuerst war es das Unbehagen der Frauen angesichts des ungebrochenen Mackertums der Männer, die ihre verlorene Definitionsmacht zurückholten. Dann verspielten die Linken in der Partei ihre Chance, was nicht zur Spaltung wie jetzt in der Linkspartei führte, sondern nur zu längst vergessenen Austritten und politischen Figuren. Schließlich war freie Bahn durch die Parlamente, wobei das eine oder andere Prinzip stillschweigend auf der Strecke blieb.Wer die Grünen wählte, weil er in ihnen eine parlamentarische Erneuerung sah, interessierte das ohnehin nicht. Der Umschlag in der Haltung zum Pazifismus während des Balkankriegs, von Joschka Fischer auf der Klaviatur der NS-Vergangenheit intoniert, war, eingebunden in die neue Regierungsverantwortung, der zunächst letzte signifikante Kniefall vor der sogenannten Realpolitik. „Ich bin ausgestiegen, als sich Joschka Fischer für eine Beteiligung am militärischen Kosovo-Einsatz der NATO aussprach“, erzählte vergangenes Jahr der Anti-Atom-Aktivist aus dem Wendland, Karsten Hinrichsen. Und wer wie ich 1991 das Debakel der „Einverleibung“ der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung in die Partei journalistisch begleitet hat, ahnte, wie es parteiintern zuging. Dennoch: Sie gehörten zu „uns“, es gab starke Bindungen, auf persönlicher, beruflicher, politischer Ebene. In der Bewegungsstiftung etwa, der ich viele Jahre angehörte, galten die Grünen als ebendieser „Arm“, der Veränderung parlamentarisch durchsetzen konnte. Das galt für viele Initiativen.Ich wage mir die Debatten dort gar nicht vorzustellen, wenn über die ökologische Wende oder die Rechte von Flüchtlingen die Rede ist. Dass es die Grünen, von ihrer oft bürgerlichen Herkunft her, mit dem Sozialen nie so hatten, konnte man hinnehmen, aber die Rechte der Menschen, die in unser Land kommen, die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen, die durch kapitalistischen Raubbau und Klimawandel bedroht sind – das war nun wirklich ihr Ding.Heute dominiert die Enttäuschung einer Luisa Neubauer und der vielen Bekannten oder Unbekannteren, die in Offenen Briefen beklagen, was aus „ihrer“ Partei geworden ist. Die starke Grüne Jugend wurde auf dem Parteitag wegorchestriert, Frustrierte mahnen oder kündigen ihre Mitgliedschaft. Der neue „Kompromiss“ im Umgang mit Flüchtlingen wird dies noch einmal forcieren. Das macht mich traurig. Denn ich wollte nicht recht behalten. Im Gegenteil. Ulrike BaureithelHabeck und der Obama-EffektWenn eine Partei, die einen starken ideologischen Kern hat, auf dem Weg zur Volkspartei scheint, dann nur, weil ihrem Spitzenpersonal die Gabe zugeschrieben wird, die Frucht um den Kern so schmackhaft zu machen, dass auch alte Karnivoren den Veganismus nicht mehr für eine Verirrung halten. Was Sahra Wagenknecht für die Linke hätte werden können, war Robert Habeck eine Weile lang für die Grünen.Neulich war Habeck auf dem World Economic Forum (WEF) in der Schweiz. „In Davos wirkt Robert Habeck den Niederungen des Ampel-Alltags entrückt. Er sinniert über die großen Linien der Weltpolitik“, spöttelte der Spiegel. Nun könnte man den Kollegen entgegnen, dass „Davos“ seit Thomas Manns Zauberberg ein Symbol für Entrücktheit ist, dass noch jeder der Gäste, der auf dem WEF spricht, die „großen Linien zieht“, und dass doch gerade das an Habeck gefeiert wurde: Endlich denkt einer, der es in der Politik zu was bringen will, über den Tag hinaus. Aber geschenkt, der Spiegel-Bericht ist symptomatisch. Spätestens seit dem Gebäudeenergiegesetz ist Habeck nicht mehr der Darling der Medien.Konkret kann man sagen, dass Habeck hier Fehler gemacht hat, aber allgemein gilt, dass das Werden einer charismatischen Figur attraktiver ist als das Sein. Nicht zuletzt deswegen zetteln Diktatoren Kriege an, oder zum Glück harmloser: Muss der wohl klügste und charmanteste Präsident, den die USA je gesehen hat, seine Memoiren unter dem Eindruck verfassen, dass sich die Erinnerungen an den Aufstieg spannender lesen als der Rückblick auf seine Präsidentenschaft. Man kann das den „Obama“-Effekt nennen.Hinzu kommt, dass das Miesmachen von „Lichtgestalten“ in Deutschland eine Art Volkstherapie scheint. Sie trifft die Grünen besonders hart. Einerseits, weil man mit ihnen außerhalb des Milieus fremdelt, und andererseits, weil die Erwartungen im Milieu besonders hoch sind. Ich kann mich noch gut erinnern, als eine Freundin, die in der Landesvertretung von Schleswig-Holstein arbeitete, von einem Talent schwärmte. Dieser Habeck sei so ganz anders, als wie man es sonst kenne von Politikern.Für diese Zeilen hier habe ich noch mal sein Buch Wer wir sein könnten gelesen; die Lektüre vor aller Augen in der Tram fühlte sich fast wie ein Akt des Widerstands an. Das große Thema des Buches ist die Sprache der Politik; lebendig, wahrhaftig und offen sollte sie sein, ohne unpräzise, vereinfachend und populistisch zu werden.Nach den Gründen für den Vormarsch der Rechten gefragt, heißt es oft, dass das links-liberal-grüne Milieu die Menschen draußen auf dem Land nicht erreicht, ihre Sprache weder spricht noch eigentlich verseht. Dabei unterstellen wir, dass dieser Missstand dem politischen Personal nicht bewusst ist. Aber das ist zu einfach gedacht. Zumindest auf Robert Habeck trifft der Vorwurf nicht zu, der sah das Problem sehr früh. „Der Kampf der Rechten ist, glaube ich, auch deshalb so erfolgreich, weil er einen Raum der Sprachlosigkeit füllt, den die politische Linke gelassen oder aufgemacht hat. Sprache ist auch Heimat. In einem ganz grundlegenden Sinn.“Da ist der Habeck wieder, der die großen Linien zieht, wohl wissend, dass ihm das Wort „Heimat“ von manchen aus seiner Partei um die Ohren gehauen wird. Und man könnte jetzt irgendwelche Phrasen aus, sagen wir, Neue Zeit. Neue Verantwortung“ (3,99 € bei medimops) von Friedrich Merz dagegenschneiden, um die Fallhöhe zwischen dem deutschen Vizekanzler und dem Oppositionsführer zu verdeutlichen.Dass sich diese Zeilen zu einer kleinen Apologie für Robert Habeck auswachsen, hängt weniger damit zusammen, dass ich die anderen Beiträge auf dieser Seite für falsch halte, als mehr, dass es neben dem Obama-Effekt vermutlich noch einen zweiten gibt. Wenn einem wie Robert Habeck der Wind gar heftig ins Gesicht weht, dann nehmen wir ihn gegen maßlose Kritik in Schutz. Ob dieser „Habeck“-Effekt für die Partei von Nutzen sein wird, muss sich weisen. Michael AngeleProblem? Welches Problem denn?Ob als Klage oder voll Häme: Ständig hört man dieser Tage, dass die Grünen ein Riesenproblem hätten. Doch geben die Zahlen das her? Selbst nach zweieinhalb Jahren in einer Bundesregierung, die eine Menge an materiellen wie emotionalen Zumutungen produziert hat, steht die Partei doch gar nicht so schlecht da. Spektakulär ist zwar das Umfragen-Minus in Baden-Württemberg, wo mit nur noch rund 20 Prozent der zwischenzeitliche Volkspartei-Status unter Landesvater Winfried Kretschmann bedroht ist. Doch sonst ist die Lage recht stabil; selbst im Osten liegt man flächendecked über fünf Prozent.Der Grund für diese relative Stärke ist der grüne Anachronismus: Gerade die Partei, die sonst – im Guten wie Schlechten – als die zeitgemäßeste Kraft im Spektrum gilt, ist in Wirklichkeit etwas, vom dem die Politologie behauptet, es existiere gar nicht mehr: die letzte Milieupartei. Während die Zeiten lange vorbei sind, in denen die Sozialdemokratie „von der Wiege bis zur Bahre“ zum Malocherhaushalt gehörte und das CDU/CSU-Parteibuch dem christlichen Kleinbürgertum quasi bei Geburt überreicht wurde, ist Grünen-Nähe bis heute geradezu identitätsstiftend in einem Bevölkerungssegment mit guter, meist akademischer Ausbildung, weltbürgerlichen Horizonten und „urbaner“ Lebensführung mit post-traditionellen Elementen.Die Grünen sind so die letzte Partei, deren Wahlvolk sich quasi auf der Straße erkennt – die Leute eben, die man am Bio-Stand auf dem Wochenmarkt trifft, die Lastenrad-Daddys vor der Kita, die Kollegen an der Universität. Gewachsen ist dieses Milieu aus der „Alternativkultur“ der 1980er Jahre, die schon immer eher „anders leben“ als politisch opponieren wollte und sich in der Folge erstaunlich flexibilisiert hat. Sinnfällig wird das etwa in der Grüne-Jugend-Frisur: Trickreiche Schnitte – etwa Undercuts –, die sich mit wenigen Handgriffen von Queerparty- auf Familiendinner-Kompatibilität anpassen lassen.Dieses Milieu ist frappierend robust. Es scheint sogar, als verfestige es sich gerade jüngst auf einer lebensweltlichen Ebene so sehr, dass das unmittelbar Politische aus dem Blick gerät und höchst flexibles Verhalten normal scheint: So können die Grünen etwa per Fingerschnipp vom Wahlkampfslogan „Keine Waffen in Kriegsgebiete“ auf „möglichst schwere Waffen für den Ukraine-Krieg“ umschalten, ohne dass dies bei den Anhänger:innen zu größeren Irritationen führte – oder höchst restriktive Asyl-Deals mittragen und weiterhin den Exklusionismus der anderen anprangern.Diese sichere Bank ist aber auch ein Problem: Längst hat die Partei einen gesamtgesellschaftlichen Gestaltungsanspruch, doch ist ihr Milieu so selbstbezogen und abgeschlossen, dass es ihr schwerfällt, darüber hinauszudenken. Deshalb klingt sie immer wieder, als wolle sie anderen den Lifestyle ihrer Leute verordnen, oder neigt zu entsprechender Symbolpolitik. In Berlin verlor Rot-Rot-Grün zuletzt unter anderem deswegen die Macht, weil die grüne Verkehrssenatorin auch gegen ein Gerichtsurteil auf einer autofreien Friedrichstraße beharrte, die für den Ausbau des Radverkehrs irrelevant war.Dieses Beharren mobilisierte offenbar durchaus das eigene Milieu, trieb aber so viele andere zur Union, dass die Koalition am Ende zerbrach. So können die Grünen anlassbezogen immer wieder mal wieder um die 20 Prozent anwachsen und sich fühlen, als stünden sie kurz davor, eine Volkspartei zu sein, fallen aber auch immer wieder auf jene zehn Prozent zurück, die seit Langem ihr bundespolitisches Potenzial ausmachen – nicht mehr und nicht weniger.Velten Schäfer
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