Personalmangel in Kitas: Weil mich Kinder wütend gemacht haben
Psychologie Trödeln beim Essen, Quatschen beim Mittagsschlaf: Da kann man als Erzieherin schon mal aus der Haut fahren. Doch oft werden dabei Erfahrungen aus der eigenen Kindheit getriggert – keine Kita sollte auf psychologische Beratung verzichten
Eigentlich ist jetzt Mittagsschlaf-Zeit, aber das Kind treibt Schabernack – Erwachsene zählen bitte innerlich bis drei und atmen tief durch
Foto: Frank Muckenheim/Plainpicture
Vor ein paar Wochen brachte ich meinen Sohn in die Kita und stellte fest, dass an diesem Tag nur eine/r seiner drei Erzieher*innen für die gesamte Gruppe verantwortlich war. Die anderen beiden waren krank. Unsere Kita ist kein Einzelfall, das Personal fehlt überall. Im vergangenen Jahr konnte die Sicherheit der Kinder in etwa 10.000 Einrichtungen an nur jedem zweiten Tag gewährleistet werden. Das ergab eine Umfrage des Verbands Bildung und Erziehung. Darunter leiden nicht nur Kinder, sondern auch Erzieher*innen – und die sind am Limit.
Sich als Erzieher*in ständig überfordert fühlen
Ich ließ meinen Sohn an besagtem Morgen trotz schlechtem Gewissen in der Kita und fuhr zur Arbeit. Auf dem Weg dorthin fragte ich mich, warum es so wenige Erzieher*innen g
ge Erzieher*innen gibt, aber auch, warum so viele ausgebildete Erzieher*innen nicht in ihrem Beruf arbeiten. So wie ich. Ich habe vor 20 Jahren meine Ausbildung zur staatlich anerkannten Erzieherin erfolgreich beendet, um dann direkt in die Medienbranche zu wechseln. Oft heißt es, Erzieher*innen erhalten zu wenig Geld und Wertschätzung. Das stimmt. Das sind zwei Aspekte, an denen die Politik etwas verändern muss.Doch auch als freischaffende Journalistin geht es mir da nicht anders. Es gab einen anderen Grund. Und zwar dachte ich am Ende meiner Ausbildung, ich sei keine gute Erzieherin, da ich mich ständig überfordert fühlte: Trödelten Kinder beim Essen, wurde ich ungeduldig. Quatschten Kinder während der Mittagsruhe oder spielten im Waschraum unerlaubt mit Wasser, machte mich das wütend.Kurz gesagt: Wann immer Kinder nicht „funktionierten“, war ich gestresst. Und das, obwohl ich Kinder liebte und aus genau diesem Grund die Ausbildung begonnen hatte. Ich kam zu dem Entschluss, dass mir wohl doch die nötige Hingabe fehlte und es besser sei, zu gehen.Wut und ÄrgerMittlerweile habe ich einen dreijährigen Sohn und eine einjährige Tochter – und ich werde immer noch wütend. Doch dank zahlreicher Elternratgeber weiß ich jetzt, dass das normal ist. Kinder erinnern uns an verdrängte oder vergessene Erfahrungen aus der eigenen Kindheit, und das kann starke Emotionen wie Wut, Ärger oder Traurigkeit auslösen. Das betrifft nicht nur die Eltern-Kind-Beziehung, auch Erzieher*innen sind vor solchen Mechanismen nicht gefeit. Immerhin stehen sie fast täglich bis zu acht Stunden in enger Beziehung zu den Kleinen. Ich habe von all dem nichts gewusst, so wie viele andere Erzieher*innen auch.Daniela Wagner* arbeitet seit 31 Jahren als Erzieherin. Lange Zeit litt sie – ohne zu wissen, warum – unter dem Helfersyndrom. Sobald ein Kind zwar klug und fleißig, aber auch schüchtern war, hatte Wagner das Bedürfnis, dieses Kind dabei zu unterstützen, sich zu öffnen. „Ich wusste aber nicht, wie. Ich war dann in meiner ganzen Arbeit gehemmt“, sagt die 48-Jährige. Das habe sie irgendwann so sehr unter Druck gesetzt, dass sie sich Hilfe holte. Gemeinsam mit einem Coach arbeitete sie ihre Kindheit auf und erinnerte sich, dass sie selbst ein kluges, fleißiges, scheues Kind war. Auch ihre Eltern wollten, dass sie „mutiger“ wird. Gaben ihr kleine Aufgaben, zum Beispiel allein zum Bäcker zu gehen, was bei ihr jedoch eher Ängste auslöste. Die Arbeit mit dem Coach habe ihr dabei geholfen, die eigenen verletzten Anteile von früher aufzuarbeiten. „Heute kann ich diese Verhalten bei Kindern mit einem gesunden Abstand sehen, und das entlastet mich sehr“, sagt Wagner.Ihre Mutter verließ die FamilieDie 43-jährige Erzieherin Katrin Schneider* kennt diese Art von Stress. „Mich hat es immer unheimlich traurig gemacht, wenn Kinder ständig meine körperliche Nähe suchten“, erzählt sie. Es habe ein Gefühl von Hilflosigkeit in ihr verursacht, das sie als sehr belastend empfand. Dass das etwas mit ihrer eigenen Kindheit zu tun haben könnte, sei ihr zunächst nicht bewusst gewesen. „In meiner Ausbildung vor 20 Jahren habe ich nicht gelernt, dass Kinder uns triggern.“ Vor drei Jahren erleidet sie einen Burn-out, kommt in die Reha, startet danach eine Therapie und beginnt, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. In den Fokus rückt die Zeit als Kleinkind. Sie ist drei Jahre alt, als die Mutter den Vater und die drei gemeinsamen Kinder verlässt. „Ich habe sehr darunter gelitten, dass meine Hauptbezugsperson plötzlich weg war.“ Liebe und Umarmungen habe es zwar vom Vater gegeben, „aber wir mussten auch sehr um Aufmerksamkeit buhlen“.Placeholder infobox-1Als Erzieherin spiegelten ihr Kinder, die immer wieder auf ihrem Schoß sitzen oder sich in ihre Arme kuscheln wollten, den schmerzhaften Verlust der eigenen Mutter. Erst durch eine Therapie und zwei Fortbildungen habe sie dieses Muster erkannt und mehr Professionalität in ihre Rolle einbringen können. „Heute schaue ich, warum ein Kind meine Nähe möchte. Gestresst fühle ich mich dabei nicht mehr.“Diverse Studien zeigen, dass Erzieher*innen immer häufiger aufgrund von psychischen Erkrankungen ausfallen und das Burn-out-Risiko im Vergleich zu anderen Berufsgruppen sehr hoch ist. Die Gründe dafür liegen nicht nur in der eigenen Biografie. Die Anforderungen sind stark gestiegen: Neben alltäglichen Aufgaben sollen sie zusätzlich Inklusionsarbeit leisten, Sprache fördern – und zeitgleich auf immer mehr Kinder aufpassen. Da ist Stress vorprogrammiert. „Das Problem ist“, erklärt Psychotherapeutin Christina Kühnen, „dass wir gerade in stressigen Situationen in alte Verhaltensmuster aus der Kindheit verfallen“.Sehr hohes Burn-out-RisikoMuss sich eine Erzieher*in um mehrere Dinge gleichzeitig kümmern – und dann bekommt ein Kind noch einen Wutanfall, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass starke Emotionen in ihr aufkommen und sie vielleicht selbst wütend wird – was sie dann noch mehr stresst. Das passiert, wenn sie als Kind selbst nicht wütend sein durfte und also nie lernen konnte, ihre Wut zu regulieren. „In diesem Moment“, so Kühnen, „werden die eigenen unerfüllten Bedürfnisse und Verhaltensdefizite gespiegelt und es wird ihr kaum möglich sein, aus diesem Verhaltensmuster auszubrechen.“Um festgefahrene Verhaltensmuster zu durchbrechen, müssen sich Erzieher*innen zunächst über ihre vorhandenen Strukturen bewusst werden und dann neue Verhaltensweisen einüben. Da kommt Anja Cantzler ins Spiel. Sie ist Autorin, Supervisorin und Weiterbildnerin und unterstützt Erzieher*innen seit nun zehn Jahren dabei, sich mit ihrer eigenen Biografie auseinanderzusetzen. Dafür sucht sie mit ihnen nach Beispielen aus dem Kita-Alltag, in denen die Erzieher*innen in starke Emotionen gekommen sind, um dann zu schauen, was dahintersteckt. Dann werden gemeinsam Regulationsstrategien entwickelt, um künftig besser aus automatisierten Mechanismen herauszukommen. „Fällt einer Erzieherin auf, dass sie sich überfordert fühlt, könnte sie beispielsweise innerlich bis drei zählen und tief durchatmen oder eine Kollegin bitten, zu übernehmen“, sagt Cantzler.Zeit für SupervisionenUm Erzieher*innen von Anfang an auf die Anforderungen dieses Berufs vorzubereiten, ist es laut Cantzler wichtig, dass Selbstreflexion schon in der Ausbildung eine bedeutende Rolle spielt. Laut den Lehrplänen macht sie das seit etwa 15 Jahren auch. „In der Praxis ist das aber nicht immer der Fall“, sagt Cantzler, die regelmäßig Praxisanleiter*innen der Fachschulen berät. So gebe es Lehrkräfte, die selbst nicht wüssten, wie sie mit dem Thema im Unterricht umgehen sollen. Andere wiederum hielten es nicht für relevant oder andere Themen für wichtiger. „Doch die eigene Kindheit zu verdrängen, ist extrem anstrengend und führt zu Stress und kann damit im schlimmsten Fall zu übergriffigem, gewaltvollem Handeln Kindern gegenüber führen.“Wie häufig Erzieher*innen Supervision oder Fortbildungen in Anspruch nehmen können, ist davon abhängig, wie viel Zeit und Geld der Träger zur Verfügung stellt. Manchmal scheitert es auch am fehlenden Personal. Manche Teams haben gar kein Interesse daran. So berichten einige Erzieher*innen, im vergangenen Jahr aus unterschiedlichen Gründen nicht eine Fortbildung besucht zu haben, beziehungsweise dass Fortbildungstage für den Kita-Putz genutzt wurden.Vorrang bei der Vergabe von Therapieplätzen?Ähnlich verhält es sich mit Supervision. Bei Fröbel beispielsweise, Deutschlands größtem überregionalen freien Träger von Kinderkrippen und Kindergärten, habe es laut eigenen Angaben im Jahr 2022 Kitas gegeben, die das Angebot gar nicht genutzt haben, in anderen Einrichtungen habe es bis zu acht Supervisionen gegeben.Ich mache seit drei Jahren eine Verhaltenstherapie. Trotzdem fühle ich mich mindestens einmal im Monat überfordert. Einmalige Supervisionen oder Fortbildungen sind ein Anfang. Doch wenn anerkannt würde, wie belastend die tägliche Konfrontation mit der eigenen, oft schmerzhaften Kindheit ist, müsste Erzieher*innen regelmäßige Unterstützung angeboten werden. Neben Fortbildungen und Supervision wäre es auch möglich, ihnen Vorrang bei der Vergabe von Therapieplätzen zu geben. Hauptsache, so Psychotherapeutin Christina Kühnen, Biografiearbeit findet statt: „Wer sich nicht mit der eigenen Biografie auseinandersetzt, läuft Gefahr, Burn-out oder Depressionen zu bekommen.“ Und das wiederum führt zu weiterem Personalmangel.* Name geändertPlaceholder authorbio-1