Frieden mit dem Krieg: Wie die NATO Europas Linke verführt hat
Public Relations Feminismus, Menschenrechte, Popkultur: Jahrelang hat die NATO an einem neuen Image gearbeitet. Ihren kosmopolitischen Militarismus mögen heute auch viele Linke in Europa. Nun wirbt das Bündnis mit Gaming-Events und Umwelt-Influencerinnen
Die Schauspielerin und UN-Sondergesandte Angelina Jolie mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg 2018 in Brüssel
Foto: Imago
Im Januar 2018 gab NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg eine Pressekonferenz, wie es sie noch nie gegeben hatte – mit der Schauspielerin Angelina Jolie. Während das Mode-, Beauty- und Lifestyle-Magazin Instyleberichtete, dass Jolie „ein schwarzes schulterfreies Etuikleid, ein dazu passendes Capelet und klassische Pumps (ebenfalls schwarz) trug“, gab es einen tieferen Grund für dieses Treffen: sexualisierte Gewalt im Krieg.
Die beiden hatten gerade gemeinsam einen Artikel für den Guardian mit dem Titel „Why NATO must defend women's rights“ verfasst. Der Zeitpunkt war passend: Auf dem Höhepunkt der #MeToo-Bewegung war das mächtigste Militärbündnis der Welt zu einem feministischen Verbündeten geworden. „Die Been
ghts“ verfasst. Der Zeitpunkt war passend: Auf dem Höhepunkt der #MeToo-Bewegung war das mächtigste Militärbündnis der Welt zu einem feministischen Verbündeten geworden. „Die Beendigung der geschlechtsspezifischen Gewalt ist eine wichtige Frage des Friedens und der Sicherheit, aber auch der sozialen Gerechtigkeit“, schrieben sie. „Die NATO kann bei diesen Bemühungen eine führende Rolle spielen.“Sanna Marin und Annalena BaerbockDies war ein neues und fortschrittliches Gesicht für die NATO, das gleiche, mit dem sie seitdem einen Großteil der europäischen Linken verführt hat. Zuvor hatten die Transatlantiker in den skandinavischen Ländern Krieg und Militarismus an eine weitgehend pazifistische Öffentlichkeit verkaufen müssen. Dies gelang zum Teil dadurch, dass die NATO nicht als räuberisches, kriegsbefürwortendes Militärbündnis, sondern als aufgeklärtes, „progressives“ Friedensbündnis dargestellt wurde. Timothy Garton Ash schrieb 2002 im Guardian: „Die NATO ist zu einer europäischen Friedensbewegung geworden“, in der man „John Lennon auf George Bush treffen“ könne. Heute hingegen haben Schweden und Finnland nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine ihre langjährige Tradition der Neutralität aufgegeben und sich für eine Mitgliedschaft entschieden. Die NATO scheint als ein Militärbündnis auf – und die Schlacht in der Ukraine als ein Krieg –, hinter dem selbst ehemalige Pazifisten stehen können – John Lennon für die Gegenwart sozusagen: „Give War a Chance“.Die Jolie-Kampagne war in mehrfacher Hinsicht eine dramatische Wende in dem, was Katharine A.M. Wright und Annika Bergman Rosamond als „strategische Erzählung der NATO“ bezeichnen. Erstens setzte das Bündnis zum ersten Mal auf die Macht der Stars und verlieh seiner unscheinbaren Marke einen Hauch von Glamour und Schönheit. Jolies Starpower bedeutete, dass die verführerischen Bilder der Veranstaltung ein unpolitisches Publikum erreichten, das wenig über die NATO wusste. Zweitens schien die Partnerschaft eine Ära einzuläuten, in der Frauenrechte, geschlechtsspezifische Gewalt und Feminismus in der NATO-Rhetorik eine wichtigere Rolle spielen würden. Seitdem, und insbesondere in den vergangenen zwölf Monaten, haben sich telegene weibliche Führungspersönlichkeiten wie die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin, die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas zunehmend als Sprecherinnen eines aufgeklärten Militarismus in Europa profiliert. Das Bündnis hat auch sein Engagement für die Popkultur, neue Technologien und junge Influencer intensiviert.Die einst pazifistischen GrünenNatürlich war die NATO schon immer sehr PR-bewusst und hat sich seit langem mit Kultur, Unterhaltung und Kunst beschäftigt. Wer könnte das Album Distant Early Warning des Elektronik-Duos Icebreaker International aus dem Jahr 1999 vergessen, das mit finanzieller Unterstützung der nicht mehr existierenden „NATOarts“ aufgenommen wurde und von den Radarstationen entlang der nördlichen Peripherie Alaskas und Kanadas inspiriert ist, die gebaut wurden, um die NATO vor einem bevorstehenden sowjetischen Atomschlag zu warnen? Oder den von der NATO-Abteilung für öffentliche Diplomatie produzierten Spielfilm HQ aus dem Jahr 2007, der das Leben innerhalb des Bündnisses und eine fiktive diplomatische Reaktion auf eine Krise im fiktiven Staat Seismania zeigt? So ziemlich jeder, wie sich herausstellt. Was hingegen die jüngste strategische Wende der NATO so wirkungsvoll macht, ist, dass sie erfolgreich fortschrittliche lokale Traditionen und Identitäten aufgegriffen hat, die in Ländern reüssieren, die der NATO beitreten oder einen aktiveren Part spielen sollen.Keine politische Partei in Europa ist ein besseres Beispiel für den Wandel vom militanten Pazifismus zum glühenden Pro-Kriegs-Transatlantizismus als die deutschen Grünen. Die meisten ihrer Gründungsgeneration waren während der Studentenproteste von 1968 Radikale gewesen; viele hatten gegen US-amerikanische Kriege demonstriert. Die frühen Grünen setzten sich für den Austritt Westdeutschlands aus der NATO ein. Doch als die Gründungsmitglieder älter wurden, tauchten Risse auf, die die Partei eines Tages tatsächlich zerreißen sollten. Zwei Lager bildeten sich heraus: Die „Realos“ waren die gemäßigten Grünen, politisch pragmatisch. Die „Fundis“ waren das radikale, kompromisslose Lager; sie wollten, dass die Partei auf jeden Fall ihren Grundwerten treu bleibt.Der Kosovo-Krieg 1999Die Fundis waren der Meinung, dass dem europäischen Frieden am besten durch einen Austritt Westdeutschlands aus dem Bündnis gedient wäre, und tendierten zur militärischen Neutralität. Die Realos hingegen glaubten, dass Westdeutschland die NATO brauche. Sie argumentierten sogar, dass ein Austritt die Sicherheitsfragen wieder in die Hände des deutschen Nationalstaates legen würde und die Gefahr bestünde, dass Militarismus und Nationalismus wieder aufflammen. Ihre NATO war ein postnationales, kosmopolitisches Bündnis, das zahlreiche Sprachen sprach und eine Vielzahl von Flaggen wehen, um Europa vor den destruktiven Impulsen Deutschlands zu schützen. Aber die NATO-Mitgliedschaft am Ende der Geschichte war die eine Sache. Dass Deutschland wieder in den Krieg ziehen würde – das größte aller Tabus nach dem Zweiten Weltkrieg – eine ganz andere.Der Kosovo hat alles verändert. Im Jahr 1999 – 50 Jahre nach Gründung der NATO – begann das Bündnis, was die Wissenschaftlerin Merje Kuus eine „diskursive Metamorphose“ nennt. Aus dem reinen Verteidigungsbündnis, das sie während des Kalten Krieges war, wurde ein aktives Militärbündnis, das Werte wie Menschenrechte, Demokratie, Frieden und Freiheit weit über die Grenzen seiner Mitgliedsstaaten hinaus verbreiten und verteidigen will. Die 78-tägige Bombardierung Rest-Jugoslawiens durch die NATO, angeblich um Kriegsverbrechen serbischer Kräfte im Kosovo zu stoppen, sollte die deutschen Grünen für immer verändern.Ein Brief an Petra Kelly in der tazAuf jenem berühmten, chaotischen Parteitag im Mai 1999 in Bielefeld stritten Realos und Fundis erbittert über das Bombardement. Außenminister Joschka Fischer, der prominenteste Realo, unterstützte den Krieg der NATO; dafür wurde er von Teilnehmern mit roter Farbe attackiert. Der Vorschlag der Fundis forderte eine bedingungslose Einstellung der Bombardierung, was auch den Zusammenbruch der rot-grünen Regierungskoalition bedeutet hätte. Der Friedensvorschlag scheiterte und brachte die Antikriegsfraktion der Partei in Bedrängnis – in Scharen kehrte sie daraufhin der Partei den Rücken. Stattdessen triumphierte die gemäßigte Resolution der Realos, mit komfortablem Vorsprung. Nach einer kurzen Unterbrechung wurde die Bombardierung Jugoslawiens fortgesetzt. Mit der maßgeblichen Unterstützung der Grünen flog die Luftwaffe Einsätze über Belgrad, 58 Jahre nach dem letzten Bombardement der serbischen Hauptstadt aus der Luft. Es war die erste deutsche Militäroperation in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.Nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine hat die deutsche Außenministerin der Grünen, Annalena Baerbock, die Tradition Fischers fortgesetzt, indem sie Länder, die in der Tradition militärischer Neutralität stehen, beschimpfte und sie aufforderte, der NATO beizutreten. Sie berief sich dabei auf Desmond Tutus Satz: „Wer sich in Situationen der Ungerechtigkeit neutral verhält, hat sich auf die Seite des Unterdrückers gestellt.“ Die Grünen haben sich sogar ihre eigenen verstorbenen Mitglieder zu Bauchrednerpuppen gemacht, darunter Petra Kelly, die Antikriegsikone und langjährige Verfechterin der Blockfreiheit, 1992 verstorben. Vergangenes Jahr schrieb eine Mitbegründerin der Grünen, Eva Quistorp, in der taz einen imaginären Brief an Petra Kelly anlässlich von deren 75. Geburtstag. Der Brief entlehnt Kellys moralische Positionen und kehrt sie um, um die Kriegsbefürwortung der Grünen zu rechtfertigen. Quistorp möchte uns glauben machen, dass Kelly, wenn sie heute noch am Leben wäre, eine NATO-Befürworterin gewesen wäre. An die Adresse der längst Verstorbenen gerichtet, behauptet Quistorp, sie wette, „du würdest es herausschreien, dass radikaler Pazifismus erpressbar macht“.Frauen, Frieden, NATOAnfang dieses Jahres hat auch das Auswärtige Amt als jüngstes von mehreren europäischen Außenministerien eine neue „Feministische Außenpolitik“ vorgestellt. Diese neue Ausrichtung, die auch Frankreich, die Niederlande, Luxemburg und Spanien übernommen haben, verleiht dem kosmopolitischen Militarismus einen gekünstelt radikalen feministischen Anstrich und öffnet den Bereich Krieg und Sicherheit für Frauenrechtsaktivisten. Nüchterne feministische Führerinnen werden als ideales Gegenstück zu autoritären „starken Männern“ dargestellt.Schweden war das erste Land, das sich 2014 eine solche Politik vornahm, die es ihm ermöglichte, seinen langjährigen Staatsfeminismus ins Ausland zu projizieren und auf der internationalen Bühne eine neue moralische Haltung einzunehmen. Im Inland gab es positive transatlantische Geschichten in Frauenzeitschriften. In der Rubrik „Mama“ der schwedischen Zeitung Expressen, die sich an weibliche Leser richtet, wurde in einem Interview mit Angelina Jolie betont, dass die NATO Frauen vor sexualisierter Gewalt im Krieg schützen kann. Jolie betonte auch, dass es kaum einen Unterschied zwischen humanitären Helfern und NATO-Soldaten gebe, da sie „dasselbe Ziel anstreben: Frieden“.Influencer im HauptquartierDie Wissenschaftlerin Merje Kuus schrieb, dass diese Art der NATO-Erweiterung eine „zweifache Legitimationsstrategie“ beinhalte. Erstens wird die NATO als gewöhnlich und unauffällig, als langweilig und alltäglich dargestellt. Zweitens wird sie als über jeden Zweifel erhaben, als lebenswichtig und als ein absolut moralisches Gut dargestellt. Dies führe dazu, dass die NATO gleichzeitig banalisiert und verherrlicht werde: Sie werde so bürokratisch, dass sie nicht zur Debatte stehe, und so „existentiell und wesentlich“, dass sie über der Debatte stehe. Diese Legitimationsstrategie hat sich in der begrenzten, streng kontrollierten Debatte über die euro-atlantische Integration in den skandinavischen Ländern gezeigt, von denen keines ein Referendum über die Mitgliedschaft abgehalten hat. Nach jahrzehntelangem Widerstand der Bevölkerung gegen das Bündnis scheint die NATO über der Demokratie zu stehen. Wie Kuss schreibt, bedeutet dies jedoch nicht, dass die NATO einer Gesellschaft aufgezwungen wird. Das Ziel ist vielmehr, „sie in die Unterhaltung, die Bildung und das staatsbürgerliche Leben im weiteren Sinne zu integrieren“.Die Beweise dafür sind allgegenwärtig. Im Februar veranstaltete die NATO ihr allererstes Gaming-Event. Ein junger Mitarbeiter des Bündnisses schloss sich mit dem beliebten Twitch-Streamer ZeRoyalViking zusammen, um Among Us zu spielen und zwanglos über die Gefahr von Desinformation für die Demokratie zu sprechen. Mit dabei war auch die Bergsteigerin, Influencerin und Umweltaktivistin Caroline Gleich. Während ihre Astronauten-Avatare durch ein Cartoon-Raumschiff navigierten, lobte sie die NATO in den höchsten Tönen. Am Ende der Veranstaltung verwandelte sich der Stream in eine Rekrutierungsaktion: Der junge Mitarbeiter der Allianz sprach über die Vorzüge seines Jobs und ermutigte die Zuschauer, auf der NATO-Website nach Stellenangeboten in Bereichen wie Grafikdesign und Videobearbeitung zu suchen.Tiktok, Youtube, InstagramDie Veranstaltung war Teil der NATO-Kampagne „Protect the Future“. In diesem Jahr wurde auch ein Wettbewerb für junge Künstler ausgeschrieben. Das Bündnis warb auch um Dutzende von Influencern mit einer großen Fangemeinde auf Tiktok, Youtube sowie Instagram und holte sie ins Hauptquartier nach Brüssel. Andere Influencer wurden zum NATO-Gipfel in Madrid vergangenes Jahr entsandt, wo sie gebeten wurden, entsprechenden Content für ihr Publikum zu erstellen.Diese Show hat viele europäische Linke vollkommen in den Bann gezogen. Nach dem Vorbild der deutschen Grünen haben die großen Linksparteien ihre Ablehnung von Kriegen und die militärische Neutralität aufgegeben, sie treten nun für die NATO ein. Das ist eine verblüffende Umkehrung. Während des Kalten Krieges organisierte die europäische Linke Massenproteste mit Millionen von Teilnehmern gegen den US-geführten Militarismus und die Stationierung von Pershing-II- und Marschflugkörpern durch die NATO in Europa. Heute ist kaum mehr als eine ausgehöhlte radikale Rhetorik übrig geblieben. Da es in Europa kaum noch Widerstand gegen die NATO gibt und sich das Bündnis schleichend über den euro-atlantischen Raum hinaus ausdehnt, ist seine Hegemonie inzwischen fast absolut.